Erich Arendt: Gedichte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Erich Arendt: Gedichte

Arendt-Gedichte

NACH DEM PROZEß SOKRATES

Steingrauer Tag,
der sein Lid senkt.
Knie nicht
in den Schatten!

Spreu
schleifen die Stunden,
Spreu, abermillion, die
halt nicht machen

vor deiner Stirn
− Trauerschafott −,
schneller und
schneller, ohne
Geheimnis, und −
kein blutender Kern.

Verzweifelt die
chimärischen Fahnen,
sie blichen im jäh
verdämmernden
Rot,

Gleichgeschaltet
mit abwaschbaren
Handschuhn
gleichgeschaltet durch die
gezeichneten Finger
das erschöpfte
tausendströmige Herz.

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaDie da
handeln, an Tischen,
mit deiner Hinfälligkeit,
allwissenden Ohrs,
ledernen
Herzens ihr Gott, sie
haben das Wort:

aaaaaaaaaaaaaaWorte,

gedreht und
gedroschen: Hülsen
gedroschen, der
zusammengekehrte Rest.

Gehend im Kreis
der erschoßnen Gedanken
− wie war
doch der Atem groß −
halt versiegelt den Mund, daß
der Knoten
Blut
nicht Zeugnis ablege!

Wo Freude und Recht
gemeuchelt lag,
an der Wand
der Geschichte
stets noch: Du!

Gehend im Kreis – doch
der Meteor
Verfinsterung jagt
am ummauerten Himmel:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaknie nicht −

Blutwimper, schwarz
das Jahrhundert

 

 

 

Auf das Wort gebracht

Die Sprache ist Organ unseres Kopfes, unseres Herzens, Zeichen unserer Phantasien, unserer Ideen, uns muß sie gehorchen.
Hat sie nun zu lange in fremdem Dienst gelebt, so, denk ich, ist fast zu fürchten, daß sie nie mehr ganz der freie, reine durch gar nichts als durch das lnnre, so und nicht anders gestaltete Ausdruck unseres Geistes werde. Ich würde mich gern näher darüber erklären…
Hölderlin an Neuffer im Juli 1794

1
Mit dem ersten Wort, das man über die Lippen bringt, durchbricht man das Schweigen. So brachten einst Worte den Menschen aus dem tierischen Dunkel, gaben Elementen und Dingen Sinn und Zeichen. Wir vollziehen täglich immer wieder im Sprechen diesen Vorgang unserer Stammesgeschichte, ohne ihn noch zu bemerken, bringen Gefühle und Gedanken in Worte, die wir zur Verfügung haben oder vorfinden. Ob sie uns wirklich entsprechen?
Die Gedichte Erich Arendts – legt man mit ein paar gewagten Zügen Querschnitte durch die Arbeit seines Lebens – führen uns diesen widerspruchsvollen Gang vor Augen: wie ihr Sprecher immer wieder von neuem ansetzt; zu seinem Ursprung zu kommen sucht, durch Erfahrungen gewandelt, Worte wiederaufnimmt, die er vor nahezu fünf Dezennien zuerst aussprach:

Aus dem Schweigen
aller Herzen
erdenkahl…

Worte wie Auge und Stern, Nacht und Licht, Geburt und Tod, Meer, Sturm, Vögel.
Es erscheint, von heute, aus gesehen, als würfe der junge Arendt, der seine ersten Gedichte 1926 in der Zeitschrift Der Sturm veröffentlichte, bestimmte Haupt-Worte wie Klänge und Motive seiner künftigen Bestimmung voraus, ohne noch zu ahnen, was er damit begonnen hatte; Vokabeln, deren Realität und Dimensionen es erst einzulösen galt:

Sonnen
Küsten
Klippen heißes Segel Land

Grund-Worte aus einem Schweigen

erdenkahl

Man überläßt die Einordnung solcher Versuche getrost dem Literaturhistoriker, der die Unverbindlichkeit expressionistischer Wort-Kunst schon nachweisen wird, und gerät beim Lesen der Jahrzehnte später in der Emigration geschriebenen Gedichte über das kolumbianische Urwalddorf Tolú (1943)

im Schweigen der Hütten
(„Vorm Dorf die Sümpfe“)

auf erdnackter Erde
(„Karibische Nacht“)

an diese Worte, jetzt ganz der existentiellen und sozialen Situation entsprechend, der sie gelten, nachdem ihr Autor dort Land zum Überleben gefunden hatte; stößt wieder auf sie in den ersten Zeilen der 1954 in BerIin und auf Hiddensee geschriebenen FLUGODEN

Erdenkahl
wie es dich anweht! stumm
aus dem tiefen Alter der Welt: gesichtslos

die mit dieser Wort-Periode zu einem gedanklichen Entwurf ansetzen, menschliches Dasein von seiner Herkunft an zu fassen. Man steht schließlich, im sechsten Jahrzehnt seines Lebens, im Banne der Reisen zur italienischen und griechischen Inselwelt des Mittelmeeres, mit ihrem Sprecher an ägäischer Küste zwischen den dauernden Säulen des alten Palastes von PHAISTOS auf Kreta

Lichtschlag, entwimpert
das Dunkel
Welt!
aaaaaamühelos
Altern und Stunde.

und empfindet mit ihm das frühe „glückhafte Sich-auf-Erden-Fühlen des Menschen“ nach dem vorgeschichtlichen Dunkel erdenkahler „urzeitlicher Formlosigkeit“, ein Dunkel, das mit Asche und Tod – verbrannte Erde, Vernichtungslager −, den totalen Zerstörungen und Massakern in unserer Zeit, erneut über den Menschen hereinbrach, zu erklären noch, zu verstehen kaum.

„Wanderer, kommst du“,
komm, lies
die Schrift, windgezeichnet
die Steinhaut, Jahrtausendring hier
an Ring: die blutende
Linie…
aaaaältere Nacht!
aaaaDie Furchen der Erde,
aaaageschlossen.

