Andrea Zanzotto: Lorna, Kleinod der Hügel

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Andrea Zanzotto: Lorna, Kleinod der Hügel

Zanzotto/Madaus-Lorna, Kleinod der Hügel

ATOLL

Eine Sonne, die mit trägen Kreisen
den Erdenschatten verführte und verschlang
und über die Tage und Monate wuchs,
drängt Mauer schon und Hof zusammen,
prüft die winzigen Sandunterschiede
in den kleinen Burgen,
glänzt aus tausend Flaggen,
aus Schilden und Toren,
aus den Winkeln der Toten.
Unter diese unsicheren Monumente
brachte ich euch, zerbrechliche Italien,
deren kleinste Teile
ein gieriges Salz verfärbte;
man erahnt dort die Glut
des Insekts und des Buches,
dort, zwischen leeren Spielen und Gefahren,
lehnen sich an die Stille die Klauseln
meines unglückseligen Gedächtnisses,
hinfällige Berge überlassen
dem Sand ihre fühllose Zerstörung,
freigiebig bedeckt der Sand
Gesichter und Lachen,
löscht das Gold der Klänge.

Schon dringt die Sonne durch die
blinden Galerien der Fenster,
saugt und zerreißt die letzten
Bande meiner Substanz.

 

 

 

Vorwort

Es ist vor allem auf den biographischen Einschnitt der Kriegsjahre zurückzuführen, daß Andrea Zanzotto seinen ersten Gedichtband Dietro il paesaggio (Hinter der Landschaft) erst 1951 veröffentlichen konnte, und zwar bei Mondadori in der berühmten Reihe Lo Specchio. Zanzotto, 1921 in Pieve di Soligo bei Treviso geboren, hatte, wie er es in einem Gedicht dieser Sammlung ausdrückte, lange warten müssen.
Man könnte diesen späten Anfang auch ungewöhnlich nennen, da Zanzottos Auftreten als Dichter von illustren Autoren begrüßt wurde, so etwa von dem geradezu als Schutzgeist empfundenen Ungaretti, von Montale und Quasimodo, von Sereni, Fortini, Anceschi und anderen.
Den Weg zur Dichtung hatte Zanzotto allerdings schon viel früher gefunden. Ende der dreißiger Jahre nämlich, als er seine Studien an der Universität Padua mit einer philologischen Doktorarbeit abschloß und gleichzeitig schon als Lehrer tätig war, schrieb er jene Dichtung, die erst im Jahre 1972 in einer der kostbaren Ausgaben des Verlags Scheiwiller unter dem beunruhigenden Titel A che valse? herauskamen. Es handelte sich dabei um Vorwegnahmen zukünftiger Formen und Themen; hier sind Spuren verschiedenartigster, wichtiger Lektüren zu entdecken, genau diejenigen, die geradezu provokatorisch in Dietro il paesaggio auftauchen, nämlich Spuren von Ungaretti, Quasimodo, Gatto und den Surrealisten, von Rilke, Hölderlin und dem nie vergessenen Leopardi. Gewisse Errungenschaften der hermetischen Bewegung verbinden sich mit seltenen lexikalischen Kombinationen, die gegenüber feinziselierten, manieristischen Modulationen nicht unempfindlich sind. Daraus lassen sich Ähnlichkeiten mit Lorca (so Stefano Agosti) ableiten, wenn auch – wie einige Stilelemente erkennen lassen – Töne vom preziösen und parnassischen D’Annunzio des Intermezzo mitschwingen.
Wenn 1951 für Zanzotto das Jahr ist, in dem er sich zwischen einer privaten, verborgenen Aktivität und einer epiphanischen Öffnung zur Welt bewegt, so stellt das Jahr 1968, in dem La Beltà erscheint, den Wendepunkt in Zanzottos Dichtung dar. Diese Sammlung gilt, nach allgemeiner Übereinkunft, als Trennlinie: Man spricht von Gedichten, die sich jener grundlegenden Erfahrung nähern oder von ihr abwenden.
Nach La Beltà erschienen nacheinander Gedichtbände wie Gli sguardi i fatti e senhal, die 1969 veröffentlicht wurden, es folgten Pasque und dann das venezianisch betitelte Opus Filò: beide wurden 1976 im Verlag Ruzante (Venedig) publiziert. Einige von diesen Gedichten waren für Fellinis Film Casanova bestimmt (so Recitativo veneziano und Cantilena londinese), zu anderen, im alten Dialekt von Treviso verfaßten Gedichten, gab das Erdbeben in Friaul Anlaß.
Zu den letzten Veröffentlichungen gehören Il galateo in bosco (Galateo im Wald, 1978), Fosfeni (Phosphene, 1983) und Idioma (Idiom, 1986). Da sich Zanzotto seit 1968 regelmäßig und höchst intensiv als Kritiker betätigt, erschienen Artikel überdies über alte und neue Autoren in zahlreichen Zeitschriften, Zeitungen und Büchern.
Diese Schriften bilden eine Parallele zur dichterischen Produktion: Einerseits paraphrasieren und kommentieren sie die im eigenen Œuvre vorhandene Problematik, andererseits formulieren sie existentielle, der Dichtung inhärente Reflexionen. Es handelt sich um eine scharfsinnige, sorgfältige Exegese, die es mühelos erlaubt, die Grundlagen seines Schaffensprozesses aufzuzeigen…

Raffaella Bertazzoli, Aus dem Vorwort, 1990

 

 

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Andrea Zanzotto zu seinem 88. Geburtstag.

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