Alfred Kelletat: Zu Paul Celans Gedicht „Lila Luft“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „Lila Luft“ aus Paul Celan: Schneepart. –

 

 

 

 

LILA LUFT mit gelben Fensterflecken,

der Jakobsstab überm
Anhalter Trumm,

Kokelstunde, noch nichts
Interkurrierendes,

von der
Stehkneipe zur
Schneekneipe

 

Ein kleines Berolinense Paul Celans

Die wahre Bedeutung eines Wortes in unserer Muttersprache zu verstehen, bringen wir gewiß viele Jahre hin.
Lichtenberg

Im Dezember 1967 besuchte Celan Berlin. Es war sein einziger längerer Aufenthalt in der Stadt. Am 16. kam er von Frankfurt, am 29. flog er über Köln nach Paris zurück.1 Der unmittelbare Anlaß war die Einladung des Literarischen Colloquiums und der Akademie der Künste zu einer Lesung aus seinen Gedichten, die am 18. im Studio der Akademie stattfand. In dem Bericht für den Tagesspiegel hat Joachim Günther unter der Überschrift „Der lesende Celan. Begegnung mit dem König des Gedichts“ seinen Eindruck von dieser Lesung aufgezeichnet.2 Celan hat in diesen Tagen drei Gedichte geschrieben, die zuerst im „Hommage für Peter Huchel. Zum 3. April 1968“ (d.h. zu Huchels 65. Geburtstag) erschienen, für welchen Zweck sie wohl bei der Entstehung schon gedacht waren.3 In Celans Gedichtsammlungen eröffnen sie den 8. (bzw. 9.), posthum gedruckten Band Schneepart (1971, S. 7–9). Ursprünglich und noch im Erstdruck sind alle drei Gedichte mit Entstehungsort und -datum unterzeichnet: „Ungewaschen, unbemalt“ Frankfurt am Main/Berlin, 16.12.1967; „Du liegst im großen Gelausche“ Berlin, 22./23.12.1967; „Lila Luft mit gelben Fensterflecken“ Berlin, 23.12.1967. Diese Datierungen sind in der Buchausgabe getilgt. – Dem mittleren Gedicht, das zuerst „Wintergedicht“ heißen sollte, hat Peter Szondi unter dem Titel „Eden“ seine letzte, unvollendet gebliebene Studie gewidmet, in der er als Fundament seiner methodologischen Reflexionen zur Textur des Gedichts aus persönlicher Kenntnis zahlreiche Realien zu Celans Berliner Tagen mitgeteilt hat.4 Da kann die Erörterung des dritten Gedichts vom 23. Dezember unmittelbar anschließen.

LILA LUFT mit gelben Fensterflecken,

der Jakobsstab überm
Anhalter Trumm,

Kokelstunde, noch nichts
Interkurrierendes,

von der
Stehkneipe zur
Schneekneipe
5

Ein Gebilde aus 19 Wörtern, 41 Silben in acht Zeilen. Vergegenwärtigt man sich die Wörter, ihre syntaktische Gliederung und die semasiologische Außenhaut, so zeigt sich der starke Anteil der Nomina, über die Hälfte, dazu zwei Artikel, zwei kontrahierte (überm, zur) dazu, zwei Adjektive in v 1 und das von vornherein merkwürdige „noch nichts“ [dumnihil). Kein Verb – über das substantivierte Partizip wird zu sprechen sein. Die drei Haupt-Wörter Lila Luft, der Jakobsstab, Kokelstunde werden auf die einfachste Weise durch Konjunktionen erweitert, modal, lokal und temporal, d.h. die einfache Zeitbestimmung Kokelstunde (im Zentrum des Gedichts) wird ergänzt durch die syntaktisch unabhängige Hinzufügung „noch nichts / Interkurrierendes“, an welche sich wiederum eine Ortsbestimmung „von – zur“ als Coda anschließt. Eine lokalmodale Zustandsbeschreibung also mit einfachen klaren Verhältnissen, fest-stellend, in deren Mitte ein Augenblick angesiedelt ist, allerdings, wie spürbar, ein in sich differenter, transitorischer, keiner, zu dem man sagen könnte ,Verweile doch!‘.
Schon die oberste Bedeutungsschicht des Textes dürfte erklärungsbedürftig und ,ohne Dolmetsch‘ nicht blank zu verstehen sein, zumal wenn man die vollzogene Tilgung der ursprünglichen Orts- und Zeitangabe akzeptiert, welcher Tatsache der Benutzer des Bandes Schneepart etwa sich gegenüber findet. Diese Problematik hat Szondi in seiner Studie bereits behandelt; sie besteht nicht nur vor diesen Gedichten, sondern ist eine Kernfrage jedes Celan-Verständnisses – Spurentilgung und Enthebung des Textes in eine radikale Autonomie.