Was an Zeugnissen und Ruinen überkommener Geschichte ablesbar ist, wird – weil es zugleich schmerzhafte Widerfahrung war −

Todstreifenden Segels,
dennoch davon-
kommen!…
(„Odysseus’ Heimkehr“)

zur Struktur für das Gedicht: eine aufs Wort gestellte Lebenslinie – oft unterbrochen, immer wieder aufgenommen – wie der verkürzte Weg menschlicher Entwicklungsgeschichte, tausend Jahre wie ein Tag.

Treibender Fels ich, im
starrenden Umkreis, gram-
offen die Leere des
Himmels, alternd.

Netz, das einfängt
die Tage Vergeblichkeit,
treibend, zählend,
zuweilen Gesang.

(„Schwimmend vor delischer Küste“)

Erich Arendt will für solche Wechselwirkungen zwischen gestern und heute, zwischen Individuum und Gesellschaft, Ahnung und Bewußtsein seine eigene Sprache finden aus dem „Geröll der Silben“ und vorgeprägter Wörter. „Die Sprache hat also für den Poeten weniger Wörter“, sagt Klopstock, „der Dichter kann diejenigen Empfindungen, für weiche die Sprache keine Worte hat…, durch die Stärke und die Stellung der völlig ausgedrückten ähnlichen, mitausdrücken.“

Rasch wächst
das Dürrgras Vergessen:
wir mähen es
ab mit den Zähnen des Worts (das
du härtetest). Schweigst,
zu leben im Zwielicht
der Geschichte
„unglücklich glücklich“!

(„František Halas“)

Die Anstrengung ist deutlich. Worte werden als Zeichen Arendt wieder verfügbar, wenn Vorgänge über weite Strecken hinweg und nicht auf direktem Weg der Transmission in Beziehung treten wie Stein und Geduld, Baum und Schatten, Fels und Gesicht, Vogel und Licht.
Worte, die er so aus „fremdem Dienst“ und gewerbsmäßigem Verschleiß zurückzugewinnen sucht: „Sprachbewegung“ – die mit formaler Strukturanalyse nicht erklärt wird, fragt sie nicht nach dem Beweggrund, dem tieferen Anlaß zum Sprechen, nach dem Motiv. Motiv, das als „verbindliche politische Aussage“ von einem „ideell-realen Inhalt“ kaum erschöpfend gedeutet ist, weil seine Intentionen weiter reichen.

…………………………………..
aaaaaKein
aaaaaGras hier.

Hinter dem Tod
das Meer:
aaaaaMordgroßer Tag,
aaaaadarin
die eiserne Sonne.
Komm Vogel:
dein Flügelschlag!
aaaaaIch sterb
aaaaaDas Licht.

(„Mykene“)

Ungewohnte Wortverbindungen gewiß, wie sie Arendt, in sichtbarem Kontakt zu weltweiter zeitgenössischer Poesie, herstellt, um scheinbar weit voneinanderliegende Elemente in einen Sprech-Atem zu bringen. Worte, losgesagt von üblicher syntaktischer Fügung und üblichem pragmatischem Gebrauch, die als Vers in Spannung zueinander treten, sich als Unruhe und Herausforderung auf uns übertragend, wenn wir sie aufnehmen. Weil Worte – auch wenn sie uns nie mehr ganz der „freie, reine“ Ausdruck werden – nach Mitsprache verlangen. Auch indem sie das Risiko der Autonomie – „hohe Sprache“ −, ja der Verfehlung wagen. Worte – nicht mehr

aaaaaWorte,
gedreht und
gedroschen: Hülsen
gedroschen, der
zusammengekehrte Rest.

(„Nach dem Prozeß Sokrates“)

sondern An-Rede und Zu-Spruch. Wenn wir ihre Erregung, wie durch Signale getroffen, erwidern, den Raum zwischen ihnen, von Zeile zu Zeile, von Vers zu Vers, verständnisbereit mit unserer Erfahrung ergänzen. Daß Sprache uns wieder gehorcht, indem wir auf sie hören, was bedeutet, daß sie uns auf neue Weise gehört.

Stein
Horizonte
unser −

(„Verdikt“)

Wir wissen −
aaaaanoch
aaaaawieder.

(„Sekundengezählt“)

2
………………………
der Meeresflügel
des Worts.

Wie ein Gedicht sich bildet, kann man nur schwer verfolgen. Wie ein Wort, anderen vorausgeschickt, ein Bild erweckt, Vorstellungen auslöst, die sich zusehends zu Versen ordnen, von Gegen-Versen erwidert wie das Anbranden und Zurückschlagen einer Welle, Ebbe und Flut.
Erich Arendt kann Blätter zeigen, auf die er – vertikal über die Seite verstreut, so daß weite Zwischenräume blieben erste Einfälle notiert hat, ursprüngliche Eindrücke, optische Visionen in Metaphern, vor bewußte Inseln auf dem sonst leeren Blatt. Manchmal bleibt der Entwurf liegen, wird verändert, verworfen, endlich doch ausgeführt. Im günstigen Falle gelingt – verschiedene Fassungen und Korrekturen eingerechnet – das Gedicht im ersten Anlauf.
Grundmotive lassen sich erst nach Jahren übersehen.
Das Meer – wahrgenommene Natur – tritt bereits in das Gedicht ein, als der 1903 im märkischen Neuruppin geborene Autor, der ein Lehrerstudium absolvierte und vor 1933 als Erzieher an einer Versuchsschule im Arbeiterviertel Berlin-Neukölln tätig war, seine Ferien auf der Nordseeinsel Sylt verbrachte, auf Wanderungen bis nach Südfrankreich das Ufer des Mittelmeers streift.
Das Meer wird dem vom Faschismus aus Deutschland Vertriebenen .

Nicht nur von ungefähr getrieben und verschlagen…

zum gefahrvollen und doch rettenden Element, der sich, wie der Odysseus der klassischen Sage, auf weite Fahrt begibt, bis hinüber zur afrikanischen Küste, die Inseln des Mittelmeers besucht. Arendt spürt die gewachsene Einheit von alter europäischer Kultur und gegenwärtiger Zivilisation, Beständigkeit im Kommen und Gehen der Gezeiten von friedlichem Dasein und Bedrohung.

