Günter Eich: Nach Seumes Papieren

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Günter Eich: Nach Seumes Papieren

Eich-Nach Seumes Papieren

SPÄTER

Erfahrungen abdrehen
und ungehemmt
zählen bis
93, auch weiter.

Jedenfalls
für die Silvernacht
1999
bin ich verabredet.
Weiter im Gebirge, auf
einem Kanapee,
freue mich, man hat
wenig Abwechslung.

 

 

 

Heinz F. Schafroth: Die Gedichtbände Zu den Akten, Anlässe und Steingärten und Nach Seumes Papieren

 

Günter Eich

Gelassen vernimmt er
das Gerücht aus den Wäldern
die Tore des Paradieses würden geöffnet.

Es ist vielleicht noch zu früh, Erinnerungen an ihn aufzuschreiben, und ich wünschte, es bliebe weiterhin zu früh für Erinnerungen an einen wie Günter Eich. Der Zurückhaltung und Stille, die von ihm ausging, entsprach seine Stimme, sie kann nach seinem Tod nur deutlicher werden:

Ich weiß von nichts wie man es macht, das Leben, die Danksagungen, die Versammlungen…

Seine Stimme beim Sprechen, deutlicher noch beim privaten Vorlesen von Gedichten, wenn kein Publikum ihr Anstrengung abverlangte: äußerst zurückhaltend, nachdenklich, sorgfältig lesend, mit einer feinen Schwingung von Melancholie, die den Zuhörer nicht belastete (Eich war einer der wenigen Menschen, die das Wort Trauer aussprechen konnten, ohne Befremden zu erregen). Diese Art zu sprechen habe ich auch bei Peter Huchel festgestellt und bei anderen, mit Eich befreundeten Autoren der dreißiger Jahre. Woran liegt es, daß ihre Stimmen und Tonarten sich über eine lange Zeit hin so erstaunlich ähnlich waren, ein diskretes Moll, viel Zweifel darin und Zurücknahme, Bescheidenheit – vielleicht weil die expressionistische Epoche vorbei, die große Gebärde nicht länger glaubwürdig war; oder weil Eichs Generation, in ihren Anfängen kaum politisch orientiert, die kosmisch-magischen Überlieferungen fortsetzte oder erneuerte und ihrem Lebensgefühl keinerlei Pathos entsprach; weil Naturlyrik, von der Günter Eich in vielem ausging, eine leise Tonart verlangte (und es versteht sich von selbst bei Günter Eich, da dies kein deutsches Raunen, kein circensisches Flüstern war); weil mit Gedichten nichts an die große Glocke gehängt werden konnte, während das Dritte Reich alles Sprechen fragwürdig machte.
1966, an einem Nachmittag aus Hitze und Meerlicht, in einer Restaurantlaube auf Gorée, der Sklaveninsel vor Dakar, saß Günter Eich unter seinem kleinen, fast biedermännisch-komischen Konfektionshut und trank Wein an einem Marmortisch; es waren auch ein paar andere Leute da, und es wurde gesprochen, aber nicht viel (wenn einer eine Reise macht, dann kann er nichts erzählen, sagte Ilse Aichinger). In einem Augenblick völliger Stille bemerkte Eich:

Ach ja – ein Glas Wein – an einem Marmortisch!

Er lächelte hintersinnig in die Gesichter und schwieg. Ich erinnere mich genau an den Wortlaut und an seine Stimme, weil in ihr etwas zum Ausdruck kam, was unüberhörbar in seine Stimme und mehr und mehr zu seinem Wesen gehörte: eine hellsichtige und abgründige Ironie. Ich bin sicher, daß der Wein ihm schmeckte, die Schönheit eines ruhigen, leichten Augenlicks seinem Temperament durchaus entsprach. Aber vielleicht lag etwas zu leichthin Schönes in diesem Moment, VERDÄCHTIG, ein Zauber, gegen den er sich zur Wehr setzen mußte, weil er ihm von früher her vertraut war oder weil er Ergriffenheit fürchtete (tropisches Licht, Wein, Marmortisch und die Nähe des Meers). Der schöne Moment, anstatt ihn hinzureißen, forderte seine Skepsis, verschärfte sie. Es war ihm nicht möglich, den Augenblick anzunehmen, WIE ER IHM ZUFIEL, KUPFERN UND GOLDEN, UNANGETASTET VON VERSTEHEN UND OHNE ZEIT. Und es war ihm auch nicht ohne weiteres möglich, die Erfolge anzunehmen und seinen Ruhm, der ihm jederzeit erlaubt hätte, arriviert zu sein, was er in keinem Augenblick seines Lebens war, er hätte nicht gewußt, wie man das macht. Seine Ironie, sein Spielgeist und seine Heiterkeit – findig, vertrackt, inspiriert und souverän – waren notwendig gegen die Bodenlosigkeit der Einsichten und Erfahrungen, ein Versteck für die Trauer, vor allem notwendig gegen ein fortwährendes tragisches Lebensbewußtsein, das ihm wenig Zuversicht erlaubte, NICHT HEILBAR. Sie waren notwendig gegen das Altwerden, zu dem er schon früh in einem schwierigen Verhältnis stand. Seine Ironie hat schmerz-, witz- und weisheitverdrehte Antiparolen geschaffen, die manchem heute zuständiger oder einleuchtender erscheinen mögen als die Spruchbänder des Superklassikers Brecht. Sein genialer Spürnerv für Sprache ging zwischen die Zeilen und ertappte Unsinn, Nebensinn, Stiefsinn, Falschsinn. Sein Wünschelrutengeist strich in der Sprache umher und brachte verquere (und erschütternde) Formeln ans Licht, lyrische Querschläger, knappe eigentümliche Bricolagen, die Tiefsinn, Illusionen und Ideologien versäuerten. Mit Ironie bewaffnete er sich immer mehr, Waffe eines sehr Verletzlichen, der nicht anders konnte, als das Entsetzen der Existenz und der Zeit auf sich zu nehmen, OHNE SEINEN BESUCH IN RUHE ZU ERWARTEN. Ironie war, über das Spiel hinaus, in den letzten Jahren wohl sein verläßlichster Flügel. Sie war seine Schanze, hinter der er mit seiner Sprache zu existieren versuchte, wenn kein fünfter Korn mehr half und alle denkbaren Zusammenhänge, von ihm durchschaut und zerstört, auseinanderfielen und im babylonischen Wörterbuch nur Verzweiflung zu entziffern war. Sie machte Kleinholz aus Schwermut, Überdruß und Erschöpfung. Sie verhalf ihm zu Prosastücken von gnatzig-bizarrer, radikaler Aufsässigkeit; kaleidoskopische Miniaturen, Notizen für Bartlebys Enkel – er ist bis zuletzt ein schöpferischer Mensch, ein hintergründiger Komiker, ein mit niemand vergleichbarer Autor gewesen, und es ist wunderbar, daß ihm die Zerstörung dessen, was jahrzehntelang für ihn Gültigkeit hatte, nur wieder auf authentisch dichterische Weise gelingen konnte. Gottfried Benn meinte, daß Phantasie beim Schreiben von Gedichten nichts zu bedeuten habe, aber Günter Eich hat vorgeführt, mit immer wieder neuer Energie, daß Phantasie aus vorgegebenen Mustern hinausführen konnte in eine neuartige Magie. Er hat die Sprache dorthin gebracht mit einer eigenen Kraft, wenn Kraft als die Fähigkeit verstanden wird, sich zu widersetzen, nichts auf sich beruhen zu lassen, Brüche, Widersprüche und Zeiten des Schweigens zu überwinden, auszuhalten, und immer wieder neu anzufangen. Dieser von Welt und Weltgeschehen belastete und ständig in Frage gestellte, seine Arbeit immer wieder in Frage stellende Mann hat mehr als andere ausgehalten, das steht mal fest. Sein Leben wäre leichter gewesen, wenn er in seinem Werk ein Genügen, einen stetigen Rückhalt gefunden hätte. Aber er war nicht der Mensch, es sich leichtzumachen.
Er wollte und konnte keine offizielle Rolle spielen. Alleinsein, Geduld und Verzicht waren für ihn natürlicher als Auftritt und Einflußnahme. Machtlosigkeit – in ihr lag vielleicht die anhaltende und nachdrückliche Überzeugungskraft seiner Existenz begründet. Es ist behauptet worden, er sei weise gewesen, aber ich glaube nicht, daß er weise war. Jedenfalls wollte er nicht weise sein. Weisheit – er hätte seinen Verdacht gegen sie angemeldet; sie wäre ihm zu anmaßend vorgekommen. Er zog ein kritisch-paradoxes Vokabelspiel den Plakaten und Sentenzen vor, und anstelle von Verkündigungen zitierte er aus dem Alten Brehm.
Ich traf ihn zuletzt in Berlin an einem Wintertag. Er stand versteckt in Mantel, Bart und Brille auf einer Treppe, ziemlich klein, doch unübersehbar, gänzlich eingeschlossen in sich selber, aber mit heiterem, fast neugierigem Gesicht. Er sah an der Sonne vorbei in das dünne Licht und sagte wenig, lächelte lieber. Wir standen eine Weile beieinander in der Sonne und sagten eigentlich nichts, ganz selbstverständlich. So habe ich ihn zum letztenmal gesehn, vielleicht in einem Augenblick OHNE ZEIT und UNANGETASTET VON VERSTEHEN.

