Yevgeniy Breyger: Gestohlene Luft

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Yevgeniy Breyger: Gestohlene Luft

Breyger-Gestohlene Luft

KÖNIGREICH DER VERWAISTEN BIENENSTÖCKE 

Blau ist die Farbe der Hoffnung. Grün, die Empörung.
Eitelkeit – gelb, wie ein Morgen über den Bergen.
Wolken, verkleidet in Außenhaut Licht. Wind wird erzeugt
durch die Drehung des Erdballs und kreist um Paläste.

Gebet an die Furcht. Gebet an das Holz in den Möbeln,
die Spannung des Körpers bei einer reifen Bewegung,
die launische Gunst von Insekten – Sie beten im Winter.
Mit der Pünktlichkeit einer Krankheit kommt Frühling.

Honig quillt golden aus Waben, benetzt das Haar eines
Mädchens. Noch nie wurde etwas gepflanzt, das selbst
sein Wachstum bestimmte. Noch nie war die Erde so trocken,
das Glitzern von Honig so schön. Gebet an das Warten.

Sie blickt in die Ferne, tut nichts. Sobald sich die Erde
verschließt, wird sie handeln. Gebet an das Speichern
von Daten in Zellen, ihr Wachstum nach innen. Licht
überträgt Wärme. Wärme überträgt Enge. Paläste zerbröseln

wie Kreide. Sie kostet den Honig. Spannt ihre Zunge an,
schluckt ihn hinunter. Die Ferne verschwimmt mit dem
Himmel. Insekten rufen mit Stimme der Mutter. Noch nie
hat der Honig so deutlich nach Abschied geschmeckt.

 

 

Yevgeniy Breyger liest „Königreich der verwaisten Bienenstöcke“

 

Yevgeniy Breyger & Elena Trochin Gestohlene Luft & Klavier | Lesung in der Frankfurter Romanfabrik am 9.3.2021

 

Loops approximierender Luft. Yevgeniy Breyger, Carla Cerda und Saskia Warzecha in Lesung und Gespräch. Moderation: Tobias Lehmkuhl im Literarischen Colloquium Berlin

 

Yevgeniy Breyger und Michael Lentz – Das Gedicht in seinem Jahrzehnt – am 27.5.2022 im Haus für Poesie

 

Yevgeniy Breyger liest aus seinem Band Gestohlene Luft und sprich mit Guido Graf

 

 

Aufklärung und Mystik und Korrespondenzen

Wer war das noch gleich? Das Klopfen der winzigen Hand?
Nein. Wer war’s? Ich will es nicht wissen.
Also hast du’s gewusst. Befrage die Berge, sie werden’s
dir nachsehn. Verzeih. Die Wirkung des Wassers setzt ein.

Man kann die Gedichte Yevgenij Breygers in Sätze zerlegen, ihre Versstruktur aufkündigen, gegen sie vorgehen wie der Aufklärer gegen den Mythos. Dann hat man ein Set regulärer Sätze, in sich grammatikalisch korrekt. Ihren Sinn aber gewinnen sie nur, wenn sie sich gegeneinander verlieren.

Die Berge werden’s dir nachsehn.

Aufklärung aber verliert sich am Mythos. Sie hat ihre Grenze so an sich selbst. Ein Wissensgenerator, sie schafft zutage; was sie ist, ist das proletarische und das militärische Element.
Wo sie gelingt aber, entwaffnet sie sich. Sie bleibt dann im Satz, aber der Satz beginnt zu schweben. Der Satz beginnt zu leuchten. Seine Logik ist Licht. Dem schaut das aufklärende Subjekt hinterher. Das Aufgeklärte aber entfliegt.

Der Wind pfiff ein Lied über das Verstummen.
„Greif zu, lieber Wanderer, greif zu…“
Zwölf Esel trabten durch meine Gedanken, mein Habitat.
Zwölf Paar Ohren, zu freundlich, ihnen wütend zu sein.

Mystik steuert der Welt ein Wissen bei, das am Wissbaren nicht halt macht, ihr Erlebnis geht über das Erlebbare hinaus. Sie überwindet die wittgenstein’sche Sprachgrenze und verletzt das Gebot, dass man darüber schweigen soll, worüber man nicht reden könne, vor dem man steht, weil es da sein könnte, staunend, verwirrt, zuweilen entmutigt.

Schmiege dich an Flüsse an,
reibe bis du Flecken siehst
weiter süßer Morgenmensch,
finde mich im Datenmüll
zwischen Wut und Spiegelschrift.

