Heinz Ludwig Arnold: Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Hochseil“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Peter Rühmkorfs Gedicht „Hochseil“ aus Peter Rühmkorf: Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich. –

 

 

 

 

PETER RÜHMKORF

Hochseil

Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem Indivdiduum
aus nichts als Worten träumend.

Was uns bewegt – warum? Wozu? –
den Teppich zu verlassen?
Ein nie erforschtes Who-is-who
im Sturzflug zu erfassen.

Wer von so hoch zu Boden blickt,
der sieht nur Verarmtes / Verirrtes.
Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.

Ich spiel mit meinem Astralleib Klavier,
vierfüßig – vierzigzehig –
Ganz unten am Boden gelten wir
für nicht mehr ganz zurechnungsfähig.

Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine…
Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.

 

 

Zwischen der Loreley und dem verseuchten Rhein

In der Mitte seines Lebens hat Peter Rühmkorf sich dieses schöne Gedicht auf den Leib geschrieben, in dem er über die herausgehobene Existenz des Künstlers und insbesondere des Schriftstellers anschaulich nachdachte, der, wie ein Tänzer auf seinem Hochseil, auf die Welt „herab“ blickt und dabei ständig in Gefahr ist, auf sie hinabzustürzen.
Das ist ein eingängig tönender, leichtmündig singbarer Text. Doch er steckt voller Vertracktheiten und Spannungen: Ein ungebundenes lyrischen WIR träumt von einem Unteilbaren, einem (noch) unbekannten, unerforschten Individuum, das es mit Worten ergreifen, das es schaffen, ja das es werden möchte. Indem es dies mit handfesten poetischen Mitteln versucht und die Spannungen, von denen es spricht, auf dem Weg vom Vers zur Strophe mit farbigsten Klängen und Reimen ausbalanciert, verwandelt sich das lyrische WIR tatsächlich in das erträumte Individuum, das aus nichts als aus Wörtern besteht und das wir Gedicht nennen.
Rühmkorf hat es ein „Vorführgedicht“ genannt, ein „poetisches Exerzitium, das sein eigenes Programm vorzuturnen versucht“. Es artikuliert aber mehr als diese hochartifizielle Selbsterklärung. Seine Spannung gewinnt es aus Gegensätzen und Ambivalenzen. Da ist das Gegenüber von Autor – „wer Lyrik schreibt“ – und Leser: Der eine, der Autor, ist verrückt, der andere, der Leser, der sie wahr-, gar für wahr nimmt, wird verrückt.
Oder da ist der gegensätzliche Blick auf die Wirklichkeit: Aus allzu großer Entfernung betrachtet, erscheint sie armselig und irrgängig; andersherum halten jene, die da unten in dieser armseligen Wirklichkeit herumirren, von den Dichtern, die sie aus so großer Ferne ansehen und beschreiben, nichts, ja sie halten sie gar für unzurechnungsfähig. Da gibt es offenbar nichts mehr zu vermitteln zwischen Wirklichkeit und Kunst.
Der Dichter kann die Wirklichkeit nicht verändern. Aber er beharrt dennoch darauf, mit und in seiner Sprache das Abbild, die Metapher zu versuchen, die der Wirklichkeit, wenn schon nicht beikommen kann, so aber doch ihren Bewohnern zu einer aus der Norm gerückten Anschauung verhelfen möge. Dies ist das Metier, das der Künstler beherrscht: Das Ich spielt („Klavier“) auf seinem Seelenleib, produziert also Kunst: „vierfüßig – vierzigzehig“, schafft nur bildhafte Vorstellungen von der Wirklichkeit. Für was stehen die? Für kreatürliche Lust, wild Animalisches? Oder für eine krankhaft veränderte Welt?
Die Konfrontation von romantischer Anschauung und realistischer Einschätzung, also zwischen der lockenden Loreley oben und dem verseuchten Rhein unten signalisiert eine aus den Fugen geratene Welt, deren Abbild so eben mal noch im Gedicht, in Rhythmus und Reim, ordentlich verfugt wird. Zwar ist der Dichter bedroht, als Gattung und als Individuum, als Mensch und Künstler – doch dem Künstler erlaubt dieser Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Kunstcharakter, diese Leichtigkeit des gelungenen Gedichts, der Erdenschwere wenigstens für ein Weilchen zu entkommen. Es allein ist seine Legitimation: „aus einem Fast an Nichts nochmals was Schwebendes zu machen“, wie es in Rühmkorfs Gedicht „Nietzsche zur Lehre“ heißt; es ist seine Kunst – und sein Leben.
„Hochseil“ ist eben nicht nur ein poetologisches „Vorführgedicht“, sondern es artikuliert auch das literarische Glaubensbekenntnis Peter Rühmkorfs, und zwar, typisch für Rühmkorf, als griffige Formulierung und poetische Formel.

Heinz Ludwig Arnoldaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002

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