Ulysses’ Lächeln kann ich hier in jedem Mann begegnen!

schreibt er, im tradierten Erlebnis- und Gelegenheitsgedicht etwas mitzuteilen, zu berichten, auf den klingenden Reim, das manchmal allzu schöne Bild zu bringen.
„Fels und Flut, Zusammenklang, der den ersten Tag der Erde heraufzubeschwören scheint: So tauchen vielgestalt, zahllos die Inseln aus den mittelmeerischen Wassern“, heißt es später im Reisebuch Inseln des Mittelmeeres (1959).

Immer wieder neu erfährt das Auge, was einst Ulysses bewegte, wenn am Meerhorizont die noch zarte, fast verwischbare Linie einer Insel erscheint: elementares Erlebnis täglichen Schöpfungstages im Zerbranden und Beharren der Flut, die da nagt und schäumt und gestaltet, Leben aus den Tiefen spült und Tod.

Im Lied vom ALBATROS findet er für das Emigrantendasein das entsprechende Naturgleichnis :

Sonnen sanken um mein Schiff und stiegen…

Strophen im Reimzwang wohlgefügt – wo doch die Welt aus den Fugen ist −, die sich den verbindlichen Genreformen anschließen, wie sie in der antifaschistischen Lyrik des Exils weithin geübt werden, lyrische Porträts, balladeske Strophen, Sonette.
Vom Wort getragene freie Rhythmen werden nur zaghaft erprobt, eigentlich erst, nach der Überwindung des Ozeans, unterm Ansturm der „unbezwungenen, unbegründeten Natur“ im Tropenland Kolumbien, das dem aus Europa Geflohenen Zuflucht gewährt.

… erstes Flüstern
der Erde, ein ungehörtes: wir
hörten es

(„Über Asche und Zeit“)

Eine andere Welt.

Dämonisch und unberechenbar… Dürren und Plagen, Seuchen, schwellende Fluten, giftige Fieber… Aus dieser blinden Abhängigkeit erwuchsen Brauch, Tabu und Kult… Noch immer wird die Natur, da die dunkle Hand sie nicht beherrscht, als Schicksal empfunden und gelebt.

Mit solchen Sätzen aus dem Vorwort zu dem Zyklus TOLÚ klärt der Autor später den Hintergrund, auf dem sich seine rhythmischen Perioden ungehemmter entfalteten, greller, antipodischer, surreal die Metaphern, die nun die Szene einnehmen:

… Mein Auge, wie
des kreisenden Speervogels, steht
am Himmelsgewölbe,
lauernd, überm Meer.

(„Ausfahrt“)

Der Durchbruch zum eigenen Gedicht zeichnet sich ab, das nicht nur mehr thematisch gebunden ist, sondern seinen Impuls erst im Sprechen selbst findet, Eigenbewegung, die den Vers führt, Stoffliches mithineinreißt in die Sprachempfindung, die Ereignissen nicht nur folgt, sondern ihr immanentes Moment werden will wie im wirbelnden Tanz der CUMBIA:

tanzende Fischer die springenden Wogen, daß fischtoll das Meer sei…
………………………….
tanzender ineinandergedrungen, wachsen die Rhythmen…

In den Gedichten aus dem südamerikanischen Exil, unterm Einfluß heimischen Kults, werden zum erstenmal mythische Kräfte beschworen, die seitdem in Arendts Lyrik poetische Funktion haben.
Mit Recht ist uns der pseudophilosophische Mythos, der auch in der modernen Dichtung gegen Vernunft und Geschichtsbewußtsein ausgespielt wird, verdächtig; Mythos als irrationale „Sendung“ zur Maskierung von Macht und Gewalt, monströs in diesem 20. Jahrhundert.
Darum aber handelt es sich hier nicht.
„Was wir verstandesmäßig  w i s s e n  oder  k e n ne n“, schreibt Pierre Grimal, Herausgeber einer Sammlung Mythen der Völker,

ist recht wenig, verglichen mit dem, was wir glauben oder uns vorstellen. Alles, was in uns nicht vom rationalen Wissen erleuchtet ist, gehört dem Mythos an, der nichts anderes ist als die spontane Abwehrreaktion des menschlichen Geistes gegenüber einer unverständlichen oder feindseligen Welt.

Nur in diesem Sinne ist zu verstehen, was wir in dieser Dichtung mythisch nennen, ein Anruf, „der das Vergangene, Gelebte verkündet… der zum Ursprünglichen im Menschen spricht… an das Unvergängliche in ihm sich wendet“ – wie es der spanische Dichter Vicente Aleixandre formuliert hat, den Arendt ins Deutsche übertrug. Mythisch bleibt dem Dichter seine Konstellation zwischen Meer und Wind, zwischen Natur und All – über das Erkennbare und Definierte hinaus. Er erblickt Gegenwart auch im Bilde antiker Kunst, besteht Gefährdung und Verhängnis im Gleichnis einer Zeit, die sie bannte: sie in Gesang und Mythen darstellbar und damit verfügbar machte.

… Sei
wie das Wasser – sterblos.
Oder
aaaaaein Stein auf Lemnos
zu sein, erdgerecht, der hinab
sinkt, unmerklich,
und taub −
aaaaaaaaaWind,
der manchmal noch kommt
auf Schultern schwer, und
dein Segel, der
weiße Traum, starr…

(„Odysseus’ Heimkehr“)

Erich Arendt hat es nach seiner Heimkehr im Jahre 1950 – er nimmt seinen Wohnsitz in Berlin, arbeitet als Schriftsteller und Übersetzer – schwer gehabt, diese freigesprochenen Rhythmen an neuerfahrene Landschaft zu binden, die ihm Wirklichkeit und mythische Vision zugleich sein konnte. Das nördliche HIDDENSEE

Gehoben vom leisen Licht
in des Himmels größeren Ozean…

bot sich noch am ehesten dazu an, schien aber kaum der günstige geographische Ort, solche Beziehungen über Zeiten und Geschlechter hinweg in großer Geste zu umspannen. Seine Oden und Elegien um die Mitte der fünfziger Jahre, die für immer tradiertes Versmaß und gängigen Reim hinter sich lassen, sind gedanklich entworfen; ihre klassischen Symbole wirken noch zitiert, mehr abstrakt denn anschaulich.