I. Lila Luft mit gelben Fensterflecken
Der erste farbige Vers beginnt, mit trochäischem Zugriff, in lautspielerischem Silbentanz bunt und fast fröhlich; das macht der Vokalwechsel der vorderen Vershälfte, der helle mit dunklen Lauten würfelt und sie mit dem Schmelz von Liquiden und Lindlauten umhüllt (fünfmal l und dreimal f). Aber er geht in die fast quälende Aufdringlichkeit des sechsmaligen e in drei Trochäen über, was hier zunächst nur registriert werden kann. Seine Farbigkeit, die Assoziationen bis hin zur ,Berliner Luft‘ gestatten mag, erinnert an Jugendstil in Lyrik und Malerei, auch der Expressionismus bevorzugte diese und verwandte Farbkombinationen.6 Überdies glaubt der Bewohner dieser Stadt in der Zeile die Wiedergabe einer unverwechselbaren atmosphärischen Situation zu erkennen: die Färbung der Luft an einem früh einfallenden Winterabend, wenn die untergehende oder eben untergegangene Sonne eine solche Tönung hinterläßt, in die zahllose widerscheinende oder von innen erleuchtete Fenster ihre Muster zeichnen – wobei nicht behauptet werden soll, daß nicht andre Großstädte ähnliche meteorologische Phänomene beobachten ließen – so ist es doch die heure bleue dieser Stadt.7

II. der Jakobsstab
heißen die drei Gürtelsterne des Orion oder auch dieser selbst.8 Dieses in unsern Breiten den Winterhimmel beherrschende Sternbild ist aufgezogen, bzw. der Dichter hat es, das seinem Gedicht altbekannte, dort hingestellt. Aus der Bedeutungsfülle dieses Bildes, wie sie die Sternsagen des alten Orients und der Antike ebenso wie seine Beliebtheit im Volksglauben beweisen, wählen wir zur späteren Verwendung nur wenige Züge aus: ,als Stab ist er Zeichen des Wanderers, wie der gewaltige Jäger in der Antike schon zugleich er unstete Wanderer war und der Erdgeborene nach einer böotischen Geburtstagssage.9 Am stärksten sind die drei Gürtelsterne in den reichen Motivzusammenhang des Kults um den heiligen Jakobus (Sant Jago) und die Wallfahrt nach Compostela im spanischen Galicien eingegangen, eine der lebhaftesten Wallfahrten des ganzen Mittelalters zum ,abendländischen Jerusalem‘. Jakobsmantel, Jakobshut und Jakobsstab der Jakobsbrüder bezeugen das, die aus allen Ländern auf der Jakobsstraße, an der der Jakobswirt sie labt, zum Grab des Heiligen ziehn; die ,Jakobsstraß am Himmel‘ aber heißt die Milchstraße, die via lactea; zu diesem Bereich gehört auch, daß der Seefahrer mit einem ,Jakobsstab‘ seinen Ort auf dem Meer bestimmte; und schließlich begegnet Odysseus auf seiner Fahrt in die Unterwelt dem Orion auf der Asphodeloswiese – auch auf diesem Weg ist er aufgestellt und gegenwärtig. – Natürlich lädt in unserm Falle der Jakobsstab auch ein, ,Patriarchenluft zu kosten‘ und des Erzvaters im Alten Testament zu gedenken, seiner Wanderschaften und Fluchten, wie er Fremdling in diesem Lande war (Gen. 26,3), der Bilder von Jakobsbrunnen und Jakobsleiter, und welche Verheißungen auf ihm ruhten. Endlich ist der Stern, der aus Jakob aufgehn wird (4. Mos. 24, 17) eine Vorausdeutung auf Christus, und wiederum derselbe, der die Weisen aus dem Morgenland nach Bethlehem führt (Matth. 2, 2).

