Günter Kunert: Zu Christian Morgensterns Gedicht „Aus stillen Fenstern“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christian Morgensterns Gedicht „Aus stillen Fenstern“ aus Christian Morgenstern: Gesammelte Werke in einem Band. –

 

 

 

 

CHRISTIAN MORGENSTERN

Aus stillen Fenstern

Wie oft wirst du gesehn
aus stillen Fenstern,
von denen du nichts weißt…
Durch wie viel Menschengeist
magst du gespenstern,
nur so im Gehn…

 

Pendelschlag der Schicksalsuhr

Christian Morgenstern kennen wir (falls überhaupt noch) als den Dichter des Grotesken. Er ist der Erfinder des Herrn Korff, der wiederum der Erfinder der „Tag-Nacht-Lampe“ ist. Von Morgenstern stammen witzige Nonsens-Verse mit bedenklichem Hintergrund und jenes gänzlich wortlose Gedicht „Fisches Nachtgesang“. Im Gegensatz zu diesen heiteren, Schauspielergenerationen mit Solo-Nummern ausstattenden Hervorbringungen zeigt sich dem Leser hier ein anderer Morgenstern. Denn in diesen sechs knappen Zeilen steckt eine Ungeheuerlichkeit, die einem erst nach mehrmaligem Lesen aufgeht, sobald man hinter die fast banale Oberfläche gelangt. Skizzenhaft wird ein Vorgang evoziert, den man zu den unübersehbaren Verlusten menschlicher Verhaltensweisen rechnen darf: die Anschauung der Welt als Bühne aus einem Logenplatz, und zwar in einem nicht übertragenen Sinn.
In jener vor vielleicht vierzig oder mehr Jahren beendeten Antike drückte sich Leben auch darin aus, Leben zu beobachten. Die Ellbogen kissengeschützt aufs Fensterbrett gestützt, blickte man in „seine“ Straße hinein und hinab sowohl erwartungsvoll wie entspannt, gefesselt von einem sich doch kaum verändernden Anblick. Mit einem großen Wort könnte man sogar von einer spezifischen Daseinsform reden – wozu man beispielsweise durch E.T.A. Hoffmanns Geschichte „Des Vetters Eckfenster“ berechtigt wäre, in welcher der körperbehinderte Vetter nur noch durch das besagte Eckfenster am Leben teilnimmt und sein Hinausschauen zu einem wichtigen, wenn auch eingeschränkten Mittel der Kommunikation geworden ist.
Woher eigentlich rührte die Faszination solchen Betrachtens der Außenwelt? Ich vermute, die Distanz und der besondere Blickwinkel verfremdeten alles Angeschaute dermaßen, daß es seine Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit einbüßte. Selbst bekannte Personen wurden fremd, eigenartig, möglicherweise „gespenstisch“, wie es uns der unfreiwillige Reim nahelegt.
Wer vor der Auto-Ära in einer Großstadt und bei sinkendem Tageslicht sich auf den Fensterblick einließ, wurde bald genug von der Merkwürdigkeit dieser Betrachtung angerührt: Er, allen zu Häupten, war über sie erhoben (und damit ein bißchen erhaben), als fände das Schauspiel „Passanten“ nur für ihn statt, während die Fußgänger, einander in gleicher Augenhöhe begegnend, von dem Blick über sich nichts ahnten und der ihnen erst bewußt werden konnte, sobald sie selber die entsprechende Position einnahmen: die eines Gottes, eines stillen Unbeteiligten am Geschick der Menschheit, deren Mitglieder man furchtlos zu betrachten vermochte, da die Perspektive sie verzwergte. Heute sind die Fenster geschlossen, die Gardinen zugezogen: Es gibt nichts mehr zu sehen, da sich das Leben aus den Straßen zurückgezogen und diese dem global wirksamen Mordinstrument „PKW“ überlassen hat.
Die im Gedicht verborgene Ungeheuerlichkeit besteht aber nicht in dem, was man als „Verlustanzeige“ deklarieren könnte, sondern in etwas ganz anderem, das zu definieren und zu formulieren ich lieber Egon Friedell, dem Literaten und Kulturphilosophen, überlassen möchte. Er schrieb einst über den entgegengesetzten Blick, nämlich den von der Straße ins Fenster, doch halte ich seine Sätze für Morgensterns Gedicht und unsere Meinung dazu für ebenso gültig:

Man glaubt beim Anblick dieser Phantome, unmittelbar den lautlosen Pendelschlag der Schicksalsuhr zu vernehmen. Man erfährt nie, worum es sich handelt, und weiß doch mehr, als man je erfahren könnte. Es sind die vollkommensten Theatervorstellungen der Welt. Sind wir in solchen Blicken dem wahren Kern des Lebens, dem Herzen seines Geheimnisses nicht näher, als wenn wir uns in seine betäubenden und verwirrenden Bewegungen mischen?

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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