Blühte, Wogen
sänftigend und Tod, denn
die Klage Ulysses’ nicht?

(„Elegie I“)

Erst die ägäische lnselwelt, mit allen Sinnen aufgenommen während der Reisen gegen Ende der fünfziger, zu Beginn der sechziger Jahre, ihre Wasser befahren, ihre Hügel beschritten, Kunst und Geschichte in Säule und Kubus betastet, öffnet ihm vollends den Zugang zur poetischen Mitte seines Lebens.

… „Ich,
mein Leib fühlt es
starren, das
aufgerissene Auge
Meer.“
……………………………..
Weinduft. Ein Tanz.
− „Welt! meint
der Schritt.“

(„Steine von Chios“)

Arendts Gedicht macht sich mit dem Band ÄGÄIS (1967) auch vom Literarischen weiter frei, das bis dahin noch hier und da in seine Wortfügungen hineinspielte; Metaphern, die vorgeprägt waren oder bei ihm assoziativ aufklangen. Die Ägäis ist ihm auch künstlerisch Offenbarung, der Raum, über den er nun souverän verfügt wie kein zeitgenössischer deutscher Lyriker sonst.

Die formende Kraft griechischer Meereslandschaft, ihre Klarheit, ihr schönes Gegliedertsein, ihre Offenheit sind bedeutsam. Der alte Gegensatz Natur-Kultur, hier ist er aufgehoben, hier wurde er zu einem einmaligen, unerhörten Zusammenklang gebracht. In dieser alten, jungen Landschaft erwuchs in einem schweren Prozeß voller Gefahr, Tragik, Scheitern und endlosem Mühen ein Gelingen, ein Maß für das Leben, die Dinge und das Handeln, das ganz des Menschen ist. Alles ursprünglich Wilde, Elementare, triebhaft Dunkle verschmolz ganz mit einer menschlich hellen Geistigkeit. Hier wurden von frühesten Tagen an selbst die Götter entdämonisiert, vermenschlicht… Auf diesem Inselreich spukte nicht ,erdgeisthaft‘ die grausige Macht des Blutes durch die – Geschichte. Das ward bereits bei den ,Müttern‘ vollzogen und beendet, in vorhistorischerZeit… Mythen und Sagen spiegeln diesen Prozeß der Bändigung des Rauschhaften wider.

Arendt hat mit solchen Sätzen seiner Bildband-Prosa Deutungen für manche „Dunkelheiten“ seiner Gedichte angeboten, die sich ja nicht diskursiv und interpretierend, sondern eruptiv und direkt aussagen. Was sie uns manchmal schwierig macht, rührt daher, daß ihrem Sprecher Fakten: und Symbole, geographische Gegebenheiten und antike Mythen vertraut und selbstverständlich sind, während sie uns Stück für Stück verlorengehen, nutzen wir nicht auch diese Begegnung, uns ihnen zu konfrontieren. Weil sich am Schicksal der Ägäis in dieser Dichtung Menschenschicksal ablesen läßt, denn ihr Bild der Antike meint ein Vor-Bild; ist nicht erbitterte Idylle oder Rückzugsprovinz – „Ferne, menschenlos, starr… also das Unheimliche, Gnadenlose… Unveränderliche, nicht Fortschreitende“ – sondern menschenmögliches Territorium,  ständig gefährdet, allem ausgesetzt bis zur Selbstzerstörung – immer wieder behauptet und verteidigt.
Kann man dem Entstehen eines Gedichts nachgehen? Arendt berichtet, daß ihm Verse vorschwebten, als er auf die Insel Naxos kam. Er bestieg einen Berg, unter sich Land und Meer, und hatte auf einmal das Gefühl, nur hier könne der sagenhafte Homer begraben liegen (obgleich er wußte, daß man das Grab im Innern der Insel Ios vermutet). Es war ein Tag, an dem das Wetter jäh umgeschlagen war, eine amerikanische Segeljacht hatte sich in den Hafen gerade noch gerettet vor dem tückischen Fallwind, der hier unvermutet einbricht – das Unverläßliche dieser Hemisphäre wurde transparent: man stieg wie einst in alter Zeit an Land – feuerrot die Netze der Fischer, der Hirt im zerschlissenen Mantel, er könnte aus homerischer Ära sein – archaisch und zeitlos Steinpfad, Berg, Wasser, dieser Morgen. Daß alles Persönliche, ja, Gegenwärtige verschluckt schien vom Schatten, der aus dem Meer stieg und mit eigener und zugleich fremder Stimme von dieser seltsamen ANKUNFT auf der Insel spricht. Denn so heißt nun das Gedicht.
Wir hätten es damit mühsam nacherzählt, ohne es doch in seiner Substanz nur annähernd nachvollzogen zu haben, weil es sich nur in seiner Sprechweise selbst offenbart: Worte, die aufeinander verwiesen sind; Verse, die plötzlich abbrechen – wie es einem das Wort verschlägt −, weiterstreben und so das Atmosphärische des Gedichts ausmachen, mitgesagt, unwiederholbar: Ankunft und Selbstbegegnung, Augenblick und Zeitlosigkeit – STUNDE HOMER, wie ein anderes weiter ausholendes Gedicht aus dem Buch ÄGÄIS genannt ist

Nimm in den Arm mich,
mein trauernder
Mut, den wohl der Flugstrich
der Schwalbe zerbricht, Mut
gegen den anbäumenden Berg,
das tausendköpfige
Finster!………..
……………………………..
− und unterm Tagstern
hebt wie eh
das Meerhaupt
hebt das alte
Entsetzen, und

Erinnern geht
durch die Hohlader Zeit −

(„Stunde Homer“)

