Inge Müller: Daß ich nicht ersticke am Leisesein

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Inge Müller: Daß ich nicht ersticke am Leisesein

Müller-Daß ich nicht ersticke am Leisesein

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HÖHER
Als Gagarin, Titow und die andern
Ihresgleichen und nicht ihresgleichen
Hat sich erhoben Valentina Tereschkowa:
Zweihundert Kilometer
Über den Herdrauch.

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Nach den Sternen greifen die Töchter
Der Revolution, die begonnen hat
Mit dem Kampf um die Suppe.

 

 

Nachwort

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Nach ihrem Tod erschienen 1976, 1985 und 1996 vor allem Gedichte Inge Müllers. An die Stelle der Autorin brisanter Gegenwartsstücke ist in der Rezeption die Lyrikerin getreten, die um ihr Leben schrieb. Sie war weder nur die eine noch nur die andere. Inge Müller hat immer geschrieben, und sie hat sich in nahezu allen Genres versucht: vom Schlager bis zum Sketch, vom Kindervers bis zum Produktionsstück, vom Jugendhörspiel bis zur Lyrik, von der Kinderrevue bis zur Erzählung.
Der Vorgang des Verschüttetseins, des Lebendigbegrabenseins – was Inge Müller nicht nur in ihren drei Gedichten Unterm Schutt aus existentieller Notwendigkeit heraus erinnert und poetisch bearbeitet – betrifft auch die Hinterlassenschaft der Autorin. Die Geschichte des Nachlasses ist die Geschichte von der Verschüttung ihrer Autorschaft unter dem Schutt von Nachlässigkeit, Mißachtung, Verfälschung, Enteignung. Was übrigblieb, ist zufällig.
Nach dem Tod Inge Müllers ging ihr Nachlaß in den Besitz ihres Mannes über. Ob noch zu Lebzeiten oder später auch andere – Verwandte, Freunde, Kollegen – Texte, Entwürfe, Briefe u.a.m. Inge Müllers erhalten und behalten haben, ist unbekannt. 1964 oder 1965 hatte Inge Müller ein Typoskript mit Gedichten zusammengestellt, das sie Joachim Schreck, damals Lektor beim Aufbau-Verlag, zur Publikation übergab. Die Initiative dazu war, wie Schreck sich erinnert, von Heiner Müller ausgegangen, Inge Müller sei verhaltener gewesen, habe Skrupel gehabt. Bei einem der Gespräche, die Joachim Schreck mit Inge Müller führte, sei auch der damalige Lektoratsleiter Günter Caspar dabeigewesen. Caspar war beeindruckt von den Arbeiten Inge Müllers und sehr interessiert, sie als Autorin für Aufbau zu gewinnen. Die dann im Almanach des Aufbau-Verlags, Neue Texte 65, publizierten Gedichte sollten eine Art Vorankündigung für einen nachfolgenden Gedichtband sein, der dann allerdings nicht erschien. Wenige Jahre später verließ Joachim Schreck den Verlag. Erst Ende 1969 wurde die damalige Text-Zusammenstellung erneut im Lektorat diskutiert, der unter dem Titel Du vor du hinter mir für 1970 geplante Band wurde dann jedoch zurückgestellt.
Dieses Satzmanuskript bildete die Grundlage für die Herausgabe des Poesiealbum 105 durch Bernd Jentzsch sechs Jahre später: es enthielt 37 Gedichte, also die erste größere Auswahl aus der Lyrik Inge Müllers. In seinem Gutachten zum Antrag auf Druckgenehmigung, die umstandslos erteilt wurde, schrieb Jentzsch: „Eine Publikation der Gedichte von Inge Müller stand jedoch bisher noch aus, und gerade das wurde als eine schmerzliche Lücke in unserer Editionspolitik empfunden, im Inland wie auch im Ausland. – Wir wollen diese Lücke nun mit einer knappen Auswahl aus dem umfangreichen Nachlaß der Autorin schließen helfen.“