Christoph Meckel, Siegfried Unseld (Hrsg.): Günter Eich zum Gedächtnis, Suhrkamp Verlag, 1973

Vermessungsstäbe bilden den Gottesbegriff

Wer mit dem Entsetzlichen gut Freund ist,
kann seinen Besuch in Ruhe erwarten.
Wir richten uns immer wieder auf das Glück ein,
aber es sitzt nicht gern auf unsern Sesseln.

I
Günter Eich, der zu den Schlüsselfiguren der westdeutschen Nachkriegspoesie gehört, war ein anarchischer Schriftsteller, den das Unrecht empörte: die soziale Ungleichheit nicht weniger als die ontologische Misere:

Ich bin engagiert gegen das Establishment; nicht nur in der Gesellschaft, sondern in der ganzen Schöpfung.

Diese Erklärung, die der Dichter gegen Ende seines Lebens abgab, ist die Ablehnung quasi aller Dimensionen und Möglichkeiten des Lebens. Das radikale Statement nährt seine Verzweiflung aus einer metaphysischen Desillusionierung, die bei Eich früh begonnen haben muß, die aber erst mit dem monologischen Hörspiel Man bittet zu läuten und mit dem Gedichtband Zu den Akten, beide 1964 erschienen, unversöhnliche Schärfe erlangte:

AUSKÜNFTE AUS DEM NACHLASS

Nach dem Kalkofen befragt:
Iltisse wohnen dort
und freundliche Mädchen.

In den Schutthaufen
Anfänge von grauem Star,
die Schöpfung
nah vor der Lesebrille.

Ich höre wenig:
Die Gänge im Motor,
Hilferufe, wenn niemand ruft.

aaaaaImmer habe ich Brennesseln geliebt,
und jetzt erfahren,
daß sie nützlich sind.

Das Werk des Dichters war von Anfang an bestimmt durch ein Verlangen nach dem Absoluten. Eich konnte sich nur schlecht mit den gesellschaftlichen Verhältnissen abfinden: denen der Weimarer Zeit und denen der Hitler-Ära, in der er einige wankelmütige Kompromisse einging.
Auch in den Nachkriegsjahren, als er ein gefeierter Autor der Gruppe 47 wurde, irritierten ihn die allzu rasch verbindlich gewordenen neuen Normen, die nur wenig Spielraum für numinoses Empfinden boten:

Ich rate mir selbst, mich vor Tauben zu fürchten.
Du bist nicht ihr Herr, sage ich, wenn du Futter streust,
wenn du Nachrichten an ihre Federn heftest,
wenn du Zierformen züchtest, neue Farben,
neue Schöpfe, Gefieder am Fuß.
Vertrau deiner Macht nicht,
so wirst du auch nicht verwundert sein,
wenn du erfährst, daß du unwichtig bist,

daß neben deinesgleichen heimliche Königreiche bestehen…

Eichs Differenzen mit seinen (bald nur noch auf dem soziologischen Empfangsbereich ansprechbaren) intellektuellen Zeitgenossen wurden unübersehbar, als die Poesie von der immer rigoroser vorgehenden Bewegung der Neo-Aufklärung entweder total vereinnahmt oder aber als überflüssiges Relikt abgeschafft werden sollte:

Engagement mit dem Holzhammer ist nichts für mich.

Auch die zunehmende Radikalisierung seines Weltbildes, bedingt durch den voranschreitenden Glaubenszerfall, brachte diesen Autor nicht dazu, im parteiischen Kollektiv eine Geborgenheit zu suchen, die es dem Augenschein wie der kritischen Vernunft nach nicht gab:

nach dem Grundgesetz befinden wir uns auf dem Boden des Christentums.

Oder:

die Welt ist im Ganzen unglaubwürdig und im Einzelnen auch.

Die religiöse Komponente im Werk Günter Eichs, die ihn von dem modifizierten, dem literarisierten Pantheismus seiner naturmagischen Zeit in einem kontinuierlichen Säkularisierungsprozeß zur negativen Theologie seiner Maulwürfe und seiner Altersgedichte führte, war schon lange im Werk erkennbar gewesen, bereits 1952 in der Rede vor den Kriegsblinden und 1959 in der Büchner-Preis-Rede:

Im Grunde meine ich, daß […] es darauf ankommt, daß alles Geschriebene sich der Theologie nähert.

Und:

Daß die Wahrheiten platt und die Plattheiten wahr sind. Man könnte zum Trappisten darüber werden, aber es hilft nicht.

Eich bezweifelte, daß es jetzt oder in Zukunft eine Möglichkeit geben könne, der als Fortschritt bezeichneten linearen Entwicklung Einhalt zu gebieten, die den Menschen der Technologie und dem Totalitarismus ausliefert. Zwar forderte er am Ende seiner Träume (1950/1960) zum Widerstand auf, wenn er verkündete:

Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

Doch dieser noch in brechtscher Manier vorgebrachte politische Imperativ enthielt bezeichnenderweise nichts Konstruktives, keinen ins Pragmatische wendbaren Inhalt. Nicht ökonomische Theorien, Fünfjahrespläne und utopische Weltverbesserungsideen, die, wenn überhaupt, dann nur auf dem Fundament von Erziehungsdiktaturen zu realisieren sind, weckten das Interesse des Dichters, sondern die menschliche Problematik, unser aller befristete Existenz.
Die Revolte Eichs war – ähnlich wie die von Camus – ein moralischer Protest, der sich auch dann als nötig, ja als unumgänglich erwies, wenn nicht die geringste Aussicht auf eine Änderung der Verhältnisse bestand. Wie bei Rimbaud, Lautréamont und Benn zielte die Stoßrichtung durch die Geschichte hindurch auf eine Instanz transzendentaler Zuständigkeit, die als verantwortlich in Anspruch genommen wurde – auch für die politischen und sozialen Gegebenheiten.
Günter Eich hatte bis zum Ende der fünfziger Jahre das Schreiben als einen fortwährenden Annäherungsversuch an den Seinshintergrund angesehen. Es war ihm darum gegangen, subtile Tastbewegungen zu unternehmen und Teile jenes „Urtextes“ zu übersetzen, der in einer unbekannten Sprache abgefaßt ist:

Wir bedienen uns des Wortes, des Satzes, der Sprache. Jedes Wort bewahrt einen Abglanz des magischen Zustandes, wo es mit dem gemeinten Gegenstand eins ist, wo es mit der Schöpfung identisch ist. Aus dieser Sprache, dieser niegehörten und unhörbaren, können wir gleichsam immer nur übersetzen, recht und schlecht und jedenfalls nie vollkommen, auch wo uns die Übersetzung gelungen erscheint.

Die Intuition spielte für Eich eine weitaus größere Rolle als das diskursive Denken, das sich sogar, weil es Problemstellungen nur im Wirkungsradius des methodologisch Auflösbaren zuließ, dem Verdacht auslieferte, Gehilfe der Macht und der Mächtigen zu sein:

es gibt keine Fragen mehr […], es ist alles beantwortet, von der Schwangerschaft bis zur Hinrichtung. Es gibt nur noch Antworten. Sie werden mit Mengenrabatt abgegeben, so billig, daß man den Eindruck haben muß, es lohne sich nicht, zu fragen. Und es soll sich nicht lohnen.

Eich sah, im Osten wie im Westen, die fortschreitende Mechanisierung, die das Leben seelisch und geistig verkarsten ließ, zumal sie mit bedrohlichen administrativen Tendenzen einherging. So griff er Ilja Ehrenburgs Worte „Verziert die Peitschen nicht mit Veilchen“ auf und wandelte sie in seiner Büchner-Preis-Rede ab:

Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand […], dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien.

Die Opposition war ethisch. Gerechtigkeit, nicht Effizienz stand auf Eichs Programm.

