Eugen Gomringer: Zu Eugen Gomringers Gedicht „hängen und schwingend hängen und schwingend…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eugen Gomringers Gedicht „hängen und schwingend hängen und schwingend…“. –

 

 

 

 

EUGEN GOMRINGER

hängen und schwingend hängen und schwingend
hängen und wachsen und schwingend hängen
und hinunterwachsen und schwingend hängen und
hinunterwachsen und den boden berühren und
schwingend hängen und hinunterwachsen und
den boden berühren und darüber hinweg suchen
und schwingend hängen und hinunterwachsen
und den boden berühren und darüber hinweg
suchen und keine stelle finden und schwingend
hängen und hinunterwachsen und den boden
berühren und darüber hinweg suchen und keine
stelle finden und wachsen und schwingend
hängen und hinunterwachsen und den boden
berühren und darüber hinweg suchen und keine
stelle finden und hinaufwachsen und schwingend
hängen und hinunterwachsen und den boden
berühren und darüber hinweg suchen und keine
stelle finden und hinaufwachsen und nachwuchs
treiben und schwingend hängen und
hinunterwachsen und den boden berühren und
darüber hinweg suchen und keine stelle finden
und hinaufwachsen und nachwuchs treiben
und hängen und schwingend hängen und
hinunterwachsen und den boden berühren und
darüber hinweg suchen und keine stelle finden
und hinaufwachsen und nachwuchs treiben und
schwingend hängen

 

hängen und schwingend hängen

wahrscheinlich ist dies mein einziges gedicht, das ohne unterbruch einmal zum ende kommt. es beginnt mit hängen und endet mit hängen. wenn ich es lese mit wenigen atemzügen wird deutlich, dass sich der text selbst vorwärts treibt durch das und, aber auch der inhalt findet nur kurzen halt und will zum nächsten. auffallen mag, dass das schwingend hängen immer wieder der ansatz ist für eine unerwartete fortsetzung. es ist eben nicht nur das hängen, es ist auch ein schwingend hängen. vielleicht hat sich der hörer auch bald ein bild über diesen vorgang gemacht: es geschieht etwas, das von diesem schwingend hängen ausgeht und wiederholt darauf zurückkommt. dazwischen liegt aber der folgende vorgang: ein wachsen, ein hinunterwachsen, den boden berühren, darüber hingweg suchen, keine stelle finden, hinaufwachsen, nachwuchs treiben.
wer auf die beschreibung des wachstums einer kletterpflanze reagiert, wer hört, was ihr geschieht, wer den vorgang mitempfindet, nimmt teil an diesem gedicht. es ist der versuch, den natürlich zu beobachtenden vorgang mit worten rhythmisch zu wiederholen. ich selbst empfinde den lebensvorgang dieser pflanze als vom optimismus der natur getragen, aber auch konfrontiert mit dem pessimismus des nichtgelingens. der natürliche vorgang, das natürliche vermögen des schwingend hängens wird abrupt gestoppt durch eine sperre am boden, so dass keine offene stelle für das pflanzenhafte suchen zu finden ist. aber was macht die pflanze? sie wächst hinauf, treibt nachwuchs und bleibt im schwingenden hängen. sie wird es wieder versuchen, irgendwo eine offene stelle zu finden.
die natur kennt keinen punkt, kennt nicht unsere grammatik. sie kennt nur das und. es braucht keine künstliche tragik, keine dramatik der erfindung, es genügt die beobachtung der welt der natur im zusammenprall mit der welt der menschen. mein hörer und mein leser begegnet mit diesem gedicht nicht zum ersten mal der beobachtung und beschreibung eines natürlichen vorgangs. ich habe den wind und die möven beobachtet. ich habe beobachtet, dass das schweigen von zeit zu zeit eintrifft, uns übernimmt, stärker als alle anderen regungen. ich setze meine mittel ein, die worte, die sätze. von der natur zu lernen ist, dass sie stets im übergang ist. und dazu haben wir das einzigartige wort und.

Eugen Gomringer, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Nimbus, 2018

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