VITA
Nur keine Spuren hinterlassen
Eich hat zeitlebens nichts getan, seine Biographie zu überliefern, und schon gar nicht dafür gesorgt, daß sie von der Attraktivität der Legende lebt. Sie ist deshalb, soweit der Autor selbst sie vermittelt, eine Reihe nackter Zahlen, Ortsnamen, Daten, Fakten. Der Versuch, sie mit Hilfe von Menschen, die Eichs Leben streckenweise begleiteten, einigermaßen zu verbinden und mittels vorsichtiger Interpretation lebendig werden zu lassen, ist behelfsmäßig und fragwürdig.
Günter Eich wurde am 1. Februar 1907 in Lebus an der Oder geboren. Im selben Jahr wie Wolfgang Weyrauch. Ein Jahr nach Stefan Andres. Ein Jahr vor Albrecht Goes, Gerd Gaiser, Edzard Schaper. Mit dieser zufälligen Liste soll angedeutet werden, daß Eichs Wirkung innerhalb der deutschen Literatur seit 1945 bis heute kaum eine Parallele hat bei Autoren seines Jahrgangs. (Am ehesten ist noch diejenige Peter Huchels, der 1903 geboren wurde, mit der seinen zu vergleichen.)
Lebus an der Oder – die Herkunft hat zuletzt anläßlich von Eichs Tod zu reden gegeben. Lebus liegt in der Mark Brandenburg, die heute zur DDR gehört. Eich wird deshalb von seiner Herkunft aus zum „Vertreter“ eines „Typus“:1
Deutschland: das waren ja nicht bloß Rheinländer, Hessen, Franken und Bayern, dazu gehören auch Mecklenburger, Pommern, Schwerblütige aus der Mark. Wir bemerken nicht, daß… ein stiller, sympathischer, herrlich verbiesterter und leiser Menschenschlag… ausstirbt. Günter Eich hat eines seiner Gedichte Peter Huchel gewidmet, einen andern Text für Uwe Johnson geschrieben. Weiß man überhaupt noch, daß sie alle aus einer deutschen Ecke kommens die in der DDR umfunktioniert wird und hierzulande vergessen?
Eich als Vertreter eines Menschenschlags? Gleichsam Symbolfigur für die ,Tragödie der deutschen Teilung‘? Er hätte dazu vermutlich einiges zu bemerken gehabt.
Eich war der zweite Sohn. (Sein älterer Bruder hat Zeitungswissenschaft studiert, ist Dr. phil. geworden und lebt heute in der Nähe von München.) Während Eichs Kindheit war der Vater zunächst als Rechnungsführer und Verwalter auf landwirtschaftlichen Gütern tätig, ließ sich dann zum Bücherrevisor ausbilden und zog mit seiner Familie 1918 nach Berlin, wo er eine Kanzlei als Steuerberater führte.
Fast zweitausend Jahre vorher ist ein anderer Vater vom Land in die Hauptstadt gezogen, mit einem Sohn, der einer der größten Schriftsteller seiner Zeit werden sollte. Dieser Vater – es handelt sich um denjenigen des Horaz – zog nach Rom, „… weil er, obwohl arm mit seinem mageren Äckerlein, den Knaben nicht in die Dorfschule des Flavius schicken wollte sondern es gewagt hat, ihn nach Rom zu bringen und ihn in den Wissenschaften und Künsten unterrichten zu lassen…“ (Horaz, Satiren I, 6, Vers 71–77). Die Vorstellung, Eichs Vater habe vergleichbare Beweggründe gehabt, ist anziehend – in irgendeiner Weise durch Eich legitimiert ist sie freilich keineswegs.
1925 macht Eich sein Abitur in Leipzig und beginnt dann mit dem Studium der Sinologie in Berlin. In den ersten Jahren des Studiums entstehen die ersten Gedichte („schon mit neunzehn Jahren pries ihn Oskar Loerke…“),2 1927 werden einige davon in einer Anthologie veröffentlicht, deren Herausgeber Willi Fehse und Klaus Mann sind. Eich publiziert zunächst unter dem Pseudonym Erich Günter. „Wer weiß denn, wie es mir geht, wenn das Buch einem meiner Professoren in die Hände fällt?“3 – so soll er später die Wahl eines Pseudonyms begründet haben und dabei weniger an die Sinologie-Professoren gedacht haben als an diejenigen für Handelsökonomie und Volkswirtschaft: Diese Fächer hat Eich zusätzlich zu studieren begonnen, 1927 in Leipzig.