Die Welt ist in ihrer Meßbarkeit erweitert, in ihrer Innigkeit verkleinert worden.

Innigkeit, Intensität des Erlebens gewann Eich lange Jahre hindurch, indem er die Sinnlosigkeiten des Daseins in Bezug zu einem Sinn sah, den er einfach voraussetzte und von dem er in den transparenten Traumbildern seiner Hörspiele und in seinen Gedichten sprach:

NACHTS

Nachts hören, was nie gehört wurde:
den hundertsten Namen Allahs,
den nicht mehr aufgeschriebenen Paukenton,
als Mozart starb,
im Mutterleib vernommene Gespräche.

Das Leben, wie Eich es in Botschaften des Regens (1955) verstand, war zwar verschattet, aber es hatte erfüllte Momente. Die Transzendenz gab Zeichen bis ins Immanente hinein. Sie war ein aus den Naturerscheinungen hervorleuchtendes Palimpsest, und sie sättigte die Zeit mit Liebe, die ihrerseits auf Anderes, Tieferes verwies – auf den gesamten Weltzusammenhang:

Wo bist du, wenn du neben mir gehst?

Die Geliebte, die Frau – Eich hatte 1953 Ilse Aichinger geheiratet – half, die Eindrücke des Krieges und des unmittelbaren Nachkrieges allmählich zu vergessen. Freilich blieben die Grundfarben, in denen sich das reichhaltige Gefühlsleben abbildete, weiterhin dunkel:

Landstraßen in den Schmerz,
Gewölk, das an Gespräche erinnert,
flüchtige Dörfer, von meinem Wunsch erbaut,
in der Nähe deiner Stimme zu altern.

Eros war nicht denkbar ohne die Anwesenheit von Thanatos. Schon früh, in den zwanziger Jahren, hatte Eich sich betroffen gezeigt angesichts der menschlichen Situation:

O ich bin von der Zeit angefressen und bin in gleicher
Langeweile vom zehnten bis zum achtzigsten Jahr.

Es wäre falsch, in solchen Versen nur Etüden zu sehen, formale Probestücke. Der junge Eich hat sich dem Vorbild Trakls untergeordnet (: „wenn Frühling ist oder der blaue Herbst, der nachmittags an die Scheiben klopft. / Dann geh ich vielleicht über den papierenen Waldboden“), weil Trakl ein Dichter war, der den eigenen Schwermutsempfindungen entsprach.
Eich richtete sich nie nach modischen Strömungen oder populär gewordenen Einzelpersönlichkeiten aus. Für ihn stand Schreiben unter dem Zwang, sich „in der Wirklichkeit zu orientieren“, und das hieß: mit der Zeitlichkeit, der Sterblichkeit fertig zu werden.
Weil Eich kein gläubiger Christ war, benutzte er für seine meditativen Zwecke narurlyrische Sujets. Später, in seinen Hörspielen, wandte er sich exotischen Femen, räumlichen und zeitlichen Traum-Nischen zu, besonders den Regionen des Morgenlandes, die ihm Zuflucht und Gelegenheit zu metaphysischen Erkundungen boten.
Eich hat das Dasein zunehmend als Verbalisierungsprozeß durchlebt. Und schließlich (in den beiden Kurzprosabüchern Maulwürfe und Ein Tibeter in meinem Büro, ja schon in seinem – die Welt nur noch solipsistisch „als Sekundärliteratur“ wahrnehmenden – Hörspiel Man bittet zu Läuten) reduzierte sich für ihn die Existenz zu nichts als Sprache: zu Wörtern und Sätzen, die ihm ungeheuer und bedrohlich wurden und gegen deren Totalität er sich nur verteidigen konnte, wenn er sie wirr verknüpfte, zu einem privat-mythologischen, oft schizothymen Idiom:

In den ophthalmologischen Lehrbüchern bis ins Detail beschrieben. Möchte, könnte, müßte. Meine Krankheit, eine Sehtrübung, Konjunktivitis. Mein Arzt verordnete mir einen Indikativ. Richtig, aber zu wenig. Indikative eßlöffelweise über den Tag verteilt. So hebt man die Welt aus den Angeln.

Oder, mit diagnostischem Ansatz:

Kaum habe ich einen Stuhl gefunden, öffnet sich die Tür und einer von beiden starrt herein, Vater Staat oder Mutter Natur.

Längst wirkte das Leben wie etwas Monströses, das einzig und allein geregelt schien durch einen Kanon stillschweigend hingenommener, doch auf Illusionen und Lügen beruhender gesellschaftlicher Übereinkünfte und pseudohumaner Spielregeln:

Ein kranker Schnee
und die in Tretbädern
leicht löslichen Patienten…

Die Erfahrungen, von denen Eich in seinen assoziativen – und manchmal auch nur kalauernden – Maulwürfen genauso Zeugnis ablegte wie in seinen Gedichtbänden Zu den Akten (1964) und Anlässe und Steingärten (1966), waren die eines Dichters, dem das Vegetabilische, die zeichenhafte Natur nichts mehr bedeutete.
Auch die Länder seiner Sehnsucht, die er jetzt auf Vorlesungsreisen besuchte, erwiesen sich als Trugbilder, als bloße Stimulantia einer Phantasie, die aus der Gegenwart auszuscheren versucht‘ hatte. Am 24.3.1967 schrieb mir Günter Eich in einem Brief:

Aus Teheran, Isfahan, Schiras zurück, auch aus Wien. Blättere im Westöstlichen Divan. Hafis war ein Asket, der Wein ein religiöses Symbol, bin ich belehrt worden. Traurige Reiseergebnisse. (Sie halten mich aber nicht vom Alkohol ab.)

Die Räume einstiger Zuflucht schrumpften zu Gebieten, die von der zivilisatorischen Entwicklung überrollt und durch den Tourismus zusätzlich verflacht wurden:

Palmyra
ist ein Zank um Trinkgelder,
Schwiegervater, Schwiegersohn,
die Oberfläche geht erdeinwärts,
Ablagerungen von flüchtigem Hölderlin…

Oder, als weiteres Beispiel für die zunehmende Entzauberung der Welt, hier ein Bonmot aus dem Hörspiel Blick auf Venedig in der facettierteren Version von 1960:

Früher war die Tischdecke aus Tausendundeiner Nacht, jetzt stammt sie aus dem Ausverkauf.

Sogar der Freitod wurde jetzt zum Thema – projiziert auf den amerikanischen Lyriker Hart Crane, der seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, 1932, als er sich bei der Rückkehr von einer Lateinamerikareise in den Golf von Mexico stürzte.

HART CRANE

Mich überzeugen
die dünnen Schuhe, der
einfache Schritt über Stipendien
und Reling hinaus.

Eichs naturmagische Ausschmückungen machten fortan konturierten Röntgenbildern Platz, und das Lyrische gerann zu Formeln, von denen einige, kürzer als Haikus, gelungener waren als die meisten Elaborate der politisch-didaktischen Literatur:

Lachreiz vor Säulen.

Oder, mit solidarischem Empfinden für den gescheiterten Südpolfahrer:

Dir, Scott, der zu spät kam!

Der Dichter widersprach weiterhin der Topographie einer schöneren Welt, die auf den Reißbrettern der Positivisten einen demagogisch-utopischen Charakter angenommen hatte:

Gib acht, wessen Stimme vor Rührung bebt,
wem es das Herz bewegt,
wenn der Walzenwechsel verkürzt wird
auf achtundzwanzig Minuten.

Den Reaktionären ebenso feind wie den euphorischen Progressisten, versuchte Eich weiterhin, den „Austausch von Wiesen und Wissen“ zu betreiben. Allerdings nahmen ringsum die Wiesen ab, während das Wissen, die Ent-Täuschung, zunahm.
Schon in einem Brief vom 22.12.1965 findet sich die Äußerung, daß das „Bedürfnis nach neuen Jahren gering“ sei. Die Verbitterung gegenüber der Umwelt wuchs, doch drückte sich in ihr nicht, wie man behauptet hat, eine schöpferische Krise aus. Eichs kreative Kräfte blieben durchaus wirksam. Die Krise war vielmehr auferzwungen, in ihr manifestierte sich der Reflex eines Künstlers auf eine kunstfeindliche Epoche – verbunden mit einem Temperatursturz im Bereich des zwischenmenschlichen Klimas:

Wenn das Auge schlechter wird,
geht man näher heran,
um die Freunde zu erkennen.

Setzt eine Brille auf,
benutzt Kontaktgläser
und bemerkt

ganz nahe
das Schwarze
unterm Fingernagel des Feindes.