Anfang der achtziger Jahre erfuhr Richard Pietraß vom Projekt des Inge-Müller-Bandes bei Aufbau, das ihn interessierte. Caspar hielt das vorliegende Satzmanuskript aus Umfangsgründen nicht geeignet für den Druck. Pietraß erhielt von Heiner Müller, der inzwischen aus Pankow in eine Wohnung am Tierpark gezogen war, die Erlaubnis, im Nachlaß von Inge Müller nach weiteren Gedichten zu suchen. Das Material, das Pietraß durchsah, war in keiner Weise sortiert. Es gab nur gemeinsame Arbeitsmappen, die Typoskripte oder Manuskripte in den Handschriften beider enthielten. Pietraß war ausschließlich an Lyrik interessiert und fand auch weitere Gedichte, von denen er eine Auswahl in seinen Band aufnahm. Auf nachweislich von Inge Müller stammende Prosatexte stieß er nicht, hingegen auf Tagebücher und Briefe. Die biographischen Informationen, die in Pietraß’ Nachbemerkung in dem Band Wenn ich schon sterben muß eingingen, entstammen Gesprächen mit B.K. und Christa Tragelehn, Wolfgang Müller, Richard Leising, Karl Mickel und Adolf Endler, die Inge Müller gut gekannt hatten. Auch für diesen Band (noch unter dem Titel Du vor du hinter mir) wurde die Druckgenehmigung ohne weiteres erteilt und sogar die beantragte Auflage von 2500 Exemplaren um 500 Exemplare erhöht. Wulf Kirsten spricht in seinem Gutachten den Gedichten in ihrer Gesamtheit den Charakter einer „lyrischen Autobiographie“ zu, Wolfgang Trampe resümiert in seinem Gutachten: „Den Lesern in der DDR aber werden spät Gedichte gegeben, die aus der Lyrik unseres Landes nicht mehr fortzudenken sein werden, Gedichte, die den Blick der Nachgeborenen aushalten.“
Der Nachlaß Inge Müllers wurde also wahrscheinlich erstmals durch Richard Pietraß im Zusammenhang mit der Herausgabe des Bandes Wenn ich schon sterben muß gesichtet. Ein Nachlaß Inge Müllers, als Sammlung erkennbar von Heiner Müllers Arbeitsmaterialien getrennt, existierte jedoch damals nicht. Als seit den späten achtziger Jahren Studierende der Humboldt-Universität – zuerst Annett Gröschner, die sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit mit der Lyrik Inge Müllers beschäftigte – sich für den Nachlaß interessierten, wurden die Materialien, die sich damals noch in der Wohnung Heiner Müllers befanden, mehrfach hin- und her geschichtet, so daß neue Konstellationen entstanden.
Für die umfangreiche Edition von Ines Geipel war die Situation wiederum eine andere; zwar waren jetzt Materialien, die als Nachlaß Inge Müllers innerhalb des Nachlasses von Heiner Müller galten, von diesem separiert. Aber durch die jahrelange gemeinsame Arbeit beider Autoren, durch die ungeordnete Aufbewahrung und wahrscheinlich nie systematisch betriebene Zuordnung der Materialien war eine schier untrennbare Mischung entstanden. Hinzu kamen erschwerend Arbeitsgewohnheiten wie die, auf die Rückseiten von (hand- oder maschinenschriftlich) bereits beschriebenen Blättern zu schreiben, zusammengehörende Projekte nicht in einer Mappe aufzubewahren, Texte selten zu datieren, gegenseitig handschriftlich Typoskripte oder Manuskripte zu korrigieren und zu ergänzen u.a.m.
Nachdem der Nachlaß Heiner Müllers und, darin eingeschlossen, der Nachlaß von Inge Müller in die Stiftung Archiv der Akademie der Künste gelangt waren, erfolgte im Herbst 2000 durch die Archivarin Maren Horn und die Literaturwissenschaftlerin Julia Bernhardt eine erste vorläufige Trennung. In 17 Kästen waren die Inge Müller zugeordneten Materialien gesammelt. Inzwischen sind zum damaligen Zeitpunkt dort vorhandene Briefe, Tage- bzw. Notizbücher und weiteres einschlägiges Material entnommen und gesperrt. Die gemeinsamen Stücke, Hörspiele und andere Projekte sind dem Nachlaß Müllers zugeschlagen.
Die Nachlaß-Situation ist im Fall von Inge Müller besonders schwierig für eine zuverlässige Edition: Bei dem ungeordneten, überwiegend undatierten Material ist ungewiß, ob es sich im das gesamte nachgelassene Material zu Inge Müllers Arbeiten handelt oder um das, was mehr oder weniger zufällig übrigblieb.