Breygers Gedicht also spricht. Aber es spricht nicht verworren, verwirrend. Es nimmt den Faden auf in mitten der Knoten, dass das Knäuel das behält, was ihm die Fähigkeit zu rollen einträgt. Was ein Unterschied ist. Mit festen Händen wird dem Leser der feste Grund auf festliche Weise entzogen. Denn die Texte, sie klingen. Und in ihnen klingt etwas an. Stefan Hölscher nähert sich ihm in einer ausführlichen Besprechung.

Jan Kuhlbrodt, piqd.de, 15.10.2020

Das längste jahr meines lebens

Gestohlene Luft – ein titel, der einschlägt. Das farben- und formschöne buch ist mir direkt bei meinem wöchentlichen besuch bei der buchhändlerIN meines vertrauens ins auge gefallen: den kräftig fliederfarbenen umschlag ziert die schwarze silhouette eines prall gefüllten luftballon – dieser ist jedoch durch den titel in zwei getrennt und lässt ahnen: mit leichtigkeit hat dieser band wenig zu tun.
Die Zyklen eint eine fast schon delikate sprache, deren bilder uns als lesende bereits vor ihrem verständnis zugänglich sind. Die Zeit begleitet uns durch die z.T. doch sehr unterschiedlichen zyklen, die den inhalt formieren. Die zeit ist in breygers werk jedoch keine lineare struktur, an der wir uns langhangeln, sondern verdichtung, fast schon überlappung. So wundert es auch nicht, dass das Ich noch nicht geboren und bereits alt ist. Fast aus einer gottgleichen perspektive jagt das Ich durch die Königreiche und man ist mehr als froh teil dieser reise zu sein.
Ich kann dieses zweitwerk des autors nur wärmstens empfehlen, es war ein silberschweif im längsten jahr 2020.

Henry M., amazon.de, 7.3.2021

„Sie war still, hat Gebirge verschluckt“

– Hier herrscht eine Sprache, in der die Lebenden und die Toten voneinander wissen: Yevgeniy Breygers herausragender Gedichtband Gestohlene Luft. –

Alle zwei Jahre findet in Darmstadt ein wichtiger Lyrik-Wettbewerb statt: der Literarische März, in dessen Rahmen der Leonce-und-Lena-Preis und die Wolfgang-Weyrauch-Förderpreise verliehen werden. Es läuft ähnlich ab wie beim Bachmann-Preis in Klagenfurt: Auf die Lesungen folgt eine öffentliche Jury-Diskussion, am Ende fühlen sich die einen verstanden, die anderen vernichtet und die Dritten, die Jury-Mitglieder, werden von der Community kritisiert, kommentiert, in gewisser Weise und, wenn’s gut läuft, kontrolliert.
Es hat manchmal etwas von „Wrestling“, so Clemens Setz in seiner Klagenfurter Rede, aber immer wieder gibt es auch diese Momente, die Rilke in seinem Gedicht „Todeserfahrung“ das „Grün wirklicher Grüne“ genannt hat. Als der 1989 in der Ukraine geborene Yevgeniy Breyger 2019 aus seinem Zyklus „Königreiche“ las, gab es einen solchen Moment. Was den Raum damals in Darmstadt plötzlich beherrschte, hat die Geigerin Isabelle Faust einmal so beschrieben:

Wenn ich die Bachschen Solo-Werke spiele, dann muss ich mich ganz auf mein Inneres konzentrieren, ich suche meinen ganz privaten Dialog mit Bach, indem ich seine Musik so tief wie möglich zu ergründen suche. Ich bitte dann eigentlich das Publikum, sich mir auf der Bühne zu nähern, meine Reise zu der seinigen zu machen, ich kann ihm nicht wirklich entgegenkommen, nicht die Hand reichen.

Als Yevgeniy Breyger in Darmstadt las, war es eine solche Reise, auf die sich die meisten Anwesenden einließen und die in einen höchst persönlichen und zugleich zeitlos klingenden Raum des schmerzlichen Fragens führte. Wie die Architektur dieses Raumes beschaffen ist und warum es möglich war, zumindest auf seiner Schwelle zu stehen, kann man jetzt ergründen. „Königreiche“ ist einer von sechs und einer der zentralen Zyklen, die in Yevgeniy Breygers zweitem Gedichtband Gestohlene Luft versammelt sind.
Es ist ein ungewöhnliches Buch, rätselhaft und doch voll Bilder, zu denen man intuitiv und unmittelbar eine Beziehung hat, ohne sie gleich erklären zu können. Bilder wie das Ich als „ein zu spät begriffener Abschied“ oder das eines Vogelschwarms, der wie ein Geschoss in einer Brust verschwindet und an René Chars Turmsegler denken lässt:

Il crie, c’est toute sa présence. Un mince fusil va l’abattre. Tel est le coeur.