3

 Lavagesichtig die Leiber,
dünn, im Un-
fußbaren…

Erich Arendt hat das Gedicht FEUERHALM – er sagt, es entstand auch unter dem Eindruck der Formen Alberto Giacomettis – dem Grafiker Altenbourg gewidmet, und es nähert sich seltsam einem graphischen Blatt, nur daß Worte, nicht Linien es bilden.
Das Gedicht verläuft wie manche Dichtungen der letzten Jahre in mehreren Längsachsen, um die poetischen Schichten auch optisch, typographisch hervortreten zu lassen. Es bilden sich Wort-Felder – ganz im Sinne der Sprachwissenschaft −, wo ein Wort das andere nachzieht, sich neuer Wortklang und -sinn durchsetzt, Worte das Skelett der Sprachfigur sind. Beschreibende Weitschweifigkeit, ausmalende Farbigkeit fehlt ganz. Vers-Sätze brechen abrupt ab. Es bleiben nur bestimmende Konturen wie Strich und Schraffur der strukturbildenden Zeichnung.
Arendts Dichtung stand immer unter dem Einfluß bildender Kunst, seit der Zeit, da er selbst noch Zeichenlehrer war und Plastik und Malerei ihm auch für das Gedicht Erlebnis, Gegenstand, ja Beispiel wurde.
Er hat versucht, den Bewegungstrieb der Venus des Expressionisten Archipenko in Sprache umzusetzen, die tierhafte Anmut der Pferde zu erfühlen wie Franz Marc, Breughel, Rembrandt, Goya, der Maler David inspirieren als Realisten das Gedicht, das im Sonett von den Händen des spanischen Bauern Sebastian wie mit scharfem Messer in Holz geschnitten scheint, das in den Bildern aus den Tropen mit Wortfarben nicht geizt; erzählende Breite ist immer auch malerisch schwelgend, ähnlich wie auf den Leinwänden des Malers Wiedemann, die er seitdem in seinen nur das Haus wechselnden Arbeitszimmern hat. Berühmte Bildeinfälle, Porträts, Valeurs sind Arendt nicht Reminiszenzen, wie es bei oberflächlicher Lektüre täuschen kann, sie projizieren, was Wirklichkeit auslöst: Goyas Angst, Rembrandts Altersgesicht, Chagalls Träume – Situationen, die man sich zuruft wie Kennzeichen und Losungsworte:

… dem die Welt zerbrochen,
von neuem gelang, Picasso

Kunst tritt sinnlich in den Vers zeitlebens; wird zur poetischen Größe; tritt in der Gestalt des KOUROS allen minotaurischen Gewalten entgegen.

… nacht-
schmale Blüte des Mundes,
ein Zeichen, leichter doch
schwerer als Mohn
als Gefels: geschlossenen Augs
ein Lächeln, fast
wie am höhlenden
Tod vorbei:
aaaaaÜber uns
schwebend, im stierhäuptgen
Dunkel, die Doppelaxt
Mond eisiger
Zeitgang,
immer noch
in roten Ästen Glas-
licht, die erkalteten
Augen.

(„Kouros“)

„Nicht mehr Gegenstand sein der Götterwillkür“, sagt Arendt, wenn er die archaische Gestalt des Jünglings, des Kouros von Melos interpretiert, die, noch unterm Zeichen der Doppelaxt, dem herrschenden Mondkult, doch den Ewigkeitsmythos zerbricht. Auf ihrem Antlitz „ein Lächeln, das die Angst, die magische Urangst noch weiß und nicht mehr kennt, ein erstes befreites Menschenlächeln… Heroisch: denn des Menschen Urbeginn, karnal, wild dunkel, kann jeden Augenblick wieder hervorbrechen… diese mitgestaltete Gefahr gibt den Kouroi die ungemeine innere Spannung.“ Arendts Gedicht KOUROS ist Elegie, weil es die Dynamik nicht nur nachzeichnet, wie im Wiedergestalten

Hand die
blutet

sondern zugleich als Zeichen versteht, „Elevation“ unserer Wirklichkeit an „zukünftiger Entfaltung des Menschen“ schmerzlich zumessen. Arendt sieht in der Kunst der griechischen Archaik die Erstarrung des perspektivischen Raums zum erstenmal gesprengt. Er setzt diese WeItsicht in eine kühne Analogie zur „sphärischen Raumgestaltung“ in heutiger bildender Kunst, begonnen in der Malerei bei Cézanne – und überträgt dieses Prinzip auch auf das Gefüge seiner Verse, die nicht nur „mental-rational“ gelesen sein wollen, auch begriffen wie ein Blatt moderner Grafik, weil ihnen – nicht als ,elitäre‘ Marotte, doch als Aufriß erstarrter Poetik – die Symbiose mit den anderen. Kunstgattungen notwendig wurde.
Arendt lebt in seinem Arbeitszimmer mit den Bildern seiner Zeitgenossen Werner Gilles, Altenbourg, Loewig, Carlfriedrich Claus. Er ist der Herausgeber des Bandes WORT UND GESTALT (1958), widmete Verse den Bildhauern wie Gustav Seitz oder Wieland Förster, dessen NlOBE sich aus dem Stein herauszwängt, Lithographie, die Arendt Strich für Strich, Stufe für Stufe im Gedicht mitzeichnet. Ihm wiederum könnten die Worte gelten, die Förster zu den sensiblen Zeichnungen von Paul Eliasberg geschrieben hat, dem – ähnlich wie Arendt – die griechische Inselwelt zum Medium wurde:

Nicht ausgegraben das Vergangene, Ferne, sondern… Struktur und Bildung findend, wachsend und wirkend noch in der Formung des Steines, des Lichts, apollinisch…