Zu letzterer Vermutung geben mehrer Beobachtungen Anlaß. Das Kinderbuch Zehn Jungen und ein Fischerdorf ist 1958 im Weimarer Gebr. Knabe Verlag erschienen unter dem Autornamen Ingeborg Müller. Mit zwei positiven Gutachten war der Titel zur Druckgenehmigung eingereicht, und sie war erteilt worden. Mehrfach taucht der Titel auf als Publikation Inge Müllers: in ihrer Liste für die Steuererklärung, in ihren Meldungen an den Schriftstellerverband. Im Nachlaß gibt es jedoch kein einziges Blatt, das mit diesem Buch in Beziehung zu bringen ist. Die Annahme, Inge Müller hätte nach Abschluß des Projekts Entwürfe und Fassungen entsorgt, ist unwahrscheinlich: warum hat sie dann zahlreiche andere Blätter mit Arbeitsnotizen, sogar Einkaufszettel, aufbewahrt? Möglich wäre auch, daß dieses Material – zusammen mit anderem? – beim Umzug von Lehnitz nach Pankow versehentlich aussortiert wurde oder verlorenging. Auf jeden Fall existiert ein publiziertes Buch, ohne daß es im Nachlaß Hinweise auf dessen Entstehung gibt.
Könnte dies auch für andere Projekte gelten? Daß Inge Müller für das Maxim-Gorki-Theater die beiden zeitgenössischen Stücke Rummelplatz von MacCall und Aristokraten von Pogodin und für das Deutsche Theater Wer kennt schon Konsk? von Katajew bearbeitet hat, ist belegt durch eigene Erwähnungen, schriftliche Zeugnisse Dritter, ausgewiesene Honorarüberweisungen und durch – allerdings nur wenige – schriftliche Entwürfe, Notizen u.a. zu den Bearbeitungen. Rummelplatz und Aristokraten wurden im Gorki-Theater aufgeführt, im Theater-Archiv ist die Bearbeitung beider Stücke durch Inge Müller oder ihre Beteiligung daran nicht nachweislich dokumentiert (Gleiches gilt für das Katajew-Stück). Hat sie ihre Bearbeitung in einem oder allen drei Fällen nicht zum Abschluß gebracht, wurde sie nicht angenommen, der Auftrag zurückgezogen? Durfte ihr Name nicht mit diesen Bearbeitungen in Verbindung gebracht werden, nachdem Heiner Müller wegen „konterrevolutionärer Einstellung“ im Kontext mit der Aufführung seines Stücks Die Umsiedlerin aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden war?
An der Stückfassung ihres Hörspiels Die Weiberbrigade hat Inge Müller, eigenen Angaben sowie dem Briefwechsel mit dem Dramaturgen John vom Deutschen Theater zufolge, beinahe vier Jahre gearbeitet, ohne sie abzuschließen. Ist es wahrscheinlich, daß in diesem Zeitraum bis auf das Vorspiel und einige Szenenentwürfe weiter nichts entstanden ist, oder ist verloren gegangen, was sie geschrieben hat?
Die Frage nach dem, was möglicherweise fehlt, stellt sich insbesondere bei den Prosatexten, die zum Jona-Komplex gehören. Es gibt Manuskripte, die nur aus einem, oft nur ein paar Sätzen bestehen oder nur bis zur Hälfte des Blattes beschrieben sind. Es gibt Manuskripte, die fortlaufend bis zum Blattende beschrieben sind und mitten im Satz abbrechen – die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß der Text weiterging, die ihm folgenden Blätter aber nicht mehr auffindbar sind. Im Nachlaß sind zwei detaillierte Gliederungen für die Konzeption des Jona-Stoffes in der Handschrift Inge Müllers überliefert. Den Gliederungspunkten entsprechen Titel; einige der zu den Titeln gehörenden Prosatexte liegen vor, andere nicht – sind sie nie geschrieben, verlorengegangen oder einem Lektor übergeben worden?
Es ist nicht ungewöhnlich, daß sich auf einem Blatt sowohl die Handschrift von Inge Müller als auch die von Heiner Müller finden. Wer hat wessen Arbeit korrigiert und ergänzt? Wenn ein maschinengeschriebenes Blatt handschriftlich korrigiert ist, läßt sich daraus schließen, daß beides auf dieselbe Urheberschaft zurückgeht? Wenn das Typoskript eines Gedichts von der handschriftlichen Fassung Inge Müllers abweicht, ist dann davon auszugehen, daß die Korrektur und das Typoskript von ihr stammen? Fragen und Problemstellungen dieser Art lassen sich ins Unendliche extrapolieren.