III. Anhalter Trumm
Eine kühne Ellipse und Vorschlag zur Neubenennung der Reste des Anhalter Bahnhofs am Askanischen Platz im Bezirk Kreuzberg. Von dieser riesenhaften Anlage blieb bei der Sprengung 1961 ein geringer Rest, Bruchstück der Schauwand der großen Halle mit einem vorgelagerten Portikus, stehn. 1875–1880 von Franz Schwechter (unter Mitwirkung Heinrich Seidels) erbaut, war er lange ein Muster modernen Bahnhofsbaus und unter den Berliner Fernbahnhöfen einer der volkreichsten. Neben der Ruine der Gedächtniskirche, des gleichen Erbauers übrigens, ist es die zweite berühmte Reliquie der Stadt – dem Hang ihrer Bewohner ,zum bequem Gefühlvollen‘, wie Fontane meinte, unentbehrliche Erinnerung an glänzende und finstere Zeiten; und allein dieses Gedicht Celans mag die Bewahrung solcher Reste rechtfertigen. Vor einigen Jahren las man auf dem Gemäuer noch Namen, Nachrichten, Hinweise aus Kriegstagen und Bombennächten.
Anhalter Trumm allerdings könnte ,der richtige Berliner‘!,10 an sich unerschöpflich in der Erfindung von Übernamen, diese Reste nicht nennen; das kann nur ein von Süden hier Ankommender. Denn Trumm (neutr., seltener masc.) ist oberdeutsch, im Bayrischen und Österreichischen, aber nur in der Mundart, gebräuchlich für Bruchstück, Teilstück, Endstück; Holzklotz, grober Kerl, dickes Weib: a Mordstrumm, du boshaftes Trumm, da is a Trumm Kas. Klopstock erst gewann den Plural Trümmer für die poetische Sprache, von wo das Wort als plurale tantum in die Hochsprache überging.11

IV. Kokelstunde
Hatte der Dichter mit dem Trumm dem Sprachgeist des Berlinischen Befremdliches zugemutet, so revanchiert er sich sogleich durch die Wahl eines nur nord- und ostmitteldeutsch gebräuchlichen Wortes: kokeln, das seinerseits auch wieder die Vortraulichkeit eines Mundartwortes hat. Als ,gokeln‘ zugleich ,gaukeln‘ (Kokelspiel und Kokelpossen) meint es das Spiel der Kinder mit Licht und Feuer, mit Zündholz und Kerze, wie man es am liebsten in der Dämmerstunde treibt; auch die ,knäbische Lust am Zündeln‘ steckt darin und ihre Gefahr, so daß die Mahnung meist ,kokel nicht!‘- lautet; Kokelfritze und Kokelliese sind echt berlinisch und ,Kinder kokelten im Keller‘ findet man über einem Brandbericht der Lokalzeitung. ,Kokelstunde‘ ist allerdings eine Wortschöpfung Celans; wir nehmen sie zunächst als Bezeichnung der winterlichen Abendstunde in den Straßen dieser Stadt, zu einkehrender Erinnerung geeignet, nicht ohne Gefährlichkeit.

V. noch nichts / Interkurrierendes
Gewiß ein hapax legomenon und noch nie in einem Gedicht aufgefunden; so leicht sein Sinn sich zu ergeben scheint, sprachlich bleibt es erstaunlich, zumal wenn man das Wechselbad von Trumm und Kokelstunde hinter sich hat; ein Fremdwort, ein terminus, nur in medizinischen Wörterbüchern zu entdecken: interkurrente Krankheiten gibt es, auch ein unregelmäßiger Puls wird so bezeichnet.