4
… eine Panazee könnten die Deutschen wohl brauchen, auch nach der politisch-philosophischen Kur; denn alles andre abgerechnet, so hat die philosophisch-politische Bildung schon in sich selbst die Inkonvenienz, daß sie zwar die Menschen zu den wesentlichen, unumgänglich notwendigen Verhältnissen, zu Pflicht und Recht, zusammenknüpft, aber wie viel ist dann zur Menschenharmonie noch übrig? Der nach optischen Regeln gezeichnete Vor- und Mittel- und Hintergrund ist noch lange nicht die Landschaft, die sich neben das lebendige Werk der Natur allenfalls stellen möchte. Aber die Besten unter den Deutschen meinen meist noch immer, wenn nur erst die Welt hübsch symmetrisch wäre, so wäre alles geschehen…
Hölderlin an den Bruder am 1. Januar 1799

Dichtung – auch wenn ihr im Vermögen des Einzelnen· ständig natürliche Grenzen gezogen sind – versteht sich immer universal. Sie kann sich, mit der Wiedergabe des Bestehenden allein nicht begnügen, sie versucht in unbekannte „Landschaft“ vorzudringen. Die „sphärische Welt“ nennt es Arendt und erläutert, „eine Humanität, die den unlöslichen Glauben an sich selbst hat und integral alles einbezieht, kann nur hervorgehen, wenn sie den Menschen mit allen seinen Gefühls- und Bewußtseinswelten als ihren eigensten und unveräußerlichen Wert, als ihr Zentrum hat.“ Vielleicht hat Arendt erst im letzten Jahrzehnt zu einer Dichtung gefunden, die das Poetische so versteht. Jedenfalls hat man ihn immer mißverstanden, wenn man seiner Lyrik Funktionen zuweisen wollte, die nicht ihr Anliegen sind, während man ihren Intentionen nur oberflächlich nachging. Dazu mag mancher Umstand erschwerend beigetragen haben. Arendt trat – bereits achtundvierzig Jahre alt – erst als Dichter hervor, nachdem man ihn in der Öffentlichkeit als den profunden Übersetzer lateinamerikanischer Lyrik von Guillén bis Pablo Neruda kennengelernt hatte, und sah ihn mit dem Band TRUG DOCH DIE NACHT DEN ALBATROS (1951) – ohne von seinen frühen Arbeiten Kenntnis zu nehmen – nur in Nachbarschaft zu diesen episch und hymnisch tendierten Aufbruchsgesängen eines Kontinents. Man las seine Spaniengedichte der BERGWINDBALLADE (1952) – niedergeschrieben über ein Jahrzehnt zuvor – für den unmittelbaren Kampf bestimmte Verse mit dem dokumentarisch-rhetorischen Gestus des Augenzeugen, und stand befremdet vor dem „Ausflug ins Menschenlose“ in GESANG DER SIEBEN INSELN (1957), der sich nicht auf gesellschaftlich determinierte Ereignisse direkt bezog. Doch politische Entscheidung – er trat 1926 der KPD bei und wurde Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller – war Arendt vor allem lebensnotwendige Voraussetzung, die Welt durch Sprache darzustellen. Sein frühes Gedicht FOLTERUNG (Szantó und Genossen) zeigt es an, und immer dann verwirklicht er sich als Dichter am glücklichsten, wenn er die „soziale Frage“ zugleich als Aktion der Menschen zu ihrer Selbstbefreiung in Schmerz und Aufbegehren begreift. Mit Gegensatzpaaren „politisch, aber alltagsabgewandt, sozialistisch, aber zivilisationsscheu“ kann man das nicht erfassen. Arendt ist kein politischer Sänger, kein didaktischer Aufklärer. Das Wort Politik, auf ihn angewendet, hat am ehesten mit seinem griechischen Ursprung zu tun: dem Gemeinwesen, der Völkerrechtsgemeinschaft verpflichtet, wie Solon es verstand, der politische Neutralität als Vergehen mit dem Entzug der Bürgerrechte bestraft sehen wollte und seine Gesetzgebung – in Elegien verteidigte:

Keiner ist glücklich der Sterblichen, keiner; kummerbelastet
Ist das ganze Geschlecht, welches die Sonne bescheint!

Stücke wie SPRUCH; NACH DEM PROZESS SOKRATES; ELEGIE lassen sich durchaus als Anmahnungen verstehen, tragisches Geschehen und Entsetzen, deren historische Fakten und Ursachen bisher nur wenig geklärt sind, wachzuhalten, ohne Beschwichtigung, im Ton der Trauer, die dem Dichter dann bleibt.
Arendt vertraut sich in seinen Elegien – und das sind diese späten Gedichte meist – jedoch nicht blind und unbehaust einem Geschick an, das uns willenlos zum Spielball von Mächten und Leidenschaften macht. Er unterscheidet sich – bei mancher Affinität zur Sprache Paul Celans – als sozialistischer Lyriker von den absoluten Elegikern ebenso, wie er sich mit einer „symmetrisch“ gedachten Welt als Dichter nicht abfinden kann.

aaaBlut-
aaakehliges
aaaGestern,

hinab-
spülen
den klebrigen
Schluck.
aaaaaaaWar einer
umarmt?
aaaaaaaBei Tag
wer sind wir?

(„Niezurück“)

Die Frage steht mit seinem Gedicht vor uns. Gedicht, das die Zwiesprache mit unserer Zeit auf mehreren Ebenen führt. Daß Wirklichkeit und erinnerte wie vorausschauende mythische Deutung ständig in Streit miteinander stehen. Dialog zwischen Erkanntem und Noch-zu-Erkennendem. Prozeß, der keine „Lösung“ kennt, nur das Potential Mensch.

aaaaa… Zeit Zeit!
aaaaagrabende unter uns in uns,
aaaaaklagumklag Stein. Wohin, mein
aaaaarasender Zorn…
Einer nur, nacht-
geschlagen sein Aug,
hob
die Träne
aaaaaaadie wog
wie Menschenmut und
Verbrechen, Tod −
und – Tod. Da erst
begann
das Singen:
aaaaaaaaaaSpätfels
Geduld!