1928/29 studiert er in Paris wieder ausschließlich Sinologie. Nach seiner Rückkehr schreibt er (zusammen mit seinem Freund Martin Raschke) ein erstes Hörspiel, und 1930 erscheint sein erster Gedichtband: Gedichte. Sein Studium hat Eich nur für kurze Zeit wieder aufgenommen. Er gehört ab 1931 dem Autorenkreis um die Dresdener Literaturzeitschrift Die Kolonne an (zusammen mit Autoren wie Peter Huchel, Elisabeth Langgässer, Oda Schaefer, Horst Lange – laut einem Interview Eichs aus dem Jahre 1949, s. Gesammelte Werke Bd. IV S. 397).4 In der Kolonne und in Die neue Rundschau veröffentlicht Eich die meisten Arbeiten jener Jahre. Er gibt sein Studium auf, weil „die andern in den Kollegs und Diskussionen immer alles besser wußten, obgleich ich doch wirklich geochst und gebüffelt habe. Ich taugte wohl doch bloß zum Schriftsteller.“5 Als solcher lebt Eich in den dreißiger Jahren vor allem von Auftragsarbeiten für den Funk. Zwischen 1932 und 1940 sind über zwanzig Sendedaten für Werke Eichs nachgewiesen (s. Gesammelte Werke Bd. III S. 1409ff.), dazu eine von 1933–37 sich erstreckende Serie, die gemeinsam mit Martin Raschke verfaßte Monatssendung Deutscher Monatskalender – ein Monatsbild vom Königswusterhäuser Landboten.
Mitte der dreißiger Jahre hat Eich geheiratet. Seine erste Frau, Sängerin von Beruf, ist bald nach dem Krieg gestorben.
Bei Kriegsausbruch lebt Eich in der Nähe Berlins. Er wird – „weil er ein Auto besaß“ – sogleich zum Bodenpersonal der Luftwaffe eingezogen. Erhart Kästner berichtet, er habe Eich bei Kriegsbeginn „in soldatischer Verkleidung“ angetroffen, zusammen mit Martin Raschke, der erzählt habe:
Der Eich, der lernt jetzt in einem fort Gedichte auswendig, denn er sagt, die werde man im Unterstand brauchen.6
Eich hat auch die Kriegsjahre nicht biographisch verarbeitet. Daß unter den Gedichten, die er auswendig lernte, solche von Hölderlin waren, läßt sich in dem berühmt gewordenen Gedicht „Latrine“ feststellen. Und vielleicht gehörten auch schon einige jener entlegenen Verse dazu, die Eich bis in die letzten Jahre seines Lebens zitierte, etwa die Schlußverse von Kleists Gedicht „Katharina von Frankreich“:
Und jetzt begehrt er nichts mehr,
als die eine –
ihr Menschen, eine Brust her,
daß ich weine.
1940 wird Eich auf Veranlassung seines Freundes Jürgen Eggebrecht7 in die Stabsstelle Papier kommandiert, die von Eggebrecht geleitet wurde. Eggebrecht, wie Eich nie Mitglied der nationalsozialistischen Partei befördert Eich zum Unteroffizier und kann ihn bis 1944 vor einem Fronteinsatz bewahren.
1945 gerät Eich bei Remagen in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Erst jetzt beginnt er wieder zu schreiben, einen Teil jener Gedichte, die 1948 in der Sammlung Abgelegene Gehöfte erscheinen. 1946 nimmt Eich in Geisenhausen bei Landshut Wohnsitz, dort, wo er während des Krieges zeitweise einquartiert war. Die ersten Nachkriegstexte Eichs werden in der Münchner Gefangenenzeitschrift Der Ruf gedruckt. Die Redakteure des Ruf, Hans Werner Richter und Alfred Andersch werden von der amerikanischen Militärregierung wegen kritischer Äußerungen zur Politik der Besatzungsmächte entlassen. Sie beschließen die Gründung einer Ersatzzeitschrift und fordern Mitarbeiter des Ruf auf, auch beim geplanten Skorpion mitzumachen. Aus der Gründungszusammenkunft der künftigen Skorpion-Mitarbeiter und -Herausgeber entwickelt sich die Gruppe 47, die das literarische Leben in der Bundesrepublik während der nächsten zwanzig Jahre maßgeblich beeinflussen wird. Eich ist eines der ersten Mitglieder. Schon 1948 liest er auf einer ihrer Tagungen vor, und 1950 spricht ihm die Gruppe ihren ersten Literaturpreis zu, für Gedichte, die fünf Jahre später in den Botschaften des Regens erscheinen.