VI. Stehkneipe – Schneekneipe
Das Gedicht endet, wie es begann: mit einer Bevorzugung der sinnlichen Qualität der Sprache, in klingender Lautung: wars am Anfang Alliteration und Vokalspiel, so ists hier der Reim – nachdem dazwischen drei neologistische Komposita geschaffen waren, ihnen fügt der Ausgang ein viertes hinzu – in der enharmonischen Verwechslung von Sache und Sinn. Die Stehkneipe ist vom Kreuzberger ,Leierkasten‘ über ,Die kleine Weltlaterne‘ bis ,Zur letzten Instanz‘ frequentiertes Spezifikum der Stadtlandschaft; im einfachen Tausch des Anlauts wird sie zur Schneekneipe, gewinnt durch die geringfügige Veränderung der Atemführung und Artikulation ,Richtung und Schicksal‘ und ist in der Winternacht am Schneeort das Ziel dessen, dessen Teil Schnee ( = Schneepart) ist.
Das ist die äußere Bedeutungsschicht, in der, wie sich zeigte, viel real-Berlinisches erkennbar ist. In der Nacht vom 19. zum 20. Dezember sei Celan, wie Szondi mitteilt (S. 119),12 am Landwehrkanal entlang „zur gespensterhaft stehengelassenen Fassade des Anhalter Bahnhofs“ gelangt. Es war eine Schneenacht, wie auch die Nacht, in der das zweite Gedicht geschrieben wurde, von anhaltendem Schneefall erfüllt war; die Zeitungen brachten Bilder von der ,weißen Pracht‘ auf den Plätzen der Stadt, die bei steigenden Temperaturen sich rasch in Regentage auflöste. Seine Erkundungsgänge durch die ihm unbekannte Stadt hat Celan wohl größtenteils allein unternommen, es finden sich kaum Zeugen dafür, er hat sie auch in Gesprächen eher verschwiegen.
Den Anhalter Bahnhof aufzusuchen, hatte er allerdings den allerpersönlichsten Anlaß; denn hier war er, vor  fast 30 Jahren, schon einmal gewesen; es war seine einzige schicksalsträchtige Begegnung mit Berlin. Das ist aus seiner Dichtung und Biographie bekannt.
In dem Gedicht „La Contrescarpe“ (Die Niemandsrose 80f.) lauten die vv 29–33:

Über Krakau
bist du gekommen, am Anhalter
Bahnhof
floß deinen Blicken ein Rauch zu,
der war schon von morgen.

Er befand sich auf der Fahrt von Czernowitz nach Frankreich, wo er das Medizinstudium beginnen wollte.13 Er nahm den Weg über Berlin, um auf Wunsch des Vaters von hier aus die unlängst nach London geflüchtete ,Wiener Tante‘ zu besuchen. So traf er am Morgen des 10. November 1938 auf dem Anhalter Bahnhof ein. Es war der Morgen nach dem ersten großen Pogrom, als angeblich ,spontane Sühneaktion‘ anläßlich des Attentats auf einen Angehörigen der deutschen Botschaft in Paris organisiert; es war die Nacht, in der die Synagogen und jüdischen Geschäfte brannten, Wohnungen, Schulen und Läden geplündert wurden; 20.000 Juden hatte man im ganzen Reich verhaftet, viele geprügelt, mißhandelt, einige erschlagen. Zeitgenossen werden sich des ratlosen Schreckens dieses Morgens erinnern, der Spuren der Roheit und Verwüstung überall. Das war Celans Ankunft in Deutschland; der achtzehnjährige Reisende verzichtete auf Berlin, verzichtete auf London und flüchtete mit dem nächsten Zug nach Frankreich. Aber ihm war ein Rauch, „schon von morgen“, zugeflossen; und ohne von seinen politischen Vorstellungen damals Genaueres zu wissen, wird man sagen können, er habe an diesem Ort und zu jener Stunde in das furchtbare Antlitz seiner eignen Zukunft gesehen.14 Jedenfalls konnte der Gedächtnisreiche und schmerzhaft Un-vergeßliche jeden späteren Zuwachs an Leiden auf diesen Ursprung, auf diesen Augenblick zurückführen.15 Eine Inkrustation jener frühen Verletzung also ist es, was die Mitte unsers Gedichts von 1967, fast 30 Jahre später, ausmacht. Wir werden sie von hier aus noch einmal zu prüfen haben, um in den Gedanken des Mannes Widerhall und Deutung des Jugenderlebnisses zu erkennen, wobei wir vom Zentrum des Gebildes zu seinen Rändern vordringen.

