Antonio Skármeta: Zu Pablo Nerudas Gedicht „Ode an einen Albatros auf großer Wanderung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Pablo Nerudas Gedicht „Ode an einen Albatros auf großer Wanderung“ aus dem Band Pablo Neruda: Elementare Oden. –

 

 

 

 

PABLO NERUDA

Ode an einen Albatros auf großer Wanderung

An diesem Tage starb
ein mächtiger grauer
Albatros.
Hier,
auf die nassen
Gestade,
stürzte er nieder.
In diesem
glanzlosen
Monat, an
diesem Tag
eines silbrigen regendurchsprühten
Herbstes,
der
einem Netz
mit eisigen Fischen
und Wassern
des Meeres glich.
Hier
stürzte
sterbend
der Vogel der Größe.

Er war
im
Tode
wie ein schwarzes Kreuz.
Von Schwingenspitze zu -spitze
drei Meter Gefieder
und das Haupt
wie ein Bootshaken gekrümmt,
die zyklonischen
Augen geschlossen.

Von Neuseeland her
kreuzte er das ganze Weltenmeer,
bis
er starb, in Chile.

Warum? Warum? Und welches Salz,
welche Woge, welchen Wind
suchte er im Meer?
Was hob seine Kraft
aufwärts gegen den ganzen
Weltenraum?
Warum versuchte
sein Vermögen sich an den härtesten
Einsamkeiten?
Oder war eines Sternes
magnetische Rose sein Ziel?
Keiner
wird wissen, keiner es nennen können.

Der Ozean auf diesem endlos
weiten Wege
hat keine
einzige Insel,
und auf der interplanetarischen
Kurve
sieghaften Flugs
der irrende Albatros
traf auf nichts als Tage,
Nächte, Wasser,
Einsamkeiten,
Raum.

Er, mit seinen Schwingen, war
die Kraft,
die Richtung, Augen,
die Sonne
und Schatten bezwangen:
über den Himmel hin
zu
der unbekannten,
der fernsten
Erde
der Vogel strich.
Gespreiteter Vogel, unbewegter,
du
zwischen den Kontinenten,
über verlorenen Meeren
im Flug, du schienst
ein einsames
Zittern von Schwingen,
ein leichter
Glockenschlag und Feder:
also wechselte eigensinnig
deine Majestät den Weg,
und obsiegend folgtest du
getreu dem mitleidlosen
öden
Fahrtstrich.
Schön warst du, da du wundersam
kreistest zwischen Woge und Luft,
deine Schwingenspitzen
in den Ozean tauchend
oder dich niederlassend mitten in
der meerischen Endlosigkeit,
geschlossenen Flügels, einem Koffer
voll geheimnisvoller Geschmeide gleich,
gewiegt
von den
einsamen
Schäumen
wie eine stumme
Prophezeiung
im Fluss der Psalmen.

Albatros Vogel, verzeih mir,
sagte ich in meinem Schweigen,
da ich ihn liegen sah hingestreckt,
starr
im Sande, nach
der unermesslichen
Überquerung.
Heldenhafter, sprach ich zu ihm, niemand
auf Erden wird
auf einem
Marktplatz
dein hinreißendes
Standbild errichten,
niemand.
Dort wird man sehen inmitten
der trostlosen offiziellen
Lorbeerkränze
den Mann mit Schnurrbart,
Gehrock oder Degen,
ihn, der mordete
im Kriege
das Bauernmädchen,
ihn, der mit einem einzigen
blutigen Geschoss
eine Mädchenschule
in Staub gelegt,
ihn, der an sich riss
das Erdreich
der Indios,
oder den Jäger
von Tauben, den Würger
schwarzer Schwäne.

Wahrlich,
erwarte nicht,
sprach ich zu ihm,
dem König des Sturms,
dem Vogel der Meere,
erwarte kein
Grabmal,
deiner Ruhmestat
errichtet,
und während
finstere Mitbürger,
rings um deine Überreste versammelt, dir
eine Feder
ausrissen, in Wahrheit
ein Blütenblatt, eine sturmgesegnete
Botschaft,
entfernte ich mich,
damit
deine Erinnerung
ohne Stein, ohne Standbild
wenigstens
durch diese Verse anfliege
ein letztes Mal gegen
die Endlosigkeit
und dein Flug also nahe bleibe dem Meer.

Du dunkler Kapitän,
vernichtet o in meinem Vaterland,
wollte der Himmel, dass deine Schwingen,
die stolzen,
weiterflögen über
die letzte Woge, die Woge des Todes.

 

Dieses brillante Herbstresponsorium

bildet den Gegenpol zu den Arbeiten eines Dylan Thomas oder James Joyce über den „Künstler als jungen Hund“ und die brennenden Konflikte derer, die als überaus dünnhäutige Wesen in ihrem tiefsten Inneren mit Verletzlichkeit und Verwirrung zu kämpfen haben.
Bei Baudelaire in Die Blumen des Bösen wird dieser majestätische Vogel, dieser riesige Meeressegler, den die Seeleute demütigen und verspotten, als er über das Schiffsdeck taumelt, zu einer gelungenen Parabel für den in seinem Höhenflug abgestürzten Künstler.
Während meines Studiums an der Columbia University stellte ich mir vor, vor dem Fenster würde ein Albatrosengel auf mich warten, um mich ins Crazy Horse zu bringen, wo Dylan Thomas seine tödlichen Whiskymengen getrunken hatte. Der schelmische Engel pickte gegen die Scheibe, hinter der ich mich in einer Vorlesung über symbolische Logik langweilte. Wie der Baudelaire’sche Albatros wurde mein Engel von allen repressiven Kräften New Yorks verfolgt, und ich bot ihm Zuflucht in meinem mit gelblichem Samt tapezierten Apartment, Uptown, 90. Straße. Ich schrieb eine Cueca für ihn, einen chilenischen Tanz, der mit den Versen endet: „Stutzt ihm die Flügelchen, / sagte das Priesterchen.“
Jahre später entdeckte ich im Dritten Buch der Oden dieses Gedicht, Responsorium, Litanei, Grabgebet für den toten Künstler, und jedes Mal, wenn ich es lese, bin ich aufs Neue überwältigt. Alles in diesem Text wird getragen von einem strengen, schweren Rhythmus, der an Jorge Manriques Coplas zum Tod seines Vaters denken lässt. Jeder einzelne Vers beeindruckt durch seine konzise Schlichtheit:

Hier
stürzte
sterbend
der Vogel der Größe.

Eine großartige Parabel für Willkür und Größe der Schöpfung, verkörpert in dem einsamen Vogel, der Antworten auf unausgesprochene Fragen sucht, von Kontinent zu Kontinent die Flügel schwingt, unterwegs zu ungewissen Zielen; sehnsüchtigen Herzens, pure, rastlose Energie, überfliegt er die Unendlichkeit, ohne dass es eine einzige Insel gäbe, auf der er landen könnte.
Das Echo, das Baudelaires Gedicht in Neruda hinterlassen hat, hallt in der gesamten Ode nach, am stärksten jedoch in der anklagenden Konfrontation mit den gemeinen, unbedeutenden Menschen, die Denkmäler zur Erinnerung an ihre Trivialitäten und Dummheiten errichten, während sich an das tödliche Abenteuer des großen Vogels allein der Dichter erinnert.
Der es, darin sind wir uns wohl einig, seinen Lesern mit glühenden Eisen eingebrannt hat.

Antonio Skármeta, aus Antonio Skármeta: Mein Freund Neruda, Piper Verlag, 2011

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