Eich, von quälenden Selbstzweifeln geplagt, erlebte gegen Ende seines Schaffens, daß die Wegbereiter des neuen linguistisch-technizistischen Hörspiels ihm gegenüber eine zunehmend abweisende Haltung einnahmen.

Die Hörspiele liegen mir schon fern. Bis auf die letzten vier muß ich mich von allen distanzieren.

So in einem Gespräch mit Peter Coreth. Und schwankend beurteilte der Dichter nun auch seine Lyrik, über die er in einem Brief vom 24. Juli 1965 bemerkte, daß er sie „ebenso gut wie schlecht finden kann und sie in tristen Momenten nur als Ausdruck schizophrenen Verhaltens zur Welt begreife. (Warum auch nicht, sage ich im nächsten, besseren. Oder ist es der schlechtere? Da wäre wieder ein Ansatz zu einem Waage-Spiel: Immer rechts und links abwechselnd ein Gran zulegen. Ein Wage-Spiel. Oder ein Gramm – so geht wie in diesem Beispiel alles endlos fort.)“

II
Günter Eich hat hintersinnig gesagt:

Aus Briefen kannst du mich nicht lesen
und in Gedichten verstecke ich mich.

In der Tat erweist sich dieser Autor, den Walter Jens als einen „Meister der Tarnung“ apostrophiert hat, auch nach seinem Tode, da zahlreiche entlegene oder gar unbekannte Texte zugänglich geworden sind, als ein Mensch, der sich in einer Art poetischer Geheimschrift mit erstaunlicher Konsequenz zugleich verdeutlichte und entzog.
Der Dichter, der sich in persönlichen Gesprächen fast nur auf Nebensächliches einließ und der, konfrontierte man ihn unmittelbar mit existentiellen Fragen, zu ironischen Vieldeutigkeiten Zuflucht nahm, hat sogar seine Hörspiele als eine Art akustisch ausgestalteter Meditation aufgefaßt.
Eich wählte die (seiner eigenen Ansicht nach „geschwätzige“) Form des Hörspiels aus dramaturgischen Gründen. Das Hörspiel, im Gegensatz zum Theaterstück, läßt keine Pausen, kein stummes Agieren, zu. Es verlangt, daß fortgesetzt gesprochen wird. Das Reden freilich geschieht bei Eich auf eine besondere, eine gewissermaßen die Stille orchestrierende Weise:

Ich muß also schreiben, daß die Worte das Schweigen einschließen, d.h., es muß zwischen den Zeilen ebensoviel geschehen wie in den Zeilen.

Die Entwicklung Eichs ging von der Naturlyrik über die Hörspiele abermals zur Lyrik und dann zu den Maulwürfen, den illusionslosen Abbreviaturen und Assoziationsketten seiner letzten Lebensjahre.
Weil Kunst für den Autor stets ein Mittel moralischen Protests gewesen ist, konnte er sein schriftstellerisches Engagement mit dem Nachdruck eines Nonkonformisten begründen:

Lyrik ist überflüssig, unnütz, wirkungslos. Das legitimiert sie in einer utilitaristischen Welt. Lyrik spricht nicht die Sprache der Macht – das ist ihr verborgener Sprengstoff.

Dieses späte Credo, das sich in seiner Rigorosität durch nichts von den markantesten Sentenzen der Büchner-Preis-Rede unterscheidet, läßt sich in direkten Zusammenhang zu den Worten bringen, die Eich 1930 in der Zeitschrift Die Kolonne veröffentlicht hat, als er eine an fünfzig junge Schriftsteller ergangene Frage nach den eigenen Schaffenstendenzen dezidiert beantwortete:

Ich finde es gänzlich unter meiner Würde, mich für meine Gedichte zu entschuldigen und mich vor Leitartikeln zu verbeugen, und werde immer darauf verzichten, auf mein ,soziales Empfinden‘ hinzuweisen, selbst auf die Gefahr hin, die Sympathie von Linksblättern nicht zu erringen und selbst auf die noch furchtbarere Gefahr hin, nicht für ,heutig‘ gehalten zu werden.

Obwohl er dem politisch und ökonomisch verursachten Elend nie gleichgültig gegenüber gestanden hat, war Eich nicht bereit, die Misere des Menschen allein in den materiellen Relationen globaler Geschichtlichkeit zu sehen. Vielmehr drängte sich ihm, einem noch durch die ländlichen Weiten seiner Heimat geprägten Ostdeutschen, von Anfang an die Dimension ontologischer Komplexität beziehungsweise universeller Historizität auf. Determiniert durch seine Herkunft aus dem südlichen Oderbruch, bezog Eich seine ,naturrnagische‘ Dichtung lange Zeit hindurch auf die Bereiche einer durch Vegetabilisches und Animalisches versinnbildlichten Transzendenz:

Krähen schreiben mit trägem Flügel
eine Schrift in den Himmel, die keiner kennt.

Der Lyriker, der zunächst im Sprachschatten Trakls, Loerkes, Huchels, Benns und – später auch – Lehmanns stand, fand mit einigen Gedichten des Heftes Untergrundbahn von 1949 seine eigene Redeweise im Stil freier autonomer Verse:

Die Quecksilbersäule
schnellt hinauf und fällt in lautlos rasendem Wechsel.
Die Aggregatzustände verändern sich.
Häuser werden zu Flüssigem und der Rauch zu Stein.

Zwar hatten auch schon in Abgelegene Gehöfte (1948) beeindruckend originäre Texte gestanden, doch die exemplarischsten dieser Stücke, etwa „Inventur “und „Latrine“, sagten ihre traumatischen Nachkriegserfahrungen noch in tradierter Reim- und Strophenform her.
Erst als die kollektiven Schrecknisse lange genug durchlitten und auch sprachlich hinreichend bewältigt worden waren, trat der Autor vollständig in das Bedeutungssystem seiner persönlichen Erfahrungen. Allerdings könnte die subtile Methode akausaler Spurenentstellung, die Eich nun zur Verfügung stand, auf sehr viel ältere Erfahrungen zurückgehen… auf Anregungen, die der Dichter bereits Ende der zwanziger Jahre während seines SinologieStudiums in Paris erhielt, als er durch Philippe Soupault Einblick in die Geisteswelt und die Arbeitsweise der Surrealisten erlangte.
Wohl tendierte Eich selbst in Botschaften des Regens (1955) bisweilen noch dazu, die Erscheinungen der Natur für Zeichen jenseitiger Verlautbarungen zu halten; im allgemeinen jedoch dominierte von nun an eine andere Optik, herrschte eine skeptische Haltung vor, die ebenso wenig an eine sinnvolle Fügung des Weltganzen wie an die Möglichkeit der technischen Zivilisation glauben mochte:

Kleine Reparatur: Flammenstoß aus Karbid.
Es genügt ein Mann.
Ein Riß, sagt er, im Geländer der Brücke.

Eine Heftpflaster-Wunde.
So sagt er, um uns zu täuschen,
denn Krankheiten gehen um im Drahtsystem der Erde.

Lange bevor dem modernen Menschen die Umwelt zu einem ökologischen Problem geworden ist, hat Eich erkannt, daß die Sachverständigen aller Bereiche dabei waren, die Erde in eine Art „Biedermeier der Hölle“ zu verwandeln. Und weil der Autor zwischen dem, was die „Manager“ im Westen, und dem, was die „Kommissare“ im Osten taten, im Hinblick auf die letzten deprimierenden Auswirkungen keinen wesentlichen Unterschied sah, konnte er, der schon 1931 in einer Rezension gegen Johannes R. Bechers Der große Plan polemisiert hatte, auch jetzt nicht mit den Apologeten einer nur an politischer und volkswirtschaftlicher Effizienz orientierten Fortschrittsideologie kooperieren.
Eich – das belegen seine Reden und seine theoretischen Arbeiten ebenso wie seine künstlerischen Texte – hat sich in einem Prozeß schwerer psychischer Erschütterungen immer mehr von der Außenwelt zurückgezogen. So gelangte er über die beiden – bisweilen als mürrisch bezeichneten – Verssammlungen Zu den Akten (1964) und Anlässe und Steingärten (1966) zu seinen Maulwürfen, die ihrerseits fortgesetzt wurden durch die desillusionierenden Texte eines schmalen Lyrikbändchens, das 1972, kurz vor dem Tod des Dichters, im kleinen J.G. Bläschke Verlag unter dem Titel Nach Seumes Papieren erschien:

Links eine Straße zum Hafen. Nicht die Einwohner,
die Topographien sind entscheidend.
Der reformierte Kirchgang, rotweiße
Vermessungsstäbe bilden den Gottesbegriff.

