Wulf Kirsten: Zu Ingeborg Steins Gedicht „Orges welttheater“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ingeborg Steins Gedicht „Orges welttheater“, Erstdruck: Thüringer Allgemeine, 8.11.2014. 

 

 

 

 

INGEBORG STEIN

Orges welttheater

nichts was geradlinig wäre im hinauf
und hinunter der von gesträuch und gestein
überbordeten wege. krumm gebuckeltes land lacht
sich eins abseits vom mainstream der geschäftigen welt.
in seinen grübchen nistet der Flecken Beulbar
weiß nichts vom woher und wohin, freut sich des tags
unendlicher tage zuvor. sammelt liegen gebliebene
geschichten des lebens, Napoleon war hier wie viele schon
vor ihm und nach ihm, saßen am steinernen tisch, tranken
den hiesigen wein, aßen ihr brot wie auch wir heute,
krümel fallen herunter nächtens vom himmel,
vielleicht waren es sterne, alles hat seinen sinn
hier zusammen gewürfelt aus unzähligen für sich
allein sinnlosen teilen des Seins. Orge, der Zauberer,
ordnet die weit nach eignem ermessen, in seinem
AmViehTheater zwischen Waldeck und Bürgel
könnt ihr selbst es besehn – nichts was geradlinig wäre
auf diesem verborgenen krumpligen stück erde.

 

Ein in Kultur umgewidmeter Wiesenhang

Das Gedicht hebt einen Erdfleck in Sprache. Irgendwo, verborgen am Rande des ostthüringischen Holzlandes, wo der Massentourismus noch nicht Fuß gefaßt hat. Aus dem buckligen Wiesenhang am Dorfrand hat einer, den der Krieg in diese Entlegenheit verschlug, ein Theater Plein-air entdeckt und gestaltet. Umgeben von Weideflächen, zuweilen bestückt mit Kühen und Schafen. Inzwischen hat der Theaterpionier Georg (Orge) Zurawski den Halbkreis terrassiert, mit Sitzgelegenheiten ausstaffiert und nach und nach einen Kranz von vereinigten Hüttenwerken gezaubert aus Abbruchmaterialien, für die Orge einen phänomenalen Blick hat.
Baustoffe, die sein work-in-progress zu bereichern vermögen. Als ich mich, von Inge Steins Gedicht in Neugier versetzt, umsah und nun weiß, wie Orges Welttheater im unscheinbaren Hinterland unter Freiland-Kultur gesetzt, so recht eigentlich beschaffen ist, sah ich ein neuerliches Glanzstück eben in Hanglage eingefahren, perfekt eingeschwenkt, wenn nicht gar eingeflogen – einen kompletten, gut erhaltenen Backofen. Bereit, seine Gäste, die von nah und fern zu den Veranstaltungen gewallfahrtet kommen, zu verköstigen mit Hilfe von des Bäckerei-Handwerks kundigen Helfern. Inge Steins in Poesie gesetzte Textierung steht komprimiert, gefiltert für eine ungewöhnliche Lebensleistung von einem, der kein Aufhebens von sich macht. Die Beulbar-Besucher könnten es bestätigen.

Wulf Kirstenaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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