Bernd Jentzsch: Zu Bernd Jentzsch’ Gedicht „Briefe schreiben, Briefe lesen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bernd Jentzsch’ Gedicht „Briefe schreiben, Briefe lesen“ aus Bernd Jentzsch: Flöze. 

 

 

 

 

BERND JENTZSCH

Briefe schreiben, Briefe lesen

Und schreib, schreibt meine alte Mutter,
Sie ist alt wie Methusalem, steinalt,
Schreib für die Arbeiter, wie sie
Ihr ganzes Leben lang, das kennt ihr alle nicht,
Sie kennt es und wurde krumm davon,
Und in Plauen am Westbahnhof die gefangenen Russen,
Das darf doch nicht wiederkommen,
Wenn sich das rächt, wie sie die zugerichtet haben,
Aus Rache ist sie nun eingesperrt in ihr Haus,
Und bleib gesund, mein Kind, schreib mir,
Schreibt meine alte Mutter, die Geisel,
Was machen deine Nieren, mir tun die Zähne weh,
Die elende neue Prothese, bloß noch Suppen,
Ich lege ein Haar in den Brief, schreibt die Geisel,
Wenn es noch drin ist, dann weißt du,
Ach, die unstillbare Lust, Briefe zu lesen,
Ob ich dich wiedersehn werde, wer weiß,
Ich weiß nicht, immer dieses Geraschel nachts,
Schritte die Wände hinauf, hörst du es auch?

1978

 

Kommentar zu „Briefe schreiben, Briefe lesen“

Leserstimmen. West: „Mir fehlt der religiöse Aspekt, das Transzendente.“ Ost: „Aber die Idee des Sozialismus, die Idee an sich, war doch gut, oder?“

Von Unbekannt, doch aus dem engeren Bekanntenkreis, wird Hildegard J. im Zusammenhang mit den Ereignissen vom November 1976, in die sie verstrickt ist durch den Sohn, fortan aktenkundig unter ,Verbrecher‘, stigmatisiert als ,die Sau‘.
,Die Sau‘, 71, Rentnerin, lebt in Karl-Marx-Stadt. Nach den Gesetzen der Republik seit elf Jahren berechtigt, in den Westen zu reisen, hat sie bisher keinerlei Gebrauch davon gemacht. Den ersten Antrag für eine Besuchsreise in die Schweiz, wo sie den ,Verbrecher‘, Schwiegertochter und Enkel wiederzusehen hofft, stellt ,die Sau‘ im Sommer 1977. Ablehnung durch das Paß- und Meldewesen der Volkspolizei Karl-Marx-Stadt. Zahllose Antragswiederholungen, auch in Berlin, mit den wechselweise angegebenen Reisezielen Schweiz oder Bundesrepublik Deutschland. Ablehnung durch das Paß- und Meldewesen der Volkspolizei Karl-Marx-Stadt und Berlin. Entschluß, den Hausstand aufzulösen, die ,einmalige Ausreise‘ zu beantragen und in den Raum Lörrach zu übersiedeln. Ablehnung des Ausreiseantrages durch das Paß- und Meldewesen der Volkspolizei Karl-MarxStadt. Mit Hinweis auf ,Verbrecher‘ Auflage der zuständigen Stellen, weitere Besuchs- oder Ausreiseanträge zu unterlassen. Beim erneuten Versuch Weigerung, den Antrag entgegenzunehmen.
Telefongespräche vom Hauptpostamt nach stundenlangem Warten auf Vermittlung. Regelmäßige Unterbrechungen, sobald bestimmte Punkte berührt werden. Das in einem der Gespräche von der ,Sau‘ erwähnte Haar im Brief erweist sich als verläßliches Indiz für die Postzensur des Ministeriums für Staatssicherheit. Droh- und Bezichtigungsschreiben, unter der Wohnungstür durchgesteckt. Aus dem Wortlaut:

… unfähig, klassenmäßig zu erziehen.

Dauer der Bedrängnis: 2 Jahre, 9 Monate und 13 Tage.

,Die Sau‘ wird am Morgen des 5.9.1979 im Korridor der Wohnung tot aufgefunden. Amtlich beglaubigte Eintragung in der Sterbeurkunde:

am 4. September 1979, gegen 08 Uhr 00 Minuten, in Karl-Marx-Stadt verstorben.

Ein begonnener Brief an den ,Verbrecher‘, bei Öffnung der Wohnung von einem Vertrauten auf dem Küchentisch vorgefunden, verschwindet unter nicht geklärten Umständen. Im Wohnzimmer, gut sichtbar plaziert, Quartiermachen, aufgeschlagen Seite 25.
Noch zu Lebzeiten Einebnung des Familiengrabes, das nicht neu belegt wird. Wegen der vom Ministerium für Staatssicherheit eingeleiteten Festnahme-Fahndung ist es dem ,Verbrecher‘ nicht möglich, an der Trauerfeier teilzunehmen. In der Todesanzeige, Freie Presse, wird das Land seines Aufenthalts getilgt. Kremierung. Beisetzung der Asche auf dem Südfriedhof, Urnengemeinschaft 1979. Genaue Lokalisation der Urne unbekannt. Staatliche Enterbung von ,Verbrecher‘, Versteigerung des Hausrats von ,Sau‘. Unter den aufgefundenen persönlichen Papieren die handschriftliche Notiz:

Jedermann steht es frei, jedes Land, einschließlich des eigenen, zu verlassen.

Bernd Jentzsch 24.4.1992, aus Bernd Jentzsch: Flöze, Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, 1993

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