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Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Edition zu sehen. Sie ist der Versuch einer Bestandsaufnahme auf der Basis des Materials, das zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Hinterlassenschaft Inge Müllers angesehen wird. Aus Umfangsgründen habe ich auf die Aufnahme der Kinderbücher, Erzählungen und anderer Texte für Kinder verzichtet. (Sie sind in der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin zugänglich.) So vollständig wie möglich soll hier präsentiert werden, was Inge Müller als Autorin hinterlassen hat, so daß die Leserin, der Leser überhaupt erst einmal in den Stand versetzt werden, ohne wertende oder gar zensierende Auswahl oder Eingriffe sich ein Bild von der Autorin Inge Müller zu machen.
Der größte Teil dieser Texte wird erstmals veröffentlicht. Bis auf die 22 Gedichte, die zu Lebzeiten Inge Müllers erschienen, und bis auf das Typoskript mit 81 Gedichten, das sie Joachim Schreck übergab, hat Inge Müller keine Ordnung ihrer Gedichte hergestellt. Die Nachlaßeditionen von Bernd Jentzsch, Richard Pietraß und Ines Geipel folgten jeweils einem biographischen Konzept und gaben damit begründbare Lesarten vor. Begründbar nicht zuletzt auch deshalb, weil die Lebensgeschichte Inge Müllers mit der Zäsur des Jahres 1945 die Grundlage und den Antrieb ihres Schreibens bildet. Für die knapp 300 Gedichte, die hier abgedruckt sind, wollte ich eine andere Ordnung finden, die nicht die Biographie, sondern die Gedichte selber zum Ausgangspunkt nimmt. Fast alle Gedichte Inge Müllers weisen eine strukturelle und thematische Bezogenheit auf, die häufig auch durch eine direkte Ansprache sichtbar wird.
Im ersten Teil, Stufen, stehen Ich-Gedichte: Hier spricht Inge Müller von ihrer Erfahrung mit dem Schreiben, dem Denken, der Krankheit, von ihrer Kindheit und den Kriegstraumata, vom Alltag. Die meisten ihrer Gedichte lassen sich dieser Gruppe zuordnen. Der zweite Teil, Die Nacht sie hat Pantoffel an, versammelt Du-Gedichte, Liebesgedichte, imaginäre Dialoge, in denen Sehnsucht und Abschied, Leichtigkeit und Spott, Entschlossenheit und Trauer Gestalt annehmen. Gerade von diesen Gedichten hat Inge Müller nur wenige veröffentlicht, sie wollte zweifellos die Intimität ihrer Liebesbeziehungen wahren. Der dritte Teil, Es führt kein andrer Weg als vorwärts, läßt sich als Wir-Gedichte beschreiben; die Perspektive einer Gemeinschaft – auch wenn es die Gemeinschaft von Außenseitern ist −, einer Zugehörigkeit ist hier bestimmend, generationsspezifische Erfahrungen, bestimmte politische Haltungen werden thematisiert. Im vierten Teil, Der Star singt ach und weh, finden sich Sie-Gedichte, die von anderen sprechen, wobei ihre Distanziertheit häufig als Ausdruck eines notwendigen inneren Abstands, also als Distanzierung, zu verstehen ist. Es handelt sich hier aber auch um Sach-Gedichte, um alltägliche Beobachtungen und anderes. Der fünfte Teil, Europa hat Frieden Europa hat Ruh, bündelt Ihr-Gedichte; von Fremdheit, Irritation, Abgrenzung ist die Rede, Freundschaften werden geprüft, die Verweigerung von Engagement, die Aufgabe von Idealen werden thematisiert.
Bis auf die Kurzgeschichten Die Radfahrer und möglicherweise … macht euch keine Sorgen hat Inge Müller keine Prosa veröffentlicht (mit Ausnahme der Arbeiten für Kinder). In die Edition von Ines Geipel waren erstmals Texte aus dem Jona-Fragment sowie einige Erzählungen aufgenommen worden. Der größere Teil der Prosatexte wird hier nun zum erstenmal publiziert. Im Nachlaß gibt es zahlreiche Anfänge und Entwürfe zu Erzählungen sowie zwei Fassungen eines Romananfangs unter dem Titel Es ging ein Kind…, der wahrscheinlich in den frühen fünfziger Jahren entstanden ist. Die von Inge Müller bevorzugte Prosa-Form ist ersichtlich die Kurzgeschichte bzw. die Erzählung. Einige ihrer Texte können wegen ihrer Prägnanz als Anekdoten gelten. Auch da, wo sie insgesamt einen größeren Zusammenhang anvisiert, konzipiert sie das Material nicht als herkömmliche Romanform, sondern als Montage kurzer Prosa. Vor allem zwei Konzeptionen, die als geordnete Sammlung von Titeln im Archiv vorliegen, scheinen für die Arbeit Inge Müllers eine Rolle gespielt zu haben: Das neunte Leben und Zäsuren im Alltag. Das traumatische Erleben von Kriegsereignissen, das in beiden Konzeptionen eine zentrale Rolle spielt, ist zwar augenscheinlich von lebensgeschichtlicher Erfahrung geprägt, kann aber deshalb nicht umstandslos als autobiographische Prosa verstanden werden, sondern sucht ausdrücklich die literarische Gestaltung als distanzschaffendes Moment. Das Prinzip dieser bei den vorliegenden Konzeptionen übernehmend, habe ich achtzig Prosatexte unterschiedlichen Umfangs und aus unterschiedlichen Erzählperspektiven an einer imaginären biographischen Zeitachse entlang zusammenmontiert und dem Block den Titel (Ich Jona) gegeben. Auf diesen Prosa-Block folgen 7 Kurzgeschichten bzw. Erzählungen.

