Günter Kunert: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Über das Lehren ohne Schüler“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Über das Lehren ohne Schüler“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Über das Lehren ohne Schüler

Lehren ohne Schüler
Schreiben ohne Ruhm
Ist schwer.

Es ist schön, am Morgen wegzugehen
Mit den frischgeschriebenen Blättern
Zu dem wartenden Drucker, über den summenden Markt
Wo sie Fleisch verkaufen und Handwerkszeug:
Du verkaufst Sätze.

Der Fahrer ist schnell gefahren
Er hat nicht gefrühstückt
Jede Kurve war ein Risiko
Er tritt eilig in die Tür:
Der, den er abholen wollte
Ist schon aufgebrochen.

Dort spricht der, dem niemand zuhört:
Er spricht zu laut
Er wiederholt sich
Er sagt Falsches
Er wird nicht verbessert.

 

Von der Widerstandskraft der Unvernunft

Ein autobiographisches Gedicht – was wohl sonst? Obschon keineswegs von schwarzen Wäldern und den Zigarren die Rede ist; obschon das bekennerische Ich in die dritte Person versetzt und damit „verfremdet“ wird. Immerhin: Das Echtheitssiegel für das selbstkritische und merkwürdig hilflose Geständnis bildet die dritte Strophe, die sich auf das verpaßte Treffen mit dem Chauffeur bezieht, weil sie für das Verständnis des Ganzen völlig überflüssig ist: Sie dient nur der Faktentreue des erinnerten Augenblickes. Abgesehen davon hebt das Gedicht (nach häufig geübter Brechtscher Manier) sinnspruchartig an, freilich mit einer unstimmigen psychologischen Prämisse, verbunden mit einem logischen Denkfehler. Denn Lehren ohne Schüler ist nicht nur schwer, wie deklariert, es ist sogar absolut unmöglich. Und Schreiben im Zustand des Ruhmes, des Berühmtseins, erweist sich für den Berühmten eher schwieriger als vordem, da ihm nun die Erwartung seiner Leser, seiner Kritiker, seines Verlegers bewußt ist – ganz zu schweigen von dem inneren Zwang, nicht hinter die den Ruhm voraussetzende literarische Leistung zurückfallen zu dürfen.
In manchen von Brechts Gedichten der mittleren und späteren Periode begegnet man ähnlichen auf den ersten Blick frappierenden Formeln, die sich beim zweiten Hinsehen in Luft auflösen. Vermutlich entsteht solch Apodiktum wie das obige aus einer Intention, die zu Lebzeiten des Dichters in Deutschland zur Selbstverständlichkeit entartet war: nämlich sich als Praeceptor Germaniae zu verstehen. Das „Theater als moralische Anstalt“, die Poesie als Mittel der Menschenbildung und Humanisierung, mit einem Wort: Literatur als Instrument der Aufklärung und Erziehung spielt bei Brecht, zwar marxistisch eingefärbt und dementsprechend zweckgerichtet, die altbekannte und überlieferte Rolle.
Nicht allein in den ausdrücklich als solche bezeichneten „Lehrstücken“, auch in einer Vielzahl der Gedichte wird der „Lehrauftrag“ vollzogen. Wollte man unter diesem Aspekt Brechts Werk durchforschen, man würde wohl über die nahezu obsessiv betriebene Didaktik staunen.
In diesem Gedicht nun, im Exil geschrieben, kehrt sich unvermittelt und entgegen dem Titel das Verhältnis um: Hier spricht nicht länger der sich und seiner „großen Sache“ gewisse Lehrer, sondern ein unerwartet vom Selbstzweifel befallener Autor, dessen Rolle fast schülerhaft zu nennen ist: Er sagt Falsches und wird nicht verbessert. Trotz der Kargheit nüchterner Sprache wird Hilflosigkeit spürbar.
Wir kennen Brechts Arbeitsmethode, die unter anderem darin bestand, Vertrauenspersonen seine Texte lesen und korrigieren zu lassen. Hier aber ist nun offenkundig niemand, der den verbessernden Ratschlag geben könnte, und man weiß nicht, ob das an der Abwesenheit von „Schreibhelfern“ liegt oder ob sich der verbesserungssüchtige Dichter nicht in einer Lage befindet, in der guter Rat unbezahlbar, gar unkäuflich ist. Und: Geht es da eigentlich nur um die Verbesserung des Falschen? Ginge es nicht eher darum, das Richtige zu sagen?
Doch gibt es das überhaupt in Hinblick auf Lyrik? Unterscheiden wir etwa zwischen richtigen und falschen Gedichten? Oder nicht vielmehr zwischen guten und schlechten? Und wir besitzen weitaus gewissere Überzeugungen von den Kriterien, nach denen wir urteilen, als davon, was denn ein „gutes“ Gedicht sei. Freilich: Die Kriterien sind relativ: Sie unterliegen den Zeitströmungen, dem geschichtlichen Wandel. Dergestalt erscheinen uns heute die aufrufartigen Gedichte Brechts überanstrengt, ja, mißlungen, da die Synthese zwischen dem poetischen Impuls und der politischen Absicht mehr einer Zwangsvereinigung gleicht; das politische Moment, historisch widerlegt, liegt wie Mehltau auf solchen Arbeiten.
War es nicht dennoch richtig, damals das Falsche, nämlich das Versimpelnde zu sagen? Und wäre nicht, durch Verbesserung, die angestrebte Wirkung gemindert worden? Der Notruf nach Verbesserung bezeugt, daß die Aufgabe des ästhetischen Primats, wie berechtigt auch immer, ein Stück Selbstaufgabe bedeutet, eine psychische Amputation, derzufolge „die Idee“ mehr und mehr zur Krücke wird. Nur: Zu verbessern bleibt dann nur noch die Prothese.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00