Auf einer der Gruppentagungen lernt Eich seine zweite Frau kennen, die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger. Seit ihrer Heirat, 1953, ist Ilse Aichinger Eichs erste Leserin und Kritikerin. 1965 erklärt er in einem Interview (Gesammelte Werke Bd. IV S. 406):
Ich empfinde eine starke Verwandtschaft zwischen ihrer Art zu schreiben und meiner, finde ihre literarische Bedeutung größer.
Die beiden wohnen zuerst in Geisenhausen, dann in Breitbrunn am Chiemsee, ab 1956 in Lenggries in Oberbayern, danach in Bayrisch Gmain und ab 1963 im österreichischen Groß-Gmain (b. Salzburg). Solange er Eich kenne, habe der immer in gottverlassenen Nestern gewohnt, schreibt Peter Hamm später einmal. 1954 wird der Sohn Clemens geboren, 1957 die Tochter Mirjam.
In den fünfziger Jahren schreibt Eich seine berühmtesten Hörspiele, veröffentlicht er seine populärste Gedichtsammlung (Botschaften des Regens). Er erhält eine Reihe angesehener Literaturpreise, so 1953 den Hörspielpreis der Kriegsblinden und 1959 den Georg-Büchner-Preis. Er unternimmt, bis lange in die sechziger Jahre hinein, größere Reisen, meist Lesereisen. 1955 nach Portugal, 1962 nach Japan, Indien, Kanada und in die USA, 1965 in den Senegal und 1967 nach Persien.
1967, auf der letzten Tagung der Gruppe 47, liest Eich erstmals ,Maulwürfe‘ vor.
Die beiden letzten Lebensjahre sind gekennzeichnet durch lange Krankheiten und Spitalaufenthalte, ab 1972 scheint Heilung ausgeschlossen. Eich erlebt noch das Erscheinen seines letzten Gedichtbandes (Nach Seumes Papieren) und die Erstsendung seines letzten Hörspiels (Zeit und Kartoffeln), des einzigen, das er nach 1964 noch geschrieben hat. Am 20. Dezember 1972 stirbt Eich in einem Salzburger Krankenhaus. Am 22. Dezember wird er, ebenfalls in Salzburg, kremiert. Er hat sich ein Begräbnis gewünscht, an dem nur die engsten Familienangehörigen teilnahmen.
„Nach dem Ende der Biographie“ (so ist eines der zehn Gedichte im letzten Gedichtband überschrieben) bleibt nur die nochmalige Feststellung ihrer Fragwürdigkeit, vielleicht Unzulässigkeit. Eich selbst – soviel ist gewiß – wollte seine Biographie banal, nicht reich, nicht zugänglich, nicht auswertbar und anwendbar. Möglicherweise aus Gründen der Diskretion. Und aus der Überzeugung heraus, daß Dichterbiographien, die es darauf abgesehen haben, es zu sein, unzumutbar seien, und daß demjenigen, der schreibt, die Festianus-Solidarität mit denen, die keine Biographie hinterlassen, zustehe.
Oder sein Verschweigen des Biographischen hängt zusammen mit dem 1962 notierten Satz:
Sprache beginnt, wo verschwiegen wird. (Gesammelte Werke Bd. IV S. 307)
Eich könnte die Daten, die Landschaften und Orte, die Personen und Begegnungen verschwiegen haben, weil dies die einzige Möglichkeit war, sie zur Sprache zu bringen, Sprache werden zu lassen. Wenn es sich so verhält, dann wäre Eichs eigentliche Biographie in seinem Werk aufzuspüren. Und für die Biographie außerhalb des Werks gälte dann das: „Nur keine Spuren hinterlassen“, der Vers also, mit dem Eich das erste Gedicht seiner letzten Gedichtsammlung abschließt.