Auf den Abdruck der gemeinsam mit Heiner Müller erarbeiteten Stücke/Hörspiele Der Lohndrücker, Die Korrektur, Klettwitzer Bericht / Die Brücke fällt aus habe ich verzichtet, weil sie in der Werkausgabe Heiner Müllers gut zugänglich sind. Zusätzlich zur Hörspielfassung von Die Weiberbrigade habe ich Entwürfe zur Stückfassung aufgenommen, die einen Eindruck von der Konzeption und der Sprache des Stücks vermitteln. Lediglich drei Entwürfe geben Zeugnis von Inge Müllers Plan, den Jona-Stoff auch dramatisch zu bearbeiten. In denselben Kontext gehören die Entwürfe und Szenen zu einem Kriegsstück oder -hörspiel, deren weibliche Hauptfigur Hanne eine Jona-Figur ist – also eine weibliche Figur, mittels derer Inge Müller biographische Erfahrung gestaltet. Auch die kurze Szene Der Kämpfer thematisiert den Krieg.

Unter dem Arbeitstitel Das Gewehr plante Inge Müller ein Jugendhörspiel, das sie in der Zeit um den Mauerbau herum ansiedelte und von dem sie etwa ein Drittel ausarbeitete. Ebenfalls als Jugendhörspiel vorgesehen war die Bearbeitung der Erzählung Petja über dem Strom von Boris Polewoi, von der nur Entwürfe existieren – diese allerdings zeigen, wie souverän Inge Müller mit der Vorlage umging.
Es folgen Spiegel, eine kurze Szene, und (Nächtliche Szene), eine Beobachtung von ihrem Krankenhausfenster aus, die Inge Müller in ihr Notizbuch schrieb, ohne sie weiter zu bearbeiten. Der Sketch Ischias ist wahrscheinlich der früheste überlieferte Text Inge Müllers.

Den Abschluß bildet Unterwegs, die Neufassung des Stücks von Viktor Rosow, die Inge Müller für das Deutsche Theater schrieb…

Sonja Hilzinger, aus dem Nachwort, Januar 2002

 

Sie gilt vor allem als faszinierende Lyrikerin:

Inge Müller, die früh starb und deren Werk bisher nur in Auszügen vorliegt. Doch sie ist mehr.
Dieser Band mit überwiegend unveröffentlichtem Material präsentiert erstmals komplett ihre literarischen Texte. Er zeigt Inge Müllers Vielseitigkeit und die beeindruckende Kraft ihrer Stimme in den verschiedensten Genres. In atemloser, insistierender Dringlichkeit umkreisen ihre Gedichte, ihre Prosa und ihre dramatischen Arbeiten das zentrale Thema: das Trauma vom Krieg und Verschüttetsein. Daneben stehen präzise, bis ins Detail fixierte Beobachtungen des Alltags und der Umwelt, bei aller Schärfe voll Komik und Ironie. Die Sammlung bietet eine überraschende Entdeckung: das Gewicht der dramatischen Arbeiten, selbst unvollendeter Szene, steht in nichts dem der Lyrik nach. Die Herausgeberin Sonja Hilzinger hat den fragmentarischen Nachlaß Inge Müller zu einem Mosaik geordnet, das ein so genaues Bild vom Werk Inge Müllers bietet, wie es heute möglich ist.

In den fünfziger Jahren zählte Inge Müller (1925–1966) zu den bekanntesten Kinderbuch-Schreibern und galt als erfolgreiche Hörspiel- und Stückautorin. Dieser Ruf trat dann hinter dem der Co-Autorin Heiner Müllers zurück. Seit der postumen Veröffentlichung ihrer Gedichte fasziniert sie Generationen als Lyrikerin mit ihrer beunruhigenden, einsamen Stimme. Der vorliegende Band präsentiert jetzt erstmals eine Sammlung sämtlicher Texte von Inge Müller mit Ausnahme der Arbeiten für Kinder. Der überwiegende Teil davon ist bisher unveröffentlicht. Es ist eine Bestandsaufnahme des Materials aus dem Inge-Müller-Archiv. Die Nachlaß-Situation ist in diesem Fall besonders schwierig. Es handelt sich um ungeordnete, überwiegend undatierte Papiere, von denen ungewiß ist, ob es sich tatsächlich um den gesamten Nachlaß handelt oder um mehr oder weniger zufällig Erhaltenes. Nicht selten befindet sich auf einem Blatt zugleich die Handschrift von Inge und von Heiner Müller. Wer hat wessen Arbeit korrigiert oder ergänzt? Wenn ein maschinengeschriebenes Blatt handschriftlich korrigiert ist, läßt sich daraus schließen, daß beides auf dieselbe Urheberschaft zurückgeht? Fragen und Probleme, die einer so komplexen Edition wie dieser bisher im Wege standen. Die Herausgeberin Sonja Hilzinger stellte sich diesen Schwierigkeiten mit einem Ordnungskonzept, das von den thematischen und strukturellen Bezügen der Arbeiten ausging. So ergibt sich trotz des teilweise fragmentarischen Zustandes der Texte eine geschlossenes Bild vom Werk der Autorin, das sie in ihrer überraschenden Vielfalt präsentiert und in der beeindruckenden Kraft ihrer Ausdrucksvarianten.

Aufbau Verlag, Klappentext, 2002

 

Fragt den Hund, nicht mich!