Anhalter Trumm / Kokelstunde

Diese Orts- und Zeitbestimmung ist jetzt diaphan zu lesen, als ein Palimpsest, das Leben und Geschichte geschrieben haben. Aus dem ,Anhalter Bahnhof‘ von einst, jener Schreckens-Station, ist der (oder gar das?) ,Anhalter Trumm‘ geworden – und es mag etwas zu Recht Despektierliches in der mundartlichen Bezeichnung mitschwingen, die dem jämmerlichen Rest einen neuen Namen gibt. Der kausale Zusammenhang zwischen jenem Tag und diesem Zustand liegt auf der Hand. Die Kokelstunde, die so unverbunden und unbezüglich hart daneben steht und deren traulichen, familiär vertrauten Klang wir auf die Stimmung des Winterabends bezogen, verbindet sich jetzt ursächlich mit der Ruine und nimmt gefährliche, nimmt grauenvolle Züge an. In das Intervall zwischen damals und heute fällt eine Kokelei (übrigens auch im Sinne von Gaukelei!) von gigantischem Ausmaß, die zum Weltbrand wurde; das frevelhafte Zündeln war am 10. November 1939 schon spürbar wie der Brandgeruch jener Nacht.16 Von hier aus muß man dann wohl die gelben Fensterflecken mit dem gelben Stern in Verbindung bringen, dem Schandzeichen, das zu tragen die Juden (seit 1941) gezwungen wurden. Mehr noch ist der ,gelbe Fleck‘ ein Terminus für die isolierenden Zeichen, die den Juden schon im Mittelalter (als gelber Judenring usw.) unter der Christenheit angeheftet wurden. Die Nationalsozialisten knüpften zunächst an diese längst vergeßne Tradition an, ehe sie den gelben Fleck des ersten Boykotts von 1933 später in den gelben Stern, den ,Davidsstern‘, umformten.17 Gelb galt je als ,niedere‘ Farbe und wurde im Mittelalter Dirnen und Ausgestoßenen, Ketzern und Juden zugeordnet.18 Aus alledem mag dann die phonetisch fast ekle Aufdringlichkeit des sechsfachen e und des trochäischen Verses erklärlich sein, in die er nach dem farbigen Einsatz mündet. Es mag ebendaher verständlich sein, daß Celan den vielleicht überdeutlichen Terminus hier in der ersten Zeile zu „gelben Fensterflecken“ erweitern mußte.19

der Jakobsstab

Auch dieses über die Bahnhofsruine gesetzte Sternbild kann jetzt seine Zugehörigkeit in tieferm Sinn erweisen; zumal es an früherer Stelle in Celans Dichtung begegnet, und zwar in Zusammenhängen, die seine hiesige Verwendung wie ein Selbstzitat erscheinen, jedenfalls auf eine Sternverbundenheit von altersher schließen lassen. In den großen Gedichten am Ende des Bandes Die Niemandsrose, die noch längst nicht genügend gedeutet und wohl noch lange nicht ganz verstehbar sind, in denen der Dichter besonders intensiv seinem Geschick. nachfragt, lautet ein Abschnitt im Erinnerungsgesang „Und mit dem Buch aus Tarussa“ (NR 85–87) … es ist eine russische Anthologie, die er aus der Heimat mitgebracht hatte:20

Von einem Brief, von ihm.
Vom Ein-Brief, vom Ost-Brief. Vom harten,
winzigen Worthaufen, vom
unbewaffneten Auge, das er
den drei
Gürtelsternen Orions – Jakobs-
stab, du,
abermals kommst du gegangen! –
zuführt auf der
Himmelskarte, die sich ihm aufschlug.