„Deine Tage gehen falsch“ („Verse an vielen Abenden“, Gesammelte Werke Bd. I S. 9). Dieser Vers bedeutet Eichs lyrisches Debut. Er leitet das erste von acht Gedichten Eichs ein, die 1927 in der Anthologie jüngster Lyrik erschienen sind. Er soll nun nicht die lyrische Originalität des Zwanzigjährigen beweisen. Aber er besticht: durch Lakonik und eine Art Kälte; durch eine unüberhörbare, abweisende Radikalität – er schließt Einwände und weltanschauliches Palaver aus. In diesem Sinn nimmt der erste Vers, den die Öffentlichkeit von Eich zu lesen bekommt, den Autor des Gedichtbandes Zu den Akten (1964) vorweg. Das ist keineswegs eine Feststellung, die allgemein für die Lyrik des jungen Eich zu machen wäre. Eich selbst erklärte 1965, er habe als „verspäteter Expressionist und Naturlyriker“ (Gesammelte Werke Bd. IV S. 407) begonnen. Expressionismus und Naturlyrik sind die Begriffe, die auch in der Sekundärliteratur über Eichs Lyrik bis hin zu den Botschaften des Regens (1955) am beharrlichsten auftauchen. Und die Autoren, denen er immer wieder zugeordnet wird, sind die Naturlyriker Loerke (1884–1941) und Lehmann (1892–1968). Aber auch Trakls und Rilkes, sogar Georges Wirkung wird nachgewiesen, und von ihnen aus wird Eichs frühe Lyrik zurückgeführt auf die französischen Symbolisten auf der einen und Novalis, Brentano und Hölderlin auf der andern Seite.
Das Vokabular von Eichs früher Lyrik mutet jedenfalls bekannt an. Gestirne, Sterne, Mond, Trauer, Schmerz, erinnern, Erinnerung, vergehen, verwehen – Vokabeln wie diese und ähnliche sind auffallend häufig und damals kaum weniger abgebraucht, als sie heute anmuten. Und wenn das Bewußtsein ihrer Abgebrauchtheit zu besonders exquisiten Zusammenstellungen veranlaßt („blauer Herbst“, „bittere Sterne“), wirken diese, zumindest in ihrer Tendenz, eher gängig als kühn. Der Herbst, auch das erstaunt nicht, ist stärker vertreten als alle anderen Jahreszeiten, und die dominierenden meteorologischen Verhältnisse in Eichs damaliger Lyrik (und nicht nur seiner) sind Regen, Wind und Nebel.
Eich hat in einer interessanten Lyrikdiskussion das Recht des Lyrikers auf die alten Wörter verteidigt. Bernhard Diebold, Dramaturg und Kritiker, hatte 1932 den jungen Lyrikern vorgeworfen, daß sie, wie vor hundert Jahren, unter Goethes Mond und in Hölderlins oder Mörikes Hain lebten. Er stellt die These auf, die neue Lyrik könne „nur an der neuen Umgangssprache mit modernen Vokabeln und modernen Gegenständen herauskristallisiert werden“. (Gesammelte Werke Bd. IV S. 470) Eich entgegnet, daß die äußeren Erscheinungsformen wie Flugzeug und Dynamo nicht das Wesentliche einer Zeit seien, sondern die Veränderungen, die ein Mensch und seine Empfindungsmöglichkeiten durch sie erführen. Weil keines der neuen Denk- oder Lebenssysteme die Zeit universal repräsentiere, würde die Entscheidung des Lyrikers für heutige Vokabeln die Entscheidung nur für eine Teilerscheinung der Zeit bedeuten, und solche interessierten den Lyriker nicht.
Die Wandlungen des Ichs sind das Problem des Lyrikers. Das wird im Formalen die Folge haben, daß er… Vokabeln vermeidet, die ein zeitgebundenes, also ihn nicht direkt interessierendes Problem in sich schließen. Ja, ich meine, der Lyriker muß ,alte‘ Vokabeln gebrauchen, die, selbst problemlos geworden, ihre neue Bedeutung erst durch das Ich gewinnen. An Vokabeln wie ,Dynamo‘ oder ,Telephonkabel‘ hängen soviele zeitlich bedingte Assoziationen, daß sie die reine Ichproblematik des Gedichts durch ihre eigene Problematik zumeist verfälschen.(Gesammelte Werke Bd. IV S. 389)
Die Stellungnahme beweist, daß Eich das epigonale Vokabular mit Bewußtsein und aus einer Gegnerschaft zu Modetendenzen heraus verwendet.