In seinem letzten Lebensjahr versuchte Eich, der zudem auch mit dem Szenarium Zeit und Kartoffeln ein Comeback als Hörspielautor anstrebte, Kurzdramen zu schreiben. Mit diesem neuerlichen Gattungswechsel war gewiß der Wunsch verbunden, aus dem beklemmenden Zustand sprachlicher Verknappung und gesellschaftlicher Isolation wieder in kommunikativere Bezirke zu gelangen.

Der Dichter, dem das Leben fast nur noch Anstoß für verbitterte Stichworte und Kalauer war, sympathisierte jetzt mit Bakunin, dessen emotionsbetonter Anarchismus ihm wesensgemäßer war als der kühle Pragmatismus von Marx.
Eich, der überall nur „Zementregierungen und Betonstaaten“ damit beschäftigt sah, ihre Herrschaftsbereiche auszudehnen, beklagte, daß nirgendwo eine wirklich schöpferische Umgestaltung stattfand:

Zwischen Ural, Ruhr und Caracas nehmen die Ähnlichkeiten zu: Macht, Machtwünsche, Funktionäre, Schlüsselpositionen. Die Herrschaft über die Hände und die Herrschaft über die Seelen…

Diese Worte, die den Sachverhalt von Kooperation und verwalteter Welt aufs prägnanteste beschreiben, standen bereits in er Büchner-Preis-Rede; Eich, lebenslanger Fährtensucher des Utopischen, opponierte gegen die globale Ernüchterung:

ich erwarte Träume, in denen endlich etwas Neues auftaucht.

Das, was Eich künftig noch zu sehen bekam, war freilich nichts weiter als das (lediglich permutabel abgewandelte und bloß durch Propaganda beziehungsweise durch Reklame attraktiver gestaltete) längst Vertraute, immer schon Verhaßte.
Eich, der bereits in seinem Hörspiel Geh nicht nach El Kuwehd! von 1950 geargwöhnt hatte, daß die Gesunden nicht in der Lage seien, die Welt zu durchschauen, begründete die Tatsache, daß er sich selber „vom Ernst immer mehr zum Blödsinn“ hin entwickelte, mit dem Vorhandensein von all dem Unvernünftigen, das nach Ausdruck verlange.
In einem politischen und kulturellen Milieu, in dem sich fast alle als korrupt erwiesen, versuchte der Autor, die Rolle eines „Real-Demokraten“ und „Individual-Sozialisten“ zu reklamieren.
Eich arbeitete die Widersprüche zwischen Wirklichkeit und Idealität heraus – mit dem gespielt-unschuldsvollen Blick eines Nonsens-Strategen, der postulierte:

Jeder hat seine Wörter, mit denen er die Welt ordnet. Wenn man sie alle wüßte! Depressionen sind Bildungslücken. Ich will einen Theologen für mich denken lassen.

Der alternde Eich, der sich von seinen Ursprüngen abgedrängt fühlte („Oder, mein Fluß, / der keine Quelle hat…“), ließ nun die Logik an der langen Leine eines Neo-Dadaisten im Kreise laufen und entschädigte sich durch subversive Assoziations- und Denktätigkeit dafür, daß ihm die wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung tagtäglich weniger Raum für metaphysische Sinndeutungen ließ.

III
In Hilda, einem Hörspielfragment Günter Eichs, das 1953 bei der Gruppe 47 durchgefallen ist, sagt die Protagonistin:

Bin ich denn sicher, daß mein Leben chronologisch abläuft? Ist heute nicht vielleicht… übermorgen und morgen gestern? Es kann durchaus sein, daß ich mich an das Morgen erinnere und das Gestern erwarte. Aber ich bemerke es nicht und damit bleibt das Heute von verläßlicher Brauchbarkeit.

Eine solche Möglichkeit zeitlichen Ablaufs, wie Eich sie hier andeutet, war den Trendsettern der Gruppe 47 unverständlich. Sie hatten politische oder auch, später, sprachexperimentelle Vorstellungen von Literatur im Sinn, waren aber völlig unfähig, Logik und Kausalität in verqueren Denkzusammenhängen zu sehen. Die enge Hingabe an den Rationalismus verhinderte eine alineare Weltsicht, die sogar in den Naturwissenschaften zumindest als Außenseiterstandpunkt hatte Platz finden können, etwa bei dem Kommunikationsforscher Vilém Flusser, der konstatiert hat:

Die Natur ist nicht eine Verkettung von Ursache und Folgen, innerhalb welcher wir komplexe Kontexte noch nicht durchblicken können. Sondern die Natur ist ein chaotischer Kontext von Zufällen, worin wir zufällig unter anderem auch Kausalketten erblicken.

Eich, im Verlauf seines Lebens zunehmend enttäuscht über die Politik, die metaphysische Entzauberung, doch auch über die Beschränktheit des intellektuellen Milieus, fiel in einen Zustand der Depression. Mit der weltweit erkennbaren Zerstörung der Natur ging ein zunehmender Zweifel an transzendentaler Sicherheit einher:

So viel Biologie! In meiner Jugend hat man sich an einen kernigen Gottesglauben gehalten. Es gab nur Predigt und Choral.

Es waren solche Sentenzen, die seinen Hörspielen Bedeutung gaben – weit mehr als das (häufig exotische) Ambiente ihrer Schauplätze und das lyrische Kolorit ihrer Handlungsabläufe:

Am besten ist, man erfährt nur, was man weiß. Es stärkt den Glauben.

Eich war – ähnlich wie Benn, oder auch wie Beckett – ein Metaphysiker, dies aber in einer Epoche abnehmenden Glaubens und progressiver Verwissenschaftlichung. Ihm ging, wie er 1959 in Die Stunde des Huflattichs einer seiner Figuren in den Mund legte, „die Dezimalrechnung mit der Erbsünde“ durcheinander, und aus dieser psychisch-geistigen Dissoziation ergab sich eine Art Unschärferelation von irritierender Totalität. Hier, als beredter Beweis, ein Gedicht aus dem Nachlaß, das 1962, also zehn Jahre vor dem Tod des Dichters, entstanden ist.

NICHT GEFÜHRTE GESPRÄCHE

Vergebt meiner Wissenschaft,
daß sie nicht anwendbar ist.

Die Kausalität von Kalmus und Balken
(– windschiefe Geraden!)
ist gewiß, aber kein zweites Mal.

Eich hebelt gleichsam die Naturgesetze aus, die ihre Gültigkeit gerade aus dem Umstand ihrer beliebig häufigen Wiederholbarkeit beziehen: mit stets demselben Resultat. Bei ihm – wie in der Quantenmechanik – gibt es kein im Voraus bestimmbares Ergebnis. Seine Regel ist die Unregelmäßigkeit.
Immer wieder hat Eich davon gesprochen, daß der Dichter ein Übersetzer sei, auch dann „wenn das Original nicht zu verstehen ist“. Er glaubte an einen Urtext, aus dem es zu lesen galt. Das Weltall war für ihn mehr als eine kosmische Maschinerie, es war „Schöpfung“ (kein bloß physikalisches Zufallsprodukt).
Anfänglich erstrebt Eich eine von jeder Verlogenheit gereinigte Sprache, und erst später (nach der Erkenntnis, politische Macht sei zwangsläufig daran interessiert, „daß alle Kunst die Grenzen der Harmlosigkeit nicht überschreitet“) kam es zu jener inneren Zerrüttung, die eine Radikalisierung des Stils bewirkte.
Die Hörspielproduktion erlahmte, und die Lyrik wurde zugleich spröder und meditativer. Der Koreaner Kwang-Kyu Kim, der Eich übersetzt hat, hob dessen Annäherung an den Geist des Fernen Ostens hervor, eine Wandlung, die gewiß durch das frühe Sinologie-Studium vorbereitet worden ist, die aber auch wesensmäßig angelegt war – als Hang zur kryptischen Lakonie:

Surinam und die Raupen.
Erinnere dich, Merian
Maria Sibylla,
ich war das rechte
gebogene Nelkenblatt.