Wer da auch das unbewaffnete Auge den Gürtelsternen des Orion zuführt – die in der Parenthese isolierte direkte Anrufung und Begrüßung des Jakobsstabs, und das abermals beglaubigen uns, daß er ein vertrautes Zeichen der eignen Himmelskarte ist. Es ist das Zeichen des Wanderers und Exulanten, des Verbannten und Verbrannten aus dem ,Wander-Osten‘; und Kolchis ist das Zielwort des Gedichts, Ende vieler Irrfahrten, Ort des Goldvlieses und der Lösung des alten Fluchs.21 Dieser umfangreiche Komplex ist hier nicht zu erörtern. Der alte Sinn des Sternzeichens überm Anhalter Trumm galt unvermindert an diesem Winterabend, wenn der Dichter seinen Schicksalsweg überdachte.

noch nichts / Interkurrierendes

Läßt sich auch das Verständnis dieser Fügung erweitern? Sie differenziert die voranstehende Zeit- und Zustandsbestimmung in widersprüchlicher Weise: indem sie versichert, daß noch nichts interkurriert habe, und zugleich zu verstehen gibt, daß mit einer solchen Dazwischenkunft zu rechnen sei. Meint sie vielleicht, daß jener Morgen des 10. November am Anhalter Bahnhof ein furchtbarer intercursus war, dem fortwährend neue folgten; vielleicht war es der erste gewalttätige Einschuß in dieses Lebensgewebe, mit dem sein Schreckensmuster begann; und das Grundgefühl des aus der Katastrophe geretteten Lebens kann nichts anders, als das dauernde noch nicht mehr sein, ein Leben bei unbeständigem Puls, ein Zwischenzustand. Über der Bedrohung stand die Beständigkeit des Sternbilds.

Stehkneipe – Schneekneipe

Dieser Weg steht dem Dichterwort offen. Das Titelgedicht des nachgelassenen Bandes, den die drei Berliner Gedichte eröffnen, beschreibt noch einmal diese Arbeit im Schneepart (SP 20). Schnee-wörter bilden in Celans Dichtung von Anfang an eine zahlreiche Familie; es sei nur an Gedichte wie „Mit wechselndem Schlüssel“ (SzS 36), „Heimkehr“ (SG 16) und das Ende von „Keine Sandkunst mehr“ (AW 35) mit der Reduktion auf die Vokale erinnert: Tiefimschnee, / Ieiimee, / I-i-e. Immer verweist diese Bildwelt auf Absonderung, Auflösung, Vergessen, Schlaf und Tod und auf den Gewinn, den das dichterische Wort als seinem Quellgebiet und seiner Ermöglichung daraus zieht – wie aus dem Vergessen erst das tiefere, wahre Gedächtnis kommt. Das meint wohl auch der Schluß dieses Gedichts, der wie das Winken eines sich Entfernenden im immer dichteren Schneefall eines Winterabends wirkt. Daß er angelangt ist, daß er Lethe in der Schneekneipe getrunken hat, das beweist die Existenz seines Gedichts; dichterisch umschließt es und ,zeittief gegittert‘ einen Lebensaugenblick des Erschreckens, als könnte solche Anamnese schon trösten, heilen, retten.

Nachbemerkung: Zwei soeben erschienene Publikationen veranlassen eine Berichtigung und eine bestätigende Ergänzung:
1. Wie die faksimilierte Handschrift des Bandes Schneepart (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976) zeigt, ist noch ein viertes Gedicht in Berlin verfaßt worden, nämlich „Brunnengräber im Wind“ am 25.12.1967.
2. Marlies Janz berichtet in ihrer Arbeit Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans, Frankfurt a.M.: Syndikat 1976, aus eigener Teilnahme über Celans Abend am Anhalter Bahnhof. Als biographische Quelle zitiere ich ihre Anmerkung 214 auszugsweise: „In der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember fuhren Celan, Walter Georgi und ich am Landwehrkanal entlang zum Anhalter Bahnhof… Den Anlaß zu dieser Fahrt hatte gegeben, daß Celan zuvor von seiner Durchreise durch Berlin 1938 erzählt hatte… Auf dem großen Ödplatz vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs stapften wir durch den Schnee… und suchten, als Walter Georgi von den „drei Gürtelsternen Orions“ sprach, dieses Sternbild am Himmel. Als wir es gefunden hatten, meinte Celan: „Die heißen, ja die heißen Jakobsstab, die drei“.

Alfred Kelletat, in TEXT+KRITIK. Paul Celan – Heft 53/54. Zweite, erweiterte Auflage, edition text + kritik, 1984

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00