– Eine Biographie und eine Werkausgabe Inge Müllers. –

Gattinnen-Literatur ist ein böses Wort. Wie falsch solch ein Vorbehalt sein kann, erwies erst im vergangenen Jahr Veza Canettis Der Fund, die letzten Stücke aus einem höchst bemerkenswerten Nachlaß. Inge Müller, Jahrgang 1925, könnte zu einem vergleichbaren Fall werden. Mit zwei gerade erschienenen Büchern, einer Biographie und der bislang vollständigsten Werkausgabe, tritt sie jetzt endgültig aus dem Schatten Heiner Müllers hervor. Posthum, wie sich versteht, denn auch sie zerbrach an ihrem Schicksal. Nach zahlreichen vorangehenden Versuchen nahm sie sich 1966 das Leben. Ihr Grab auf dem Berliner Friedhof Pankow hat Heiner Müller nach der Beerdigung nie wieder besucht. Er bezeichnete sie einmal als Penthesilea und attestierte ihr „eine kleistische Vorstellung von der Liebe“. Nicht bloß im Epitaph „Todesanzeige“, sondern in vielen seiner Texte läßt sich die „Frau mit dem Kopf im Gasherd“ nicht mehr auslöschen – überall spukt sie als Wiedergängerin herum. Zuvor ist Inge Müller darin als Koautorin präsent. Frühe Stücke wie „Der Lohndrücker“ und „Die Korrektur“ entstehen gemeinsam, beide Schriftsteller werden dafür mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet, doch Inge Müllers Name verschwindet später von den Titelblättern.
Für viele andere Arbeiten des Schriftstellerpaares läßt sich die wechselseitige Beteiligung kaum quantifizieren. Gleichwohl äußerte sich Heiner Müller nicht eben anerkennend über die literarischen Talente seiner Frau. Inge Müller war nicht nur als Kinderbuchautorin lange vor ihrem Mann erfolgreich. Mit einer Bearbeitung von Viktor Rosows Stück „Auf dem Wege“ eroberte sie auch vor ihm die Bühnen der DDR und konnte so 1965 eine Gastspieltruppe des Deutschen Theaters nach Frankfurt am Main begleiten. Doch trotz allgemeinen Beifalls für diesen „wahren Anfang“ zum Kulturaustausch, den damals Günther Rühle – „nicht nur aus Ost-West-Freundlichkeit“ – in dieser Zeitung pries, blieb ihr Name dabei unerwähnt.
In den letzten Kriegstagen versieht die zwanzigjährige Ingeborg Meyer – wie sie da noch heißt – ihren militärischen Zwangsdienst. Nach verschiedenen Reichsarbeitseinsätzen in der Steiermark wird sie 1945 als Luftwaffenhelferin eingezogen und nach einem Fluchtversuch zur Flak strafversetzt. Im Berliner Häuserkampf steht sie an den Geschützen der Wehrmacht, die am 23. April Bomben über ihrem Kopf auf die eigene Stadt abwirft und dabei beide Eltern tötet. Sie selbst wird von einem einstürzenden Haus verschüttet und überlebt in einem Hohlraum, aus dem man sie erst drei Tage später befreit. Am Tag nach der Kapitulation findet sie die toten Eltern im Keller ihres Hauses. Doch der nächste Schock folgt auf dem Fuße: Als sie endlich eine Karre zum Abtransport der Leichen gefunden hat, fehlt ein Ring der Mutter – und mit ihm ein Finger.
Die Gedichte, die diese Traumata bearbeiten, gehören zweifellos zu den erschütterndsten der deutschen Nachkriegslyrik. Etwa „Unterm Schutt III“:

Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich
Wir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich.
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht.
Fragt den Hund wie.

Oder „Trümmer 45“:

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch:
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch.

Zum Buch gebunden erschienen diese verzweifelten Versuche einer schreibenden Bewältigung erst zehn Jahre nach Inge Müllers Tod. Von nun an galt sie aber als Geheimtip in beiden Teilen Deutschlands. Inzwischen hat sich das geändert. Die kleine eingeschworene Gemeinde von einst hat spätestens seit 1996 starken Zulauf erhalten – dank einer umfangreichen Ausgabe mit Lyrik, Prosa und Tagebüchern (F.A.Z. vom 1. Oktober 1996). Besorgt hat sie Ines Geipel, eine ehemalige Spitzenathletin aus der DDR. Als die Germanistin im Sommer 1989 ihre Heimat über Ungarn verließ, führte sie im spärlichen Gepäck auch eine Ausgabe von Inge Müllers Gedichten mit.
Jetzt hat Ines Geipel die erste ausführliche Biographie über Inge Müller vorgelegt. Schon der Titel aus dem Gedicht „Unterm Schutt II“ –

Und dann fiel auf einmal der Himmel um
Ich lachte und war blind
Und war wieder ein Kind
Im Mutterleib wild und stumm

− rückt das persönliche Schicksal ins Zentrum. Ines Geipel bietet eine Lebensgeschichte im emphatischen Sinn, indem sie Historia mit Fabula glänzend zu verbinden versteht. Anders als bei all jenen blutleeren Autorenmonographien, die kärgliche Lebensspuren durch lange Werkzusammenfassungen und literaturwissenschaftliche Deutungen auszugleichen suchen, nimmt Ines Geipel das Genre der Biographie sehr ernst. Schon als Lyrikerin und Romanautorin hervorgetreten, gelingt es ihr, den Leser überall zum Augenzeugen zu machen. Behende wechselt Geipel dafür die Erzählperspektiven, aus nüchternen Faktenschilderungen gleitet sie in den personalen Stil oder die erlebte Rede. Starre Figuren auf Erinnerungsphotos setzt sie so ganz selbstverständlich in Bewegung, läßt sie reden und agieren