Der Ruhm Eichs, der die Goethe-Häuser veranlaßte, ihn als Botschafter deutscher Kultur in zahlreiche Länder verschiedener Erdteile zu schicken, hat freilich letztlich mehr zum Abbau seiner Illusionen als zur poetischen Bereicherung des Weltverständnisses beigetragen. Die realen Verhältnisse, die der Dichter antraf, zerstörten seine Phantasiebilder. Und in Deutschland geriet er, der berühmteste Vertreter des imaginativen Hörspiels, unversehens in den Schatten sprachfixierter Laboranten, die das sogenannte Neue Hörspiel durchsetzten, einen Typus, der, genau betrachtet, mit Becken, ja sogar mit dem gattungsmüde gewordenen Eich von Man bittet zu läuten (1964) zu tun hatte.
Auch als Lyriker kam Eich in Bedrängnis, durch Walter Höllerer, der 1965 mit seinen „Thesen zum langen Gedicht“ gegen kleinformatige Lyrik polemisierte – für Eich eine Herausforderung, einige Texte bis zu Einzeilern („Formeln“) zu verknappen sowie weitere Kurzpoeme unter den Zyklustitel „Lange Gedichte“ zu stellen, beispielsweise diesen Vierzeiler über mangelndes Leserinteresse:

In Saloniki
weiß ich einen, der mich liest,
und in Bad Nauheim.
Das sind schon zwei.

Eichs wachsende Wirklichkeitsverdrossenheit hing auch mit seiner Rückstufung im Wertekanon der Nachkriegsliteratur zusammen. Zunächst wollte er der abstrahierenden Moderne eine noch nicht existierende Sprache entgegensetzen. Dann jedoch, als er merkte, daß ein poetisches Idiom angesichts der „Sprache im technischen Zeitalter“ chancenlos blieb, zog er sich ins Hermetische und, danach, in die kalauernde Sinnlosigkeit seiner Maulwürfe zurück, in eine lingual verdrehte sophistische Wirrnis, mit der er sich 1967 ein letztes Mal vor die Gruppe 47 wagte – mit keinem guten Ausgang, denn viele, darunter Günter Grass, lehnten seine isolationistischen Texte ab und Marcel Reich-Ranicki sprach gar von „Altersblödeleien“.
Ein Jahr nach seinem Auftritt in der Pulvermühle bei Erlangen erkrankte Günter Eich ernsthaft. Der erste Preisträger der Gruppe 47 nahm somit auch an deren letzter Tagung teil, an einer Veranstaltung, die schon vernehmbar unter dem Gejohle der Achtundsechziger stattfand.
Der Dichter, der sich als Kind die Welt im Lexikon zusammenbuchstabiert hatte, löste sie in seinen Maulwürfen wieder in ihre Bestandteile auf:

Gegrüßet seist du, Vera Holubetz, Vorbesitzerin meines Wörterbuchs. Ein Name in Sütterlin auf dem Vorsatzpapier, Deutsch-Sütterlin und Süuerlin-Deutsch, eine kleine Auflage. Birne heißt Kummer. Vera heißt Holubetz. So verschieden sind die Sprachen.

Die Assoziationen hatten die Funktion von Übersprunghandlungen, und der Versuch, sich klein zu machen, war eine Deckadresse vor dem sich spürbar nähernden Tod:

Ich habe keine Wohnung, bloß ein Postfach, besuch mich da!

Eich starb am 10. Dezember 1972 in Salzburg. Auf dem Sterbebett hatte er um Zeichenblock und Stift gebeten und drei ungedeutete – und wohl undeutbare – chinesische Schriftzeichen hingekritzelt.
Zu mir hat Eich einmal gesagt, er habe alles, was mit China und dessen poetischer Kalligraphie zusammenhänge, vergessen. Doch hat er auch auf meine Frage, was er von Rimbaud halte, geantwortet, er habe ihn seit Ewigkeiten nicht gelesen und kenne ihn praktisch nicht mehr. Zwei Stunden später, als ihn Schüler nach seinem Lieblingsdichter fragten, antwortete er mit einem listigen Seitenblick auf mich:

Mein Lieblingsdichter? Rimbaud.

Eich, dieser alte Mandarin aus dem deutschen Osten, liebte Fragen mehr als Antworten, und wenn er sich auf etwas wirklich verstand, dann auf das Ausgestalten von Rätseln zu unauflösbaren Paradoxien:

Es ist alles so, wie es immer war. Nur bemerke ich, daß es nie so war, wie ich meinte.

Hans-Jürgen Heise, Erstpublikation von Teil I und Teil II in Hans-Jürgen Heise: Vermessungsstäbe bilden den Gottesbegriff, Verlag Ulrich Keicher, 1985. Dieser um Teil II erweiterte Artikel in Hans-Jürgen Heise: Rangierbahnhof fremden Lebens. Essays über 33 Schlüsselfiguren der Moderne. Wallstein Verlag, 2008

Ottobrunn, Rouen, Trapezunt. Günter Eichs Topographien

– Eine Skizze. –

Links eine Straße zum Hafen. Nicht die Einwohner,
die Topographien sind entscheidend.
(Günter Eich: „Nördlicher Seufzer“)

Wer sich mit den späten Gedichten von Günter Eich beschäftigt, sollte auf die hartnäckige Verweigerung metaphysischen Trostes und auf eine forcierte Desillusionierung gefasst sein. Kaum ein kanonischer Autor der deutschen Literatur nach 1945 hat so gründlich mit allen Hoffnungsbotschaften und Erlösungsversprechen aufgeräumt wie eben Eich, der seine Affinität zu allem „Finsteren“ nicht verbarg.1 Selbst die in der Hinwendung zum Medium Gedicht liegende Aussicht auf eine positive Utopie wird letztlich von ihm abgewiesen. Eine radikale ästhetische Negativität führt ihm die Schreibhand, eine Poetik der Unterwanderung semantischer Stabilität und der Aushebelung des „tiefen Ernstes“, der noch das naturmagische Konzept seines Frühwerks bestimmte. Stattdessen erklärte Eich in einem Interview von 1967, dass seine Aufkündigung des Einverständnisses mit der Welt und mit der Schöpfung auch ästhetische Konsequenzen hat: etwa durch das bewusste Zelebrieren eines schwarzen Humors, der jeder lyrischen Feierlichkeit die Grundlage entzieht. „Ich würde sagen“, so Eich in der habituell gewordenen Lakonie seiner späten Jahre, „ich habe mich vom Ernst immer mehr zum Blödsinn entwickelt, ich finde also das Nichtvernünftige in der Welt so bestimmend, daß es auch in irgendeiner Weise zum Ausdruck kommen muss.“2
Konsequent scheint also nach 1967 der Sprung aus den alten Gattungsordnung heraus in die opaken Geflechte der Maulwürfe, in denen sich die Verknüpfung der Sätze nach Maßgaben von Klangähnlichkeiten zwischen den Wörtern und nach Kalauern konfiguriert. Es verwundert nicht, dass die Literaturkritik von 1968 die Maulwürfe eher ratlos beäugte und sie als spätdadaistischen Nonsens missverstand. Die selbst gesetzte poetische Freiheit hat Eich auf seinem Sterbebett im Dezember 1972 noch einmal bekräftigt:

Ich will gar nichts mehr, ich will anfangen zu spielen.3

Ein zentraler Bestandteil dieses Eichschen Spiels ist die poetische Topographierung der Welt mit Hilfe von Landkarten, Stadtplänen und Ortsnamen, die im Spätwerk die für ihn probateste Form der Wirklichkeitsberührung darstellt. Die Eich-Forscherin Aura Maria Heydenreich spricht von einer „Poetik der Kartographie“4 als bedeutender poetologischer Konstante seines Werks und verweist dabei auf einen frühen Grundtext des Dichters, den er im Herbst 1933 anlässlich einer Umfrage der Literarischen Welt einschickte. Die Literarische Welt hatte einige Autoren gebeten, „frei aus dem Gedächtnis eine Erinnerung an ein Buch zu schreiben, das ihnen besonders bedeutungsvoll für ihr Leben vorkam“. Günter Eich schickte seinen 1932 entstandenen Prosatext „Eine Karte im Atlas“ ein.5 Es ist offenkundig ein Weltatlas, der zu den Basisbüchern Eichs gehört und den er in seinem Text als einen Ort der Verwandlung evoziert, als eine Karte, auf der durch die Berührung seiner Hände die einzelnen Landschaften, Regionen und Menschen zu leben beginnen und sich dann bezeichnenderweise zu einem finsteren Totentanz vereinigen. Das Ich des Textes rührt „an die Stille der Kontinente“ und daraus entwickelt sich eine gewaltige „Musik des Todes“, der sinnliche Kontakt mit der Landkarte Mittel und Ost-Asiens setzt eine katastrophische Natur frei und die Überreste einer durch menschliche Gewalt verheerten Landschaft. Die Einbildungskraft des Dichters öffnet hier also den Blick auf eine Menschheitsgeschichte der Gewalt, sein kartographischer Blick hebt die Grenzen zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Betrachtung auf und die Karte, die Welt, das Bild und die Phantasie werden eins.
Einzig dem Kartenleser, so schlussfolgert Heydenreich, gelingt noch die literarische Sinnstiftung, erst das Phantasiereich der Karte ermöglicht einen Weltentwurf.

