Ernst Jandl: Ernst Jandl und sein Gedicht „WIEN : HELDENPLATZ“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Ernst Jandl und sein Gedicht „WIEN : HELDENPLATZ“ aus Ernst Jandl: Laut und Luise. –

 

 

 

 

ERNST JANDL1

WIEN : HELDENPLATZ

der glanze heldenplatz zirka
versaggerte in maschenhaftem männchenmeere
drunter auch frauen die ans maskelknie
zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick.
und brüllzten wesentlich.

verwogener stirnscheitelunterschwang
nach nöten nördlich, kechelte
mit zu-nummernder aufs bluten feilzer stimme
hinsensend sämmertliche eigenwäscher.

pirsch!
döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz
mit hünig sprenkem stimmstummel.
balzerig würmelte es im männchensee
und den weibern ward so pfingstig ums heil
zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte.

 

Ich schreibe verschiedene Arten von Gedichten.

„wien : heldenplatz“, schrieb ich im Juni 1962, als ich nach einer längeren Pause die Produktion von Gedichten wieder aufzunehmen versuchte. Mein Beruf als Lehrer verhindert es, daß ich literarisch unproduktive Zeiten als Zeiten des Nichtstuns genieße, oder verabscheue. Dementsprechend ist der Übergang zu neuer Produktion erschwert, und erleichtert. In diesem Fall begann ich mit der Überarbeitung von früherem Material, bis ins Jahr 52 zurück. Daneben ergab sich einiges komplett Neues, darunter „wien : heldenplatz“.
Stoff dafür war die Erinnerung an eine Begebenheit aus dem Frühjahr 1938. Die Jahreszeit wird im Gedicht durch das Wort „pfingstig“ fixiert. Ich stand, 14jährig, auf der Wiener Ringstraße, nahe dem Heldenplatz, eingezwängt in eine Menge, die zu einer Kundgebung gekommen war. Eine direkt vor mir stehende Frau protestierte laut gegen eine unbeabsichtigte, und in dem Gedränge unvermeidliche, Bewegung meines Knies, durch die sie sich belästigt fühlte. Das prägte die Szene ein, und ergab 24 Jahre später die Zeilen: „drunter auch frauen die ans maskelknie / zuheften heftig sich versuchten, hoffensdick.“ und „und den weibern ward so pfingstig ums heil / zumahn: wenn ein knie-endet sie hirschelte.“
Als Zentrum dieser von primitiven Regungen umspülten Situation steht, ohne Namensnennung, Hitler im Gedicht, charakterisiert in Erscheinung und Diktion: „verwogener stirnscheitelunterschwang / nach nöten nördlich, kechelte / mit zunummernder aufs bluten feilzer stimme / hinsensend sämmertliche eigenwäscher.“ – Individualisten.
Das Fischfangmotiv „versaggerte in maschenhaftem männchenmeere“ und das Tiermotiv, mit dem Wort „wesentlich“ als menschlicher Marke, „und brüllzten wesentlich“, wird am Schluß zum Jagdmotiv erweitert, vom signalartigen „pirsch!“ über „gottelbock“, „balzerig“, „knie-ender“ bis „hirschelte“.
Ohne das expressionistische Pathos zu übernehmen, wurde hier für die Wortbildung aus der Praxis der Expressionisten Nutzen gezogen, während die Syntax dieses Gedichts sich mit der Syntax der Umgangssprache deckt. Einen Schritt weiter zu tun, durch Deformation oder Reduktion der Syntax, hätte die Spannung innerhalb des Gedichts verringert. Diese Spannung ist die Spannung zwischen dem beschädigten Wort und der unverletzten Syntax. Das Gedicht gehört zu den spätesten in meinem Buch Laut und Luise. Die meisten schrieb ich zwischen 1956 und 58. Damals war meine Arbeit, wenn man vereinfacht, nach Dada, Gertrude Stein und den beiden Exponenten der Wiener Gruppe, die mich am stärksten beeindruckten, Artmann und Rühm, orientiert. Als ich 1962 die Produktion wieder in Gang brachte, versuchte ich diese Zeit zu überspringen und dort anzuschließen, wo der erste Arbeitsabschnitt, 1952 bis 55, abgebrochen war. Ich suchte nach Möglichkeiten, einfache, durchsichtige, gegenstandsbezogene Gedichte in Umgangssprache zu schreiben, wie früher, als ich von Autoren wie Brecht, Prevert und Sandburg gelernt hatte; womöglich knapper, konzentrierter, intensiver. Eine damals frisch erschienene Anthologie, Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, brachte mich wieder auf Expressionismus und Dada.
Mein lyrischer Proviant zwischen 1938 und 43, als Gymnasiast, hatte aus je drei Gedichten von Stramm, Wilhelm Klemm und Johannes R. Becher bestanden, aufgefunden in einer Gedichtsammlung aus dem Jahr 1926. Eines, „Lied“, von Johannes R. Becher, wirkte auf Dauer.

LIED

Stern ob Straßenbündel
weht dein Angesicht.
Winde krumme münden.
Schwarm der Häuser dicht.