(„Stunde Homer“)

Gerhard Wolf, Nachwort

 

Erinnerung an spanische Tage

Die ehrlich denkenden Deutschen, wie Erich Arendt hatten es doppelt schwer, nachdem Hitler die Macht ergriffen hatte. Sie wurden aus ihrer Heimat vertrieben und im Ausland mußten sie die gegen die Deutschen zu Tage tretenden Vorurteile erleiden. Es gab Perioden und Orte, wann und wo die Deutschen verachtet und gehaßt wurden. So war es 1938 in Spanien, 1939 in Polen, 1940 in Frankreich und danach in der Sowjetunion und überall in der Welt. Diese Welle der Verachtung, deren letzte Stimmen noch heute zu hören sind, begann mit Guernica, setzte sich mit Coventry fort und endete bei Berlin. Ungemessen und ungerecht ist jedes kollektive Urteil, wann immer und wen immer es betrifft. Die Menschen neigen aber leider dazu: die Völker unserer Zeit akzeptieren leichter die Losungen als die Logik oder die Rationalität, und neigen immer mehr zu kollektiver Urteilsbildung sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Viele meiner Freunde und Verwandten litten und starben unter den Greueltaten des deutschen Faschismus oder von dessen Vorfahren der Barbarei: dem ungarischen Weißen Terror. Trotzdem konnte ich mich nie der Stimmung kollektiver Vorurteile anschließen. Wenn die Deutschen um mich geschmäht und beschimpft wurden, dachte ich an die Deutschen, von denen ich wußte, daß sie nicht so sind. Hauptsächlich dachte ich an meine deutschen Freunde in Spanien und unter ihnen besonders an Erich Arendt.
Wenn ich mich richtig erinnere, lernte ich ihn 1935 kennen. Er war ein antifaschistischer deutscher Dichter, er kam als politischer Emigrant nach Barcelona und auch ihm wurde kein leichtes Leben zuteil. Wir haben uns schon vor dem Bürgerkrieg eng befreundet. Ich wurde von seinem intensiven Gefühlsleben, von seinen abwechslungsreichen Stimmungen und von seiner geistreichen Sprechweise äußerst beeindruckt. Damals und dort hatte es weder ein Dichter, noch ein Deutscher, aber schon gar ein Antifaschist besonders gut. Im wahrsten Sinne des Wortes mußte man für das tägliche Brot hart arbeiten, und es gab auch an Arbeitsmöglichkeiten keine große Wahl. Erich hielt stand: er arbeitete, schrieb in seiner geringen Freizeit Gedichte, aber wenn er auch keine Gedichte schreib, war seine Sprechweise einem Vers ähnlich, so durchtränkt war sie von Gefühlen, die er in einer ganz neuen Form zum Ausdruck bringen konnte.
Ich sprach Wienerisch, für Erich war also mein Deutsch „schlampig österreichisch“, und er konnte es kaum fertigbringen, die Fehler meines Wortgebrauchs und meiner Ausdrucksart zu verbessern. Die deutsche Dichtung bedeuteten für mich Goethe, Schiller, Heine und Uhland, über die ich im Gymnasium lernte, und obwohl ich mit etwas komischer Aussprache lange und prahlend Teile aus HERMANN UND DOROTHEA und WILHELM TELL zitierte, kannte ich kein einziges Gedicht von deutschen Dichtern des 20. Jahrhunderts. Erich las mir aus den Gedichten von Kästner, Morgenstern, Becher, Hermlin und Maurer vor, aus seinen Gedichten trug er aber sehr selten und nur nach langer Überredung vor. Meine deutschen Sprachkenntnisse, meine Aussprache, meine Kenntnis in literarischen, besonders in dichterischen Fragen habe ich ausschließlich ihm zu verdanken. Natürlich hatten wir auch Privatleben. Neben ihm stand Katja – „die schwarze Köchin“ −, die aus sehr wenig Geld wunderbare Gerichte hervorzaubern konnte. Die Möblierung ihrer Wohnung war originell: dort gab es einfache aus farbfrohen Brettern gefertigte bauhausartige Tische, einfache, geflochtene Stühle aus Mallorca, Regale und einen „Emigranten Schrank“ – bei Arendt habe ich soetwas das erste Mal gesehen. Er bestand aus ein paar in einer Ecke aufgestellten Latten auf denen Leinenplatten vom billigen Stoff, aber von geschmackvollen Mustern, gespannt waren.
Wir waren jung, Erich 33, ich 25, und vor uns stand das Leben, das bunte, aufregende, neuartige spanische Leben mit ungewohnten Geschmäcken, Stimmen und Düften. Ich lebe mit der Beklemmung eines Jungen vom Lande, Erich mit dem tapferen Schwung eines Mannes von der Großstadt, bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges.
Dann kam der 19.7.1936. Unser Leben hat sich im Grunde geändert. Der Krieg hat jedermann umgeformt, äußerlich und innerlich. Wollten wir oder nicht, wir wurden alle Soldaten. Erich blieb aber auch jetzt Lyriker, er schrieb Gedichte, in denen er mit seinen Gefühlen wie mit Kugeln aus einem Gewehr den Feind, den Faschismus beschoß.
Später dachte ich oft an ein Kästner Gedicht:

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten…

Es endete aber:

zum Glück haben wir ihn verloren.

Für uns bedeutete es Unglück, unseren Krieg zu verlieren, aber nach einem alten spanischen Sprichwort steckt in jeder schlechten Sache auch etwas Gutes. So konnten wir uns nach dem verlorenen Krieg und nach jahrzehntelangem Exil in Südamerika in Budapest wieder treffen.

