Ernst Jandl: Zu Wilhelm Klemms Gedicht „An der Front“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wilhelm Klemms Gedicht „An der Front“ aus Wilhelm Klemm: Ich lag in fremder Stube. 

 

 

 

 

WILHELM KLEMM

An der Front

Das Land ist öde. Die Felder sind wie verweint.
Auf böser Straße fährt ein grauer Wagen.
Von einem Haus ist das Dach herabgerutscht.
Tote Pferde verfaulen in Lachen.

Die braunen Striche dahinten sind Schützengräben.
Am Horizont gemächlich brennt ein Hof.
Schüsse platzen, verhallen – pop, pop, pauuu.
Reiter verschwinden langsam im kahlen Gehölz.

Schrapnellwolken blühen auf und vergehen. Ein Hohlweg
Nimmt uns auf. Dort hält Infanterie, naß und lehmig.
Der Tod ist so gleichgültig wie der Regen, der anhebt.
Wen kümmert das Gestern, das Heute oder das Morgen?

Und durch ganz Europa ziehen die Drahtverhaue,
Die Forts schlafen leise.
Dörfer und Städte stinken aus schwarzen Ruinen,
Wie Puppen liegen die Toten zwischen den Fronten.

 

Zur Zerstörung des Krieges

Kaum hatte im August 1914 der Erste Weltkrieg zu wüten begonnen, wurde der dreiunddreißigjährige Kommissionbuchhändler und Dichter Wilhelm Klemm aus Leipzig, ein ausgebildeter Mediziner, der diesen Beruf sechs Jahre früher zwecks Übernahme des väterlichen Betriebs aufgegeben hatte, als Arzt an die Westfront beordert, wo er aus erster Hand eine Reihe von Kriegsgedichten, darunter das Gedicht „An der Front“, schrieb, die in der deutschen Dichtung ihresgleichen suchen und ihn für einige Zeit berühmt machten, was nicht verhinderte, daß er im Jahr seines Todes, 1968, als Dichter beinahe vergessen war.
1941, im sechzehnten Lebensjahr, Schüler an einem Wiener Gymnasium, in einer Klasse ohne nationalsozialistischen Kern, wußten wir, was auf uns zukam. Wir kannten unsere Bestimmung als Kanonenfutter und bezeichneten sie mit ebendiesem Wort. Mit dem Gedicht „An der Front“ konnten wir etwas anfangen, sofern es überhaupt Gedichte für uns gab. Dieses kam von außen, nicht durch Unterricht in die Klasse. Es gab verborgene Winkel, in denen etwas übrig war von der Welt, die man uns vorenthielt. Die Entstehungszeit des Gedichtes war uns bekannt aber nichts daran war Vergangenheit, alles paßte genau auf den gefürchteten, verhaßten Krieg jetzt, wir selbst noch Schüler, fanden uns darin enthalten, in unserer Ohnmacht und unserem Fatalismus.
Der Ablauf des Gedichtes entspricht der Besichtigung eines Kriegsschauplatzes, nüchtern und distanziert; bald von einer Anhöhe aus, bald von Wald umschlossen; dann ein nur in der Vorstellung möglicher Blick auf einen ganzen Kontinent; dann, wieder näher, ohne den Boden nochmals zu berühren, die Vogelperspektive des Schlusses – nicht daß der Boden jetzt verlorengegangen wäre, aber die ihn berührten, waren hingestreckt.
Unmittelbarkeit wird an allen Stellen angestrebt und erreicht, jede Nachdenklichkeit vermieden, als in diesem Stadium unangebracht. Ein Trupp von Fußsoldaten, in einem Augenblick der Ruhe, provoziert ein schweres Wort über den Innenzustand dieser Männer. Das Ich des Dichters, als des Leiters der Besichtigung, ist an einem Punkt im Wort „uns“ mit enthalten, sonst ausgespart; seine Stimme, und Geste, tritt ein einziges Mal hervor, im Wort „dahinten“. Worüber nicht zu vergessen ist, daß alles hier Mitgeteilte als mitgeteilt erscheinen muß von einem, der es sich schon zu Beginn zu sagen versagt hat, die Felder, einfach, seien „naß“, und der die Straße, auf der sie sich, und damit wir uns, befinden, ungeachtet jeder bloß ästhetischen Erwägung schlicht als böse bezeichnet.
Für das Kriegsgedicht, müßte je wieder einer eins schreiben, ließe sich aus diesem lernen: die Vermeidung des Reims – Krieg reimt auf Sieg; die Vermeidung des Gleichschritts eines regelmäßigen Metrums; die Vermeidung einer, wie man sagt, gehobenen Sprache (sie bewegen sich bäuchlings, auf Ellbogen und Knien „robbend“, über das Schlachtfeld); die Vermeidung von jeglichem Glanz – Trakl, „Grodek“:

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt

et cetera, et cetera. Der Krieg ist grau, schwarz, stumpf, lehmig, verfault, stinkend – Trakl:

Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.

Hier treffen sich Georg Trakl und Wilhelm Klemm.

Das Moment der Diskrepanz – mit „gemächlich“ als einer Spur von Idylle dem Wort „aufblühen“ als einem Anflug von Schönem und mit „herabgerutscht“ als einem Rückgriff aufs tägliche kleine Malheur – ist Klemms schärfster und wirksamster Beitrag zur Zerstörung des Krieges durch das Gedicht.

Ernst Jandlaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunter Band, Insel Verlag, 1985

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