Licht-Fontänen sprießen.
Sonne tönt hier laut.
Rieseln Flöten-Tiere.
Mensch kreist hoch im Raum.

Ausspann Wiesenhände!
Nacken Gletscher-Berg.
Lippen Hügel-Länder.
Aug so Wald-Traum wirkt…

Abgesehen von Bechers expressionistischem Pathos, erblicke ich in diesem Gedicht eine Voraussetzung für mein eigenes „amsterdam“, aus dem Jahr 1956:

AMSTERDAM

1
die haus stiehlst zum mütze.
an wäre kalten die fagott
den türe schneidest vors apothekerin.
ob würde nassen das flöte.

2
der schwesterchen klapptet die löwe
schief zur veilchen kleines kuckuck.

3
ein männer kittest in bord
was frosch vorn des zifferblatt zum poliertes biene.

4
ans abend salziges fürs polizist
blättertest das birne auf die profilschmalz
zu an ob treffen amsterdam die vogel
das turm des frau sträubtest zum sonne.

Ähnlich dem Expressionismus verbunden wie „wien : heldenplatz“, ist „amsterdam“, in der Methode, die Umkehrung des ersten. Dort wurde das Wort verändert, die Syntax belassen; hier ist, ausgenommen das Kompositum „profilschmalz“, jedes Wort der Umgangssprache entnommen, aber zwischen den einzelnen Wörtern besteht eine Beziehung syntaktischer Unvereinbarkeit. Das ergibt die Spannung, ohne die ein Gedicht nicht auskommt. Als dritte Kraft wirkt die semantische Komponente, die in einem Schwebezustand gehalten wird. Der Leser kann, nach Belieben und Vermögen, ein Zusammenspiel der Wortbedeutungen feststellen, oder nicht. Das Gedicht ist jenseits des Entscheidungspaares Deutbarkeit-Nichtdeutbarkeit angelegt.
Ein älteres, aus dem Jahr 1954 und dem gleichen Motivkreis wie „wien : heldenplatz“, hat mit diesem eine Berührungsstelle. „der glanze heldenplatz zirka“, das ist „ganz“ und „glanz“ in einem, strahlende Totalität. Im älteren, „Der Offiziersbewerber“, stehen „ganz“ und „glanz“ zwar in Beziehung, aber auf Distanz.

DER OFFIZIERSBEWERBER

Gib’s aus dem Mund, da wird man
krank davon,
sagte die Mutter zu ihrem bazillentragenden Kind.

Steck die Nase nicht so hinein, du willst doch auch einmal
Offizier werden,
sagte der Vater zu seinem brillentragenden Sohn.

Der Kurs ist vorüber, jetzt
geht es an die Front,
schrieb das Kind heimwärts, angeregt von der väterlichen Glanzzeit.

Wie komm ich da bloß wieder
ganz heraus?
fragte sich der Mann, angesteckt von der mütterlichen Gesundheit.

In der jüngeren Produktion, nach Laut und Luise, reizt oft die Möglichkeit äußerster Kürze, wie in dem monolithischen

spruch mit kurzem o
ssso

Stellvertretend für den Satz „das wärs“ oder „das hätten wir geschafft“, ist das Wort „ssso“ ein Klischee aus der Alltagssprache. Durch den Titel wird es seiner trivialen Funktion enthoben und zum poetischen Objekt erklärt: ein Beispiel für die Melioration von Sprache durch Dichtung.
Spruchartige Formen benütze ich immer wieder, nicht um sie ad absurdum zu führen wie hier, sondern auch in ganz anderer Absicht. So etwa, um zu versuchen, Standpunkte zu fixieren, auch gegenüber der Dichtung. Daß hier ebenfalls die Zeit des Heldenkults vorbei ist, ohne daß Dichtung deshalb weniger emsig betrieben werden müsse, sagt der Spruch „Zeichen“ aus dem Jahr 1953.

ZEICHEN

Zerbrochen sind die harmonischen Krüge,
die Teller mit dem Griechengesicht,
die vergoldeten Köpfe der Klassiker –
aber der Ton und das Wasser drehen sich weiter
in den Hütten der Töpfer.

Mit einem Echo-Effekt arbeitet ein als Sprechgedicht angelegter Spruch, der gleichfalls einen literarischen Standort anpeilt; als Gedicht übers Gedicht mir angemessener als irgendein theoretisches Geflecht.

risch
risch
risch
risch
lüüüüüüüüüüü

gisch
gisch
gisch
gisch
traaaaaaaaaa

flisch
flisch
flisch
flisch
tooooiiiiiii

sisch
sisch
sisch
sisch
muuuuuuuuuuu

4-strophig sozusagen, gleichzeitig 4-wortig, wogend, stellen 4 Kriterien hoher Poesie sprechend sich selbst dar, das Lyrische, Tragische, Dämonische und die musische Kuh.
Sprachliche Mittel dieser Art erlauben eine Parteinahme, die durchdringt, ohne penetrant zu sein.
Nicht unverwandt diesem, zeigt ein anderer Spruch, woran es in der Dichtung, und nicht nur in ihr, meines Erachtens mangelt:

wo bleibb da
hummoooa
wo bleibb da
hummmoooooa
wo bleibb darrr

hummmmmoooooooooa
darrr kööönich vonn
hummmmmmmmoooooooooooooooooa
rrrrr

Aus gelegentlicher Erfahrung mit Lyrik-Kennern weiß ich, was zum schlimmsten gehört, das einem Gedicht widerfahren kann: der Versuch, es so zu benützen, wie es nicht benützt werden kann, und dies dann dem Gedicht anzulasten; ein Angriff also auf seine Identität. Das demonstriert das Spruchgedicht:

URTEIL

die gedichte dieses mannes sind unbrauchbar.

zunächst
rieb ich eines in meine glatze.
vergeblich. es förderte nicht meinen haarwuchs.

daraufhin
betupfte ich mit einem meine pickel. diese
erreichten binnen zwei tagen die größe mittlerer kartoffeln.
die ärzte staunten.

daraufhin
schlug ich zwei in die pfanne.
etwas mißtrauisch, aß ich nicht selber.
daran starb mein hund.

daraufhin
benützte ich eines als schutzmittel.
dafür zahlte ich die abtreibung.

daraufhin
klemmte ich eines ins auge
und betrat einen besseren klub.

der portier
stellte mir ein bein, daß ich hinschlug.

daraufhin
fällte ich obiges Urteil.

Sich über Dichtung zu äußern und dabei innerhalb der Dichtung zu bleiben, unternimmt auch eine Reihe von Texten, die ich als „Leerformen“ bezeichne, Formen, in denen nichts drin ist. Für die Spruchdichtung war eine solche der „spruch mit kurzem o“. Eine visuelle Variante ist die Arie, die man sehen muß; sprechbar wieder die Leerform der „moritat“ – von einer charakterisierenden aufreibenden Länge und Monotonie; schließlich die aus dem Gattungsnamen selbst gewonnene Leerform des Sonetts, das durch diese Reduzierung auf sein Wesentliches in einem eigentümlichen Glanz zu erstrahlen beginnt; 14 Zeilen, mit den klassischen Abschnitten 4, 4, 3, 3, in den Reimen vereinfacht, oder artistisch gesteigert, in den Zeilen, der leichteren Konsumierbarkeit wegen, auf jeweils einen jambischen Versfuß verkürzt. Hier wird meine Stellung zum Sonett klar und dessen Brauchbarkeit für die moderne Dichtung offenbar.

SONETT

abnett
benett
ernett
annett

danett
esnett
genett
janett

imnett
obnett
dunett

innett
wonett
zunett

Das Ungenügen am Erreichten ließ mich nicht ruhen, ehe ich eine zweite Fassung dieses Sonetts hergestellt hatte. Sie lautet:

sonett
sonett
sonett
sonett

sonett
sonett
sonett
sonett

sonett
sonett
sonett

sonett
sonett
sonett

Hier noch weiter zu reduzieren, schlösse den Kreis zum „ssso“, das sich nunmehr nach seinem verlorenen Titel auf die Suche machen könnte.

Ernst Jandl, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

 

Lautgedicht, Poème objet, Buchstabengedicht

hat Jandl mit Witz durchschossen, – so pädagogisch der Gymnasiallehrer Ernst Jandl auch sein mag; – locker gehalten, so streng Ernst Jandl auch mit sich selbst theoretisch umspringt; dazwischen Feststellendes, „du warst zu mir ein gutes Mädchen“. Der Satz wird fremder, je öfter er wiederholt wird. Wenn durch Abwandlung seiner Vokale seine Farben verändert werden, kommt ein Liebesgedicht aus nicht ganz gebräuchlichen Anreden zustande. Oder Anreden für nicht ganz gebräuchliche, aber oft gebrauchte Gegenüber:

hohe gegenstände
werte gegenstände
geehrte gegenstände
verehrte gegenstände
erlauchte gegenstände
sehrgeehrte gegenstände

sehrverehrte gegenstände
hochzuverehrende gegenstände

Die formulierte Welt mit halbem Ohr hören, und so das Zeremonium verquer stellen, heißt doch wohl: die Welt anders zusammensetzen, sie schräg von unten oder halbwegs links von oben sehen, – heißt doch wohl: in diesem Moment sie erst einmal wieder: sehen. (Dafür hat Jandl viele Methoden; z.B. die Diskrepanz zwischen Schrift- und Lautbild auszunützen.) – Nicht von ungefähr ist Jandl der feinspürige Übersetzer von Robert Creeley, nämlich von dessen Roman Die Insel.
Es ist demgegenüber ein sehr pädagogischer, programmatischer Hinweis, wenn Jandl von seinen Schriften sagt:

Ziel meiner Arbeit, heute wie früher, sind funktionierende, lebendige, wirksame Gedichte, gesteuert, von welchem Material immer sie ausgehen und in welcher Form immer sie hervortreten, – gesteuert von dem, was in mir ist an Richtung und Neigung, an Freude und Zorn. Was ich will, sind Gedichte, die nicht kalt lassen.

Diesen letzten Satz hat Jandl immer wieder praktiziert durch sein Vortragstalent und -engagement, z.B. in London, in der Albert Hall.

Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00