Dieser poetische Entwurf der Welt via kartographischer Lektüre ist auch in der berühmten Vézelay-Rede Eichs „Der Schriftsteller vor der Realität“ antizipiert:

Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte […], die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren. Erst durch das Schreiben erlangen die Dinge für mich Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muss sie erst herstellen.6

Zu den trigonometrischen Punkten Eichs, also den Grundlagen für seine poetische Landvermessung, gehören so unterschiedliche Orte wie Hiroshima, der Ort des ersten Atombomben-Abwurfs in Japan, oder der Ryoanji-Tempel im Nordosten Japans als mystischer Gegen-Ort zur mörderischen Gewalt. Aber auch weniger prominente Örtlichkeiten wie die Städte Rouen, Trapezunt am Südufer des Schwarzen Meeres oder das Kleinstädtchen Ottobrunn bei München. Oder auch jene beiläufig eingestreuten Orte wie Saloniki und Bad Nauheim, die, folgt man der heiteren Logik des selbstironischen Gedichts „Zuversicht“, die trigonometrischen Punkte bilden, an denen eine Leserschaft Eichs nachgewiesen werden kann.7
Ortsnamen, so meine Lektüreerfahrung, können bei Eich zum Rettungsanker werden, auch als kryptische Chiffre, mit der sich die Welt aus den Angeln heben lässt.
Ein wichtiger Ausgangspunkt von Eichs topographischer Poetik lässt sich, zwanzig Jahre nach der programmatischen Prosa „Eine Karte im Atlas“, im Gedicht „Briefstelle“ aus dem Band Botschaften des Regens (1955) finden, das sich als eine lyrische Confessio der Verweigerung lesen lässt. Eichs Standortbestimmung beginnt hier mit einer melancholischen Einsamkeitsphantasie und der totalen Absage an jede Form von Gemeinschaftlichkeit. Das ich, das hier spricht, hat sich von allen Pflichten und Zumutungen befreit und kündigt den absoluten Rückzug ins Schweigen an. Keine aufregenden Lektüren stehen bevor, keine anregenden Gespräche. Was dem Ich bleibt, sind Selbstgespräche bei „grünem Wein“, Erinnerungen an die ferne Kindheit und schwindende Aussichten auf einen Aufbruch in den Süden, nach Portugal.

BRIEFSTELLE

Keins von den Büchern werde ich lesen.

Ich erinnere mich
an die strohumflochtenen Stämme,
an die ungebrannten Ziegel in den Regalen.
Der Schmerz bleibt und die Bilder gehen.

Mein Alter will ich in der grünen Dämmerung
des Weins verbringen,
ohne Gespräch. Die Zinnteller knistern.

Beug dich über den Tisch! Im Schatten
vergilbt die Karte von Portugal.

Als markanter Hinweis auf Eichs Kindheit ist die Fügung von den „ungebrannten Ziegeln“ zu interpretieren. Eichs Vater hatte in Lebus an der Oder, wo Eich 1907 geboren wurde, eine Ziegelei gepachtet, ein nicht sehr erfolgreiches Unternehmen. Die in den Schlusszeilen aufgerufene „Karte von Portugal“ bleibt das einzige Gedichtelement, das einen Auszug aus dem Zustand des konstatierten „Schmerzes“ in Aussicht stellen könnte. Aber der kartographische Blick führt hier nicht zur Weltschöpfung, denn die Karte ist „vergilbt“, paradoxerweise im Schatten.

Wie sich der topographische Ansatz mit tiefem Fatalismus verbinden kann, zeigt auch das Gedicht „Geometrischer Punkt“, in dem sich Eichs Absage an die Schöpfung auf die Erfahrung der Tötungsbereitschaft der Spezies Mensch gründet. Hier potenziert Eich die Erfahrung des Schreckens, indem er die zerstörerische Gewalt des Atombombenabwurfs auf Hiroshima mit dem Zentralmotiv aus Adelbert von Chamissos „wundersamer Geschichte Peter Schlemihls“ koppelt:

Wir haben unseren Schatten verkauft,
er hängt an einer Mauer in Hiroshima,
ein Geschäft, von dem wir nichts wußten,
wir streichen ratlos unsere Zinsen ein
.8

Sarkastischer und auch trauriger kann man poetische Befunde zum Zustand unserer Zivilisation wohl kaum formulieren.
Auch in einen Ortsnamen wie Ottobrunn hat sich geschichtliches Unheil eingraviert. Das Hörspiel Die Stunde des Huflattichs (1959)9 spielt in einer möglichen Zukunft unter den letzten Menschen, die aus der bayerischen Kleinstadt Ottobrunn nach Südfrankreich geflohen sind, in die Höhlen bei Auvergne. Es sind Figuren ohne Alter und ohne Geschlecht, die sich in den Höhlen ihres alten Lebens zu vergewissern suchen und nun ihr Überleben organisieren, während in der Außenwelt der Huflattich alle Dörfer, Städte und Landschaften zu überwuchern scheint. Immer wieder werden von den Figuren Ortsnamen wie Ottobrunn, Nijmwegen oder Kopenhagen evoziert, als sei in ihnen eine vergangene Geschichte verborgen, rätselhafte Echoräume der Erinnerung. In der Realgeschichte ist Ottobrunn tatsächlich ein Ort der Vernichtung. Dort wurde 1943/44 ein Außenlager des KZs Dachau errichtet, Lagerinsassen waren vorwiegend politische Häftlinge und russische Gefangene.

Günter Eichs poetische Topographien realisieren – ganz wörtlich nach dem Wortursprung „topos“ und „graphein“ – das Schreiben von Räumen, auch positiv konnotierten Räumen. Wie sich in einen Ortsnamen eine glückliche Erinnerung einschreiben kann, zeigen die miteinander korrespondierenden Gedichte „Rouen“ von Eich und „Kurzes Schlaflied“ von Ilse Aichinger.10 In den Arbeiten von Conrad Miesen und Hannah Markus sind die vielfältigen intertextuellen Referenzen zwischen den Gedichten Eichs und Aichingers bereits herausgearbeitet worden.11 Den beiden Gedichten liegt ein einschneidendes biografisches Ereignis zugrunde: die letzte gemeinsame Reise der Eheleute Eich und Aichinger im November 1971 in die Normandie. Während sich in Eichs Gedicht der Tag der Hinrichtung der glaubensfesten Visionärin Jeanne d’Arc im Mai 1431 und der Novembernebel des Jahres 1971 überlagern, löst sich bei Aichinger der Ortsname durch mehrfache Repetition aus seiner Bezeichnungsfunktion und wird als autonomes klangliches Element im Gedicht nach Art einer gemurmelten Beschwörungsformel wirksam. In Eichs Lakonismus wird Rouen nach Art eines poetischen Understatements zu einer touristischen Erfahrung heruntergedimmt. Als sei die Verbrennung einer vermeintlichen Staatsfeindin nur peripher – der Scheiterhaufen Jeanne d’Arcs wird sarkastisch als „bescheiden“ apostrophiert –, konstatiert Eichs lyrisches Subjekt „wenig ergiebige“ Vorgänge:

ROUEN

Niemanden wärmte
es war Ende Mai
Jeannes bescheidener Scheiterhaufen.
Der meernahe Nebel
schlecht für meinen Zahn Astrid
ist im November.
Die Zeiten sind hier
ungünstig für alles
vertauscht. Das Wetter
und die Hinrichtungen
nicht besonders
ergiebig. – Das ist angenehm.

Das Gedicht camoufliert den Schrecken der Hinrichtung und mündet in ein schieres Gemütlichkeits-Statement:

Das ist angenehm.

Während Eich einen boshaften Lakonismus exponiert, wählt Aichingers „Schlaflied“ begütigende und besänftigende Töne. Wie in wahlverwandten Gedichten entfaltet sich die poetische Energie durch die Evokation des Ortsnamens Rouen, der gleich dreimal genannt ist:

KURZES SCHLAFLIED

Rouen
soll bei dir sein,
der Apfelzucker,
die bessere Sonne
ohne Gewalttat,
er soll bei dir sein,
Rouen, Rouen.