Stefan Haraszti, aus: Gregor Laschen und Manfred Schlösser (Hrsg.): Der zerstückte Traum • Für Erich Arendt, Agora Verlag, 1978

Erich Arendt

Der Lyriker Erich Arendt, der seit seiner Rückkehr aus dem Exil (1950) in Ost-Berlin lebt, ist zunächst als hervorragender Nachdichter spanischer Poesie bekannt geworden: Wir verdanken ihm die deutschen Fassungen der Gedichte etwa von Hernández, Alexandre, Guillén, Alberti und vor allem von Pablo Neruda. Das eigene lyrische Werk Arendts, das einigen Einfluss auf die junge Autoren-Generation in der DDR gehabt hat, ist in seiner Entwicklung überschaubar, seit der Hinstorff Verlag (Rostock) 1968 einen Sammelband mit Gedichten aus fünf Jahrzehnten vorlegte; eine westdeutsche Auswahlausgabe war bereits 1966 bei Rowohlt erschienen.
Erich Arendt, der 1903 in Neuruppin geboren wurde, ist als Lyriker zeitlebens für literarische Einflüsse empfänglich gewesen. Seine ersten Gedichte, in Herwarth Waldens Sturm veröffentlicht, sind geschrieben in der expressionistisch geballten Diktion August Stramms. Nach seinem Beitritt zur Kommunistischen Partei (1926) machte ihm Johannes R. Becher klar, dass solche lyrische Esoterik mit politischem Engagement schwer vereinbar sei. So schwieg Arendt zunächst einige Zeit und versuchte sich dann Anfang der dreissiger Jahre in einem Klassizismus, der in Form und Haltung von Hofmannsthal, George, Rilke und Trakl bestimmt war.
Erst in der Emigration und im Spanischen Bürgerkrieg fand Arendt eine eigene lyrische Sprache. Seine zuvor allzu glatten Verse wurden aufgerauht in balladesken Poemen, in denen der Dichter politisch Stellung nahm, Unterdrückung, Ausbeutung und Folter beim Namen nannte und den verzweifelt Kämpfenden Mut zusprach. Nach Francos Sieg ging Arendt nach Frankreich, wo er sich bis 1941 versteckt halten konnte, danach gelang ihm die Flucht nach Kolumbien. In der exotisch-unvertrauten Landschaft Südamerikas gewann sein Gedicht bislang unbekannte Bildräume hinzu, die Sprache wurde freier, die lyrische Form weitausschwingend.
Zurückgekehrt nach Deutschland, in die DDR, verschrieb sich Arendt nicht der politischen Gegenwart. Zunächst gestaltete er noch einmal die grossen Themen aus Spanienkrieg und südamerikanischem Exil. Nach einer Zeit des Verstummens dann, in der er sich der Uebertragung spanischer Poesie widmete, entstanden neue, vordergründig unpolitische Gedichte: Verse, die wie Nerudas grosse Gesänge Landschaft und Natur in Bilder bannen, deren eher melancholisch-dunkler, zur Resignation neigender Ton jedoch sehr verschieden ist von der lichten Heiterkeit und dem überschäumenden Temperament Nerudas. Verschlossener, härter gefügt und syntaktisch verschlungener sind dann die vom Beginn der sechziger Jahre an geschriebenen Gedichte: eher an Hölderlin und auch an Celan orientiert als an den spanischen Poeten. Bei aller Esoterik allerdings deutet sich in einigen dieser neueren Gedichte eine neue Hinwendung zur Gesellschaft an.

J.P.W., Die Tat, 23.7.1976

 

DIE GROSSEN, HERRENLOSEN SCHIFFE
Für Erich Arendt

Unwiderruflich: die gesetzten Zeichen,
Nicht einholbare Segel herrenloser Schiffe.
Durch nichts und niemanden zu streichen
Im dunklen Logbuch der Begriffe.

Was war, wird sein. Die leichte Hand
Durchmorst das große Alphabet
Schon ohne Hoffnung, vor die Wand
Des Schweigens sie ins Abseits dreht.

Was war, wird sein. Es überdauert
Der Raum die Zeiten, die sich wenden.
Und wo das Schweigen ihn ummauert,
Ziehn Schiffe auf, die Zeichen senden.

Die großen, herrenlosen Schiffe
Mit weißen Segeln, nicht zu reffen,
Im dunklen Logbuch der Begriffe
Unwiderruflich anzutreffen.

Jürgen Rennert

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + ReclamIMDb +
Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK

 

Zum 50. Geburtstag des Autors:

Uwe Berger: Zwei Dichter unserer Zeit. Zum 50. Geburtstag von Peter Huchel und Erich Arendt
Aufbau, Heft 4, 1953

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Helmut Ullrich: Lobpreis irdischer Schönheit. Zum 60. Geburtstag des Schriftstellers Erich Arendt
Neue Zeit, 13.4.1963

Georg Maurer: Erich Arendt zu seinem 60. Geburtstag
Sonntag, 15.4.1963
Nachgedruckt in: G. M., Essay I. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1968

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Günther Deicke: Dichter und Weltfahrer. Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Berliner Zeitung, 16.4.1968

Elke Erb: Erich Arendt zum 65. Geburtstag
Sonntag Nr. 16, 1968

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Günther Deicke: Poetische Sprache unserer Solidarität. Erich Arendt zum 70. Geburtstag
Neues Deutschland, 15.4.1973

Günter Gerstmann: Der geistigen Welt der Väter verpflichtet
Neue Zeit, 15.4.1973

Hinstorff gratuliert seinem Autor Erich Arendt zum 70. Geburtstag
trajekt 7, VEB Hinstorff Verlag, 1973

Zum 75. Geburtstag des Autors:

J(ürgen) Sch(midt): Ein lähmendes Gefühl ist das. Dem Dichter und Übersetzer Erich Arendt, fünfundsiebzig Jahre alt, zu Ehren
Stuttgarter Zeitung, 16.9.1978

Gregor Laschen/Manfred Schlösser (Hg.): Der zerstückte Traum. Für Erich Arendt zum 75. Geburtstag
Agora, 1978

H. U.: Kunde von Siegen und Niederlagen durch die Poesie
Neue Zeit, 15.4.1978

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hubert Witt: Der flutharte Traum. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sinn und Form, Heft 2, 1983

Hans Marquardt/Hubert Witt: Himmel und Erde. Erich Arendt zum 80. Geburtstag
Sonntag, 17.4.1983

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Uta Kolbow: In Raum und Zeit
Berliner Zeitung, 15.4.1988

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Uwe Grüning: Erinnerungen an Erich Arendt
Ostragehege, Heft 30, II/2003

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 12 + KLG + UeLEX +
Kalliope
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