Mit René Char ist man auch bei jenen Dichtern, auf die Breyger mit seinem Buchtitel anspielt. „Gestohlene Luft“ nennt Ossip Mandelstam in der Frühzeit des stalinistischen Terrors jene Werke der Weltliteratur, „die ohne Genehmigung geschrieben wurden“ und sich dem Angstregime widersetzten. Mandelstam schreibt darüber 1929/30 im fünften Abschnitt seiner Fragmente „Vierte Prosa“.
Nun lebt und schreibt Yevgeniy Breyger nicht in der Résistance, noch unter Stalin, und er wirkt wie jemand, der um diesen Unterschied genau weiß. In Bezug auf seine Gedichte sind deswegen vielleicht die Sätze, die vor Mandelstams Einteilung der Weltliteratur in „gestohlene Luft“ und „schmutziges Zeug“ stehen, ebenso wichtig und verweisen auch auf die Doppelbödigkeit seines Buches:

Es ist soweit gekommen, daß ich im literarischen Handwerk nur noch das wilde Fleisch schätze, nur den wahnsinnigen Auswuchs: Und verwundet bis hinein ins Mark
War die Schlucht vom Schrei des Falken – das ist es, was ich brauche.

Blättert man durch Breygers Gestohlene Luft, fällt unmittelbar ins Auge, wie stark sich die Zyklen formal voneinander unterscheiden und wie sie sich durch Motive und die graphische Gestaltung doch miteinander verbinden. Eröffnet wird der Band mit einer Frist oder einem Countdown, der auf die Schöpfungsgeschichte verweist: „Noch fünf Tage“ – am sechsten Tag erschuf Gott den Menschen.
Dieser erste Zyklus umfasst vier dreistrophige, zentriert gesetzte Gedichte mit weitgehend regelmäßiger jambischer Metrik. Diese sehr eingängige, lesernah wirkende Form hat einen interessanten Effekt: Man merkt gar nicht, dass die Sinnebene – das „wilde Fleisch“ – sich erst mal nicht so leicht erschließt. Das heißt: Man lässt sich ein, bevor der Verstand dazwischengehen kann. Breyger führt hier ein Leitmotiv ein: das der Zeit. „schon damals immer noch ein kind war ich / und wusch aus bosheit bloß die andern“, heißt es am Ende des ersten Gedichts, das den Blankvers von Schlegels Romeo und Julia-Übersetzung zu Beginn anklingen lässt, ihn aber um zwei Takte und Hebungen verlängert:

es war der mai, an dem das innere nach außen drängte.

Frühlings Erwachen also?
Es seien eigentlich Liebesgedichte, die er geschrieben habe, sagte Yevgeniy Breyger im Herbst in Frankfurt bei Literatur im Römer. Das aber in einem sehr weitreichenden Sinne. Verbunden wird die Sehnsucht nach einem Du nämlich mit dieser merkwürdigen Überlappung von Zeit-Partikeln:

schon damals immer noch.

Das Ich, das hier spricht, ist „noch“ ungeboren, aber „schon“ alt. Warum? Die „Königreiche“ deuten es an und legen eine Spur, die doch ins 20. Jahrhundert führt.

Du hast sie gekannt. Sie war still, hat Gebirge verschluckt
mit dem Blick.

Dem Ich, das in „Noch fünf Tage“ werden will und schon gewesen ist, also alles noch vor sich hat und doch weiß, dass das Spiel schon gelaufen ist, stellt Breyger in „Königreiche“ eine Mutter als junge Frau gegenüber, die wie durch ein umgedrehtes Fernglas auf die Distanz der Legende gebracht wird. Denn „Königreiche“, das sind Bezirke, in denen alles nach eigenen Gesetzen tickt. Das sind Gedichte, das sind Liebesgedichte, in denen ein Ich sich einen Raum formuliert, in dem es sein darf, in der Sprache des Traums, in der Sprache des Traumas:

noch nie wurde etwas gepflanzt, das selbst
sein Wachstum bestimmte

Im Gespräch erzählt Yevgeniy Breyger, seine Großtante sei aus einem KZ geflohen. Auch ohne zu wissen, dass im Hintergrund dieser Gedichte – verstellt und verschoben – die Geschichte seiner Familie steht, weiß man, was es bedeutet, wenn ein europäischer Dichter nach dem 20. Jahrhundert einen Zyklus mit der Zeile „In der Nacht als das Dorf sich bewaffnet“ beginnt. „Erinnerung strömt durch Gelenke, sammelt sich in Faszien, wird Information, Narrativ, Krankheit – wird übertragen“, schreibt Breyger über seine Poetik.
Sicher könnte man sagen, in Gestohlene Luft wird das Thema historisch bedingter Traumata verhandelt. Fragen, wie „Was wird das für ein Leben“ und „Wo warst du bei deiner Geburt?“, die jeweils die ersten beiden Zyklen abschließen, deuten darauf hin. Aber die Kunst dieser Gedichte ist nicht, dass sie die Wirkung einer Gewaltgeschichte zur Sprache bringen, als würde hier einer von transgenerationellen Traumata berichten, nur eben in freien Rhythmen. Die Kunst von Yevgeniy Breyger liegt in der Körperlichkeit seiner Gedichte und wie sie sich durch die Sprachregister, die er zieht, vermittelt.
Zu dieser Körperlichkeit gehört nicht nur die rhythmische Triebkraft, die einen von den ersten beiden Zyklen zu „Muttergeist beim Abendmahl“ springen lässt, dem letzten Zyklus, der vierhebig ins Klappern kommen könnte, wenn nicht die fehlende letzte Senkung jede Naivität und jeden Humorismus mit sich genommen hätte:

Offen spricht dein Seelentier,
menschlich seine Augenzahl.
Mitten durch die Zellmembran
küsst sich ein geheimer Wind,

trittst du in mein Leben ein.

Zur Körperlichkeit gehören vor allem die krassen tonalen Brüche, die einen rausreißen, wenn man es sich gerade im empathischen Lese-Ritual bequem machen wollte. Brüche, etwa in Form absurder Komik:

du wurst
im glas
(…)
wie überzärtlich schwitzen deine hände als heimliches
exil deiner fiesesten wünsche?

Oder selbstironisch: „an euch vorbei schwamm ich durch spätromantische / gedichte“, ein „polnischer wurm im preußischen fisch“, der mit dem falschen Kanon unter dem Arm bekannte, „vor fünfzehn jahren, im spiegel, sah ich / die kommenden verrisse“. Eine Ich-Werdung eben auch als Autor-Werdung. Und als mephistophelisches Ich, das zwar ungeboren und unschuldig im Schlauchboot durchs Fruchtwasser seiner „lieben Mutter“ treibt, aber die eigenen spitzen Steine lieber doch anderen ins Bett legt.
Völlig aus dem Tritt bringen einen die beiden Zyklen „Nachsicht, Ente!“ Und „Zwölf Esel und die Zinsbibel“, die plötzlich ins Fach des engagierten Gedichts wechseln, allerdings mit einem zwischen Ulf Stolterfoht und Charlie Chaplin schillernden Twist, der im Schlussstück in den Appell mündet:

finde mich im Datenmüll

zwischen Wut und Spiegelschrift.

Man kann diese Wechsel mit der faszialen Dynamik deuten, wie Breyger es getan hat. Einer ersten Sprachschicht, die Material der Alltagssprache ansammelt, einer zweiten, durch die das Ich sich in seine und eine allgemeine Traumwelt einlässt, und einer dritten, durch die es schmerzempfindlich wird und sich dem Trauma aussetzt. Man kann auch sagen, dass eine mythische, zyklische, ewige Zeit durch das Moment des Plötzlichen, das die Registerwechsel darstellen, rangezoomt wird, als Akt der Befreiung aus einem festgelegten Gedächtnisritual, als Aktualisierung. Was am Ende aber hängen bleibt, ist nicht die Wut, ist nicht der beißende Spott und die Bosheit. Was in der gestohlenen Luft wie eine Atemwolke noch für einen Moment über die Zeit der Lektüre hinaus stehen bleibt, ist ein Wunsch: „Tritt über zu den Menschen“, und damit auch in eine menschliche Sprache, die dort gesprochen wird, wo Lebende und Tote voneinander wissen.

Insa Wilke, Die Zeit, 17.2.2021

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Stefan Schmitzer: „mein kopf folgt seltsamen gesetzen“
fixpoetry.com, 29.10.2020

Stefan Hölscher: Warum wir Lyrik lesen
signaturen-magazin.de

Martin Peichl: Vom Verschwinden der Vögel oder: Was wird das für ein Leben?
morehotlist.com, 26.1.2021

 

 

 

Literarische Selbstgespräche … keine Fragen stellte Astrid Nischkauer – Von und mit Yevgeniy Breyger

Im Gespräch: Timo Brandt redet mit Yevgeniy Breyger

Eugen El: „Ich habe mich frei gefühlt“

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Klemens Renoldner: Christine Lavant Preis 2023 – Laudatio auf Yevgeniy Breyger

 

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Porträtgalerie: Dirk Skiba Autorenporträts
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Yevgeniy Breyger — Hundert Autoren präsentieren ihre Arbeit im Internet.

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