Jenseits der privaten Auskunft von Mirjam Eich, ihre Eltern hätten ihr und ihrem 1998 verstorbenen Bruder Clemens Apfelzucker aus der Normandie mitgebracht, einen kandierten Zucker, birgt schon das Wort „Apfelzucker“ eine Verheißung von Süße, Reife und Unbeschwertheit.12 Eine Interpretin hat darauf hingewiesen, dass sich in Rouen bei leicht veränderter Aussprache lautlich eine Nähe zum Ruhezustand einstelle. „Ruhen, ruhen.“13
Deutlich wird jedenfalls die ostentative symbolische Aufladung des Ortsnamens, von dem eine starke poetische Strahlung ausgeht. „Von diesem, wie viele sagen, unbeträchtlichen Ort“, so formuliert es Ilse Aichinger in ihrem Prosagedicht „Dover“, „sind alle Bezeichnungen und das, was sie bezeichnen, aus den Angeln zu heben.“14 Diese Wirkungsmacht der Ortsnamen ist auch in einigen Kartierungen in Eichs Spätwerk zu beobachten. So expandiert etwa das Gedicht „Ryoanji“, ursprünglich als ein kurzes Tanka-Gedicht und als Apotheose des japanischen Steingartens angelegt, zu einer Bekräftigung der ästhetischen Negativität:

wir horchen nicht hin, sind auch taub,
unser Ort ist im freien Fall.
Büsche, Finsternisse und Klinkbetten,
wir siedeln uns nicht mehr an,
wir lehren unsere Töchter und Söhne die Igelwörter
und halten auf Unordnung,
unseren Freunden mißlingt die Welt
.15

Nebenbei: Eich, der mit seiner Familie gerne in „verlassenen Nestern“ lebte (Geisenhausen, Breitbrunn, Lenggries, Großgmain),16 war in den 1960er-Jahren ein großer Reisender und die Orte, die er z.B. auf seiner Lesereise auf Einladung des Goethe-Instituts vom Oktober bis Dezember 1962 kennenlernte, animierten auch seine poetischen Topographierungen. Die große Lesereise hatte ihn nach Stationen u.a. in der Türkei, dem Libanon, Jordanien und Ägypten auch nach Japan geführt, wo nicht nur seine Begeisterung für Steingärten geweckt wurde, sondern auch seine Faszination für den Fluss Kamo, den er in einem Brief an seinen Dichterfreund Rainer Brambach als „schönsten Fluss der Welt“ bezeichnete.17 Aus dem Dichter der Abgelegenen Gehöfte (1948) wurde der Poet der auratischen Ortsnamen, in denen sich ein Geheimnis verbirgt. So auch im Gedicht „Weitgereist“.

Gleich hinter Vancouver
beginnt der Wald,
beginnt nichts,
beginnt, worüber wir fliegen
.
18

All diese Orte und ihre Namen werden vom späten Eich auf den ästhetischen Prüfstand gestellt. An die Stelle ideologischer Systeme, die mit Instituten der Macht verbunden sind, an die Stelle hierarchischer Ordnungen überhaupt hatte Eich mit dem Band Zu den Akten (1964) die Ordnung der Kartierung und der Atlanten gesetzt. In einem seiner letzten Gedichte, publiziert im Band Nach Seumes Papieren (1972),19 nimmt der Dichter eine posthistorische Position der Finalität ein, in der das lyrische Ich auf eine zu Ende gegangene (die eigene?) Biografie zurückblickt. Noch einmal blitzt in einem Ortsnamen eine Verheißung auf: „Trapezunt“, die Hauptstadt eines für seine Renitenz bekannten uralten Kaiserreichs am Südufer des Schwarzen Meeres, erscheint in der ersten Strophe als ein Ort, an dem noch Introversion und Lektüre möglich sind. Aber auch dieses Gedicht nimmt eine Wendung hin zu Negationen und annihiliert das im Ortsnamen und den damit verbundenen „Vokabeln der Volksbücher“ annoncierte Refugium:

NACH DEM ENDE DER BIOGRAPHIE

Vielleicht
hätte sich Trapezunt gelohnt.

Die schwarze Nordküste
mit Vokabeln der Volksbücher.

Er weiß es nicht,
wußte es nicht,
wird es nicht wissen.

Michael Braun, aus Michael Braun (Hrsg.): „Was ich weiß, geht mich nichts an“. Zu Günter Eich, poetenladen, 2022

 

GÜNTER EICH

Kurz vor Ultimo

Er spürt wie Jugendliebe
den Schnitt das Jägermeisters
der in der Raubtierhöhle
den Weg freischnitt
das Flutschen der Scherklingen
ritsch ratsch ruckzuck
wankelnd das schwingende
Ding am Nasenloch grad so vor-
bei der Jubel der Befreiten ge-
lassen vernimmt er das Gerücht
aus den Wäldern würden die Tore
der Parasiten ungeöffnet herausgerissen.

Peter Wawerzinek

 

 

Dichterlesung am 1.1.1959 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. Moderation: Siegfried Unseld. Günter Eich liest die Gedichte „Herrenchiemsee“, „Himbeerranken“, „D-Zug München-Frankfurt“ und „Wo ich wohne“ sowie zwei Szenen aus seinem Hörspiel Unter Wasser.

Samuel Moser: Welt der Literatur – Mir klingt das Ohr – doch wer kann mich meinen? Ein Porträt des Dichters Günter Eich.

Ein geheimer Sender, der weiterschabt in unserem Ohr – Ein Gespräch von Michael Braun mit dem Lyriker Jürgen Nendza. Über Günter Eich, die Vokabel „und“ und über Gedichte zwischen „Haut und Serpentine“

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Günter Eich

Kurt Drawert: Er hatte seine Hoffnung auf Deserteure gesetzt

Am Rande der Welt Roland Berbig im Gespräch mit Michael Braun über den Briefwechsel von Günter Eich mit Rainer Brambach

 

 

Antje Friedrichs-Telgenbüscher: Nördliche Seufzer

Roland Berbig: Am Rande der Welt. Ort des Lebens und Lebensort: Günter Eichs Geisenhausen

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: Zum 60. Geburtstag von Günter Eich
Die Tat, 26.1.1967

Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer und Erich Fried: Drei Begegnungen mit Günter Eich
Merkur, Heft 231, Juni 1967

Peter Hamm: Bescheidenes und dauerhaftes Entsetzen
Süddeutsche Zeitung, 1.2.1967

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: Auf der Suche nach dem Urtext
Die Tat, 28.1.1972

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Johannes Poethen: Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit
Die Tat, 28.1.1977

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Eva-Maria Lenz: Erhellende Träume
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.1.1987

Rudolf Käser: … das Zeitliche habe er nicht gesegnet
Neue Zürcher Zeitung, 29.1.1987

Zum 20. Todestag des Autors:

Peter M Graf.: Singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet
Der kleine Bund, Bern, 19.12.1992

Götz-Dietrich Schmedes / Hans-Jürgen Krug: Das Wort in ständigem Wechsel mit dem Schweigen
Frankfurter Rundschau, 19.12.1992

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Christoph Janacs: Sand sein, nicht Öl im Getriebe
Die Presse, 27.1.2007

Roland Berbig: Maulwurf im Steingarten
Der Tagesspiegel, 1.2.2007

Helmut Böttiger: Stil ist ein Explosivstoff
Süddeutsche Zeitung, 1.2.2007

Michael Braun: Narr auf verlorenem Posten
Basler Zeitung, 1.2.2007

Ole Frahm: Der Konsequente
Frankfurter Rundschau, 1.2.2007

Martin Halter: Seid Sand im Getriebe!
Tages-Anzeiger, 1.2.2007

Samuel Moser: Spuren eines Maulwurfs
Neue Zürcher Zeitung, 1.2.2007

Iris Radisch:  Man sollte gleich später leben
Die Zeit, 1.2.2007

Sabine Rohlf: Dichtkunst mit Maulwürfen
Berliner Zeitung, 1 2.2007

Hans-Dieter Schütt: Der linke Augenblick
Neues Deutschland, 1.2.2007

Wulf Segebrecht: Schweigt still von den Jägern
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.2007

Jürgen P. Wallmann: Gedichte und Maulwürfe
Am Erker, 2007, Heft 53

Jörg Drews: Wenn die Welt zerbricht
Die Furche, 1.2.2007

Zum 50. Todestag des Autors:

 

 

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Georg-Büchner-Preis 1 & 2
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Günter Eich – Ein Film von Michael Wolgensinger aus dem Jahr 1972.

„Deshalb ist er immer auf den Berg gegangen“. Mirjam Eich spricht hier mit Michael Braun und Jürgen Nendza u.a. über diesen Film.

 

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