Es wäre dennoch falsch, ihn zu berichtigen, wenn er seine frühe Lyrik 1965 als „verspätet“ bezeichnet. Sie ist es vielfach auch in ihren Motiven. Die Sehnsucht, mit der Natur zu verschmelzen („du mußt wieder stumm werden, unbeschwert, eine Mücke, ein Windstoß, eine Lilie sein“; „Verse an vielen Abenden“, Gesammelte Werke Bd. I S. 9), kontrapunktiert die Vergänglichkeitserfahrung, die die Natur besonders schmerzlich vermittelt. Aus der Schönheit der Erinnerungen schleicht die Erkenntnis des Vorbei, Zuspät, und sie erweckt Aggression gegen die Erinnerung („Laß dein Herz verhärten / und ohne Gedächtnis sein“; „Gesicht“, Gesammelte Werke Bd. I S. 57). Das Ich ist heillos gespalten, und die eine Hälfte von der andern so völlig geschieden, daß es zur „Erinnerung an mich selbst“ (Gesammelte Werke Bd. I S. 17) kommen kann und zur Erfahrung des andern Körpers („mein anderer Leib“; „Aegyptische Plastik“, Gesammelte Werke Bd. I S. 11, und „Erinnerung an mich selbst“, Gesammelte Werke Bd. I S. 17). Schließlich verschwimmt jegliche Wirklichkeit und wird ungewiß:
Wir sind uns so entschwunden,
daß alles fraglich wird…
was war denn Wirklichkeit
(„Der Anfang kühlerer Tage“, Gesammelte Werke Bd. I S. 12)
In diesem Verschwimmen und Verschwinden, in der Vagheit seiner Existenz verliert der Mensch Sicherheit und Halt, es gibt keine Erfahrung mehr, die ihm Heimatgefühle vermitteln könnte; er bleibt unbehaust, in Tod und Leben gleichermaßen:
… Dieses heißt Leben und ein anderes Tod. Aber wir gehören
nie einem ganz an
(„Verse an einen Toten“, Gesammelte Werke Bd. I S. 15)
Kein Zweifel: in dieser Lyrik ist vieles vertrauter Weltschmerz, vieles teils zeit-, teils altersbedingt. „O ich bin von der Zeit angefressen“ – ein Vers wie dieser (aus einem Gedicht von 1927, „Verse an vielen Abenden“, Gesammelte Werke Bd. I S. 9) kann als Motto für einen großen Teil von Eichs Frühwerk verstanden werden.
Aber gerade dieser Vers, sieht man einmal ab von der Traklschen Interjektion am Anfang, ist erstaunlich hart im Ton, es geht ihn die Traklsche Sangbarkeit gänzlich ab, er läßt den Grundklang pubertärer Wehleidigkeit, der in den Gedichten verbreitet ist, in dieser Härte weit hinter sich. Ähnlich merkwürdige Töne finden sich auch sonst in Eichs frühen Gedichten. In „Fragment“ (Gesammelte Werke Bd. I S. 10/11) von 1930 zum Beispiel.
Wolken klettern wie Tiere auf den Berg des Himmels,
die Abende dunkeln zu früh und aus allen
Lampen tropft der Herbst.
Dies kennst du, es ist November,
weit sind Wiesen und die Gerüche des Waldes.
Als du sehr klein warst, fingst du Schmetterlinge.
Alles verging, wie ein Atemzug voll Wind.
Zwischen die Tage schieben sich Ewigkeiten.
Du hörst, wie unterm Regen ein Kind eine Mundharmonika bläst.
Die Bäume rosten und
wie ein Flug Wildenten erscheinen im Schilf die Geschwader der Sterne.
Gewiß wuchern da noch Metaphorik und Melancholik, gibt es zuviel Vergleiche und große Worte (Ewigkeiten), die rostenden Bäume und der aus allen Lampen tropfende Herbst sind schwer zu ertragen. Aber es kommt auch ein Satz vor wie „die Abende dunkeln zu früh“, ein Satz ohne Zutaten und Attraktionen, ein Satz der fast nur Information ist. Und da ist auch der Vers von den Schmetterlingen, an dem vielleicht das rilkesche „sehr“ noch stört, der aber auch so eindringlich unvermittelt an eine Leerstelle anschließt und der eine starke Traurigkeit mit einer einfachen, ganz und gar zugänglichen Feststellung belegt. Noch stiller und nachhaltiger die akustisch-optische Genauigkeit im Vers:
Du hörst, wie unterm Regen ein Kind die Mundharmonika bläst.
Ebenso genau und plastisch die Verbindung einer seelischen und einer räumlichen Erfahrung in einem Vers des Gedichts „Aegyptische Plastik“(Gesammelte Werke Bd. I S. 11):
und im Horizont verschwand das Fahrzeug traurig und verrückt.
Es gibt unter Eichs frühsten Gedichten solche, die moderner anmuten als manche aus Abgelegene Gehöfte.
Nach dreißig Wochen grundloser
Unruhe, nach dreißig Wochen
zitternder Luft, möchte ich
ein Feld hier haben, um darüberhin
zu stolpern vielleicht, mit Füßen,
die nicht mehr lernen wollen zu gehn.
Nach dreißig Wochen und es sind
Gefühl und Sprache abgelegt wie alte Kleider,
unnütz wie ein Zeitungsblatt vom vergangenen Jahr. (Gesammelte Werke Bd. I S. 181)
Was hier auffällt, ist das Bemühen, prosaisch zu sein, ist der Versuch, Natur als Erfahrung, nicht als Metapher einzusetzen („Feld…, um darüberhin zu stolpern“). Wo Vergleiche verwendet werden, sind sie unpoetisch, sachlich, ohne Farbigkeit. Zusammen mit der Vorstellung des Clownesken (Vers 5/6) ergibt das eine Grundsituation, die entfernt an Beckett erinnert.
Erstaunlich auch die Schlußstrophe von „Erwachen“ (Gesammelte Werke Bd. I S. 183):
Langsam fallen dir wieder
Silben und Worte ein:
Gehen, Herbst, Straße,
Traum, du und dein.
Der Augenblick des Erwachens ist nachvollzogen an der Rückkehr der Sprache, der Worte, die in dem Moment, wo sie sich, zufällig, unprogrammatisch, wieder einstellen, erst die Umgebung, die Wirklichkeit erschaffen. Das ist ein früher Beleg für „die Entscheidung“ des Schriftstellers Eich, „die Welt als Sprache zu sehen“ (Gesammelte Werke Bd. IV S. 441). Ebenso Vorwegnahme, diesmal der „verschweigenden Sprache“ (Gesammelte Werke Bd. IV S. 307), ist eine Formel aus einem Gedicht zum Geburtstag Loerkes:
Wort, das selber schweigt (Gesammelte Werke Bd. I S. 185).
Und im Gedicht „Manchmal“ (Gesammelte Werke Bd. I S. 56), das 1932 entstanden ist, dann (wie übrigens viele der Gedichte aus den dreißiger Jahren) in die Sammlung Abgelegene Gehöfte von 1948 aufgenommen wurde, ist das für Eich später zentrale Mißtrauen gegen die Antworten und seine „Option für die Frage“8 andeutungsweise artikuliert:
Hörst du endlich die Frage,
und die Antwort ist plötzlich schwer.
Auch der meist konventionell anmutende Weltschmerz gewinnt manchmal eigenartige Dimensionen. An den Vers „O ich bin von der Zeit angefressen“ schließen die Verse an:
und bin in gleicher
Langeweile vom zehnten bis zum achtzigsten Jahre (Gesammelte Werke Bd. I S. 9).
In „Gegen vier Uhr nachmittags“ (Gesammelte Werke Bd. I S. 56) heißt es:
… jeden neuen Tag mit allen
alten Tagen vermengt.
Die Melancholie, welcher der Weltschmerz oder -ekel sich so formuliert nähert, weist wie das Wort Langeweile auf Büchners Leonce und Lena oder Danton, und der junge Eich ist da nicht mehr jung wie die Expressionisten oder Stürmer und Dränger, sondern eher wie der ihm später so wichtige, als Vierundzwanzigjähriger verstorbene Georg Büchner und wie dessen Leonce, von dem Lena sagt:
Er ist so alt unter seinen blonden Locken. Den Frühling auf den Wangen und den Winter im Herzen.
Man kann (und hat) anhand der Perfektion von Eichs Strophen, Rhythmen und Reimen nachweisen wollen, daß sich in den frühen Gedichten der große Lyriker entdecken ließe. Aber die Souveränität in der Beherrschung übernommener Formen ist allgemein Merkmal des Epigonalen. Interessanter und wegweisender sind die „Ungereimtheiten“ in Eichs frühen Gedichten; die Verse, wo er sich nicht ohne weiteres auf die Zeit und naheliegende Vorbilder zurückführen läßt. Ein Vers wie der erste aus dem Zyklus „An vielen Abenden“. Mit diesem leitete Eich 1930 den eigenen Gedichtband ein, und er steht erneut am Anfang des 1972 erschienenen Eich-Lesebuchs,9 das der Autor selber zusammenstellen half. Der erste Vers einer von Eich selbst legitimierten Sammlung eigener Texte ist angesichts von Eichs bekannt bösartigem Umgang mit seinem früheren Werk also gewiß von einigem Gewicht. Er lautet:
Herumtrabend mit hungrigen Wolfsschritten um deine verlassene Hütte (Gesammelte Werke Bd. I S. 9).
Wenn einem solchen Vers gegenüber von Beherrschung der Form gesprochen werden kann, dann kaum im üblichen Sinn. Der Vers scheint in seiner ungeheuren Länge jegliche Form sprengen zu wollen. Er ist von Rhythmus und Wortstellung her seltsam sperrig, jedenfalls überhaupt nicht glatt und einnehmend. Aber in dieser Sperrigkeit ist es ein Vers, der stärker an den späten Eich erinnert als viele Verse, die ihn in den Fünfziger Jahren als Lyriker erfolgreich gemacht haben.
I. Vita: Nur keine Spuren hinterlassen
II. 1927–1945: O ich bin von der Zeit angefressen
1. Einleitung
2. Die frühen Gedichte
3. Die Vorkriegshörspiele
4. Die Prosa der dreißiger Jahre
5. Der Präsident
6. Günter Eich und das Theater
7. Europa contra China – Eichs Auseinandersetzung mit dem Osten
III. 1946–1958: Alles was geschieht, geht dich an
1. Einleitung
2. Die Prosa
3. Eichs Verhältnis zu seiner Prosa
4. Die Gedichtbände Abgelegene Gehöfte, Untergrundbahn und Botschaften des Regens
5. Die klassischen Hörspiele
6. Eich und das Hörspiel – ein provisorischer Abschluß des Themas
7. Eichs Poetologie 1930-1971
IV. 1959–1972: Mir liegt nichts daran, mich anmutig zu bewegen
1. Einleitung
2. Die Büchner-Preis-Rede: Der ,politische‘ Eich
3. Die Marionettenspiele
4. Die letzten Hörspiele
5. Die Gedichtbände Zu den Akten, Anlässe und Steingärten und Nach Seumes Papieren
6. Die Entwicklung von Eichs Lyrik und Theorien zur Lyrik
7. Die Maulwürfe
V. Eichs Position in der deutschen Literatur nach 1945: Eben hielt ich mich noch für Avantgarde, schon gibt es Spezialisten
Anmerkungen
Zeittafel zu Leben und Werk Günter Eichs
Die Buchpublikationen der ersten Nachkriegsjahre geben auf die Frage nach authentischer Lyrik meist nur enttäuschende Auskunft. Sie scheinen allenfalls das Schlagwort von der „schweigenden Generation“ bestätigen zu wollen, das seinerzeit neben den Begriffen „Nullpunktsituation“ und „Kahlschlagliteratur“ (Wolfgang Weyrauch) die Runde machte. Auch wenn man heute noch einmal die Zeitschriften jener Vorzeit durchblättert, die behelfsmäßigen Sammelbroschüren und zusammengestoppelten Anthologien, findet man allenfalls so etwas wie Unvollkommenheit repräsentiert. Woran es mangelt, ist vor allem Richtung und Kontur. Ganz offensichtlich hatte man zunächst einmal versucht, versprengte einzelne unter Dach und Buchdeckel zu bringen, ohne das alteingesessen Formtreue vom Flugversuch des Anfängers zu trennen und auf stilistische Geschlossenheit hinzuwirken. Man muß schon sehr genau hinsehen, um wenigstens einen Anflug von Richtung auszumachen, wird dann, rückblickend, freilich zu meinen neigen, daß die sachlichen Ironiker und Grau-in-Grau-Maler dem glanzlosen Alltag angemessener begegneten als die Pathetiker mit dem pastosen Farbauftrag.
Wo Poesie sich an einer Ortsbestimmung des Menschen versuchte – zu denken an Günter Eich – da lief es allemal auf die Nennung flüchtiger Aufenthaltsorte hinaus: Gefangenenzelt, Strohsack, Schlafbunker, Bahnhof, Nissenhütte, Baracke, Wartesaal.
In diesem Umkreis trat der Mensch als ziemlich transitorische Existenz in Erscheinung, ohne gültigen Grund unter seinen Füßen und bar aller philosophischen und weltanschaulichen Immobilien. Was war schon mehr über ihn auszusagen, als daß er gerade noch lebte? Welcher Halt konnte ihm angewiesen werden, wenn nicht das Naheliegende? Ein Gedicht Günter Eichs, „Inventur“ genannt, zieht denn auch die Bilanz von Überbleibseln. In programmatischem Understatement und in demonstrativ herausgekehrter Wortkargheit bekennt sich das zu nichts Festem berufene, zu nichts Höherem bestimmte Subjekt zu seiner geringsten als seiner einzig wirklichen Habe:
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Also: keine heilig beschworenen guten Vorsätze, keine Blankowechsel auf die Zukunft, sondern: die gezielte Nüchternheit der Bestandsaufnahme. Und wo der Name des Menschen neu geschrieben wird, dort nicht auf Ruhmestafeln und Ehrenmale, sondern auf die durch nichts als Brauchbarkeit bestimmte Konservenbüchse. Das Ich definiert sich als vorläufig. Seine geringen Hoffnungen klammern sich all Restbestände. Der Radius des von der Welt Besitz Ergreifenden ist auf die Reichweite seines Armes zurückgenommen. Obwohl Günter Eich nicht der einzige Bedichter der situationären Misere war, und obwohl sich auch andere junge Talente an einer Poesie des Unpoetischen versuchten, war er dennoch der einzige, der einen sozialen Status konsequent in Schreibweise überführte. Die meisten Innungsgenossen gelangten über das Umschreiben von Armutsverhältnissen nicht hinaus. Das waren die in Krisenzeiten immer zahlreich aufbrechenden Begabungen, deren Umgang mit der Poesie auch dieses Provisorium nicht überlebte. Sie traten hier oder dort mit ein oder zwei beachtlichen Gedichten hervor, waren einige Zeilen lang auf der Höhe der schlimmen und verschwanden dann für immer aus dem Gebiet der schönen Literatur.
Peter Rühmkorf, aus Werner Richter Hrsg.: Bestandsaufnahme. Eine deutsche Bilanz 1962. Sechsunddreißig Beiträge deutscher Wissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten, 1962
Dichterlesung am 1.1.1959 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. Moderation: Siegfried Unseld. Günter Eich liest die Gedichte „Herrenchiemsee“, „Himbeerranken“, „D-Zug München-Frankfurt“ und „Wo ich wohne“ sowie zwei Szenen aus seinem Hörspiel Unter Wasser.
Samuel Moser: Welt der Literatur – Mir klingt das Ohr – doch wer kann mich meinen? Ein Porträt des Dichters Günter Eich.
Ein geheimer Sender, der weiterschabt in unserem Ohr – Ein Gespräch von Michael Braun mit dem Lyriker Jürgen Nendza. Über Günter Eich, die Vokabel „und“ und über Gedichte zwischen „Haut und Serpentine“
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Günter Eich
Am Rande der Welt – Roland Berbig im Gespräch mit Michael Braun über den Briefwechsel von Günter Eich mit Rainer Brambach
Jürgen P. Wallmann: Zum 60. Geburtstag von Günter Eich
Die Tat, 26.1.1967
Max Frisch, Wolfgang Hildesheimer und Erich Fried: Drei Begegnungen mit Günter Eich
Merkur, Heft 231, Juni 1967
Jürgen P. Wallmann: Auf der Suche nach dem Urtext
Die Tat, 28.1.1972
Johannes Poethen: Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit
Die Tat, 28.1.1977
Eva-Maria Lenz: Erhellende Träume
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.1.1987
Rudolf Käser: … das Zeitliche habe er nicht gesegnet
Neue Zürcher Zeitung, 29.1.1987
Peter M Graf.: Singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet
Der kleine Bund, Bern, 19.12.1992
Götz-Dietrich Schmedes / Hans-Jürgen Krug: Das Wort in ständigem Wechsel mit dem Schweigen
Frankfurter Rundschau, 19.12.1992
Christoph Janacs: Sand sein, nicht Öl im Getriebe
Die Presse, 27.1.2007
Roland Berbig: Maulwurf im Steingarten
Der Tagesspiegel, 1.2.2007
Helmut Böttiger: Stil ist ein Explosivstoff
Süddeutsche Zeitung, 1.2.2007
Michael Braun: Narr auf verlorenem Posten
Basler Zeitung, 1.2.2007
Ole Frahm: Der Konsequente
Frankfurter Rundschau, 1.2.2007
Martin Halter: Seid Sand im Getriebe!
Tages-Anzeiger, 1.2.2007
Samuel Moser: Spuren eines Maulwurfs
Neue Zürcher Zeitung, 1.2.2007
Iris Radisch: Man sollte gleich später leben
Die Zeit, 1.2.2007
Sabine Rohlf: Dichtkunst mit Maulwürfen.
Berliner Zeitung, 1 2.2007
Hans-Dieter Schütt: Der linke Augenblick
Neues Deutschland, 1.2.2007
Wulf Segebrecht: Schweigt still von den Jägern
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.2007
Jürgen P. Wallmann: Gedichte und Maulwürfe
Am Erker, 2007, Heft 53
Jörg Drews: Wenn die Welt zerbricht
Die Furche, 1.2.2007
Günter Eich – Ein Film von Michael Wolgensinger aus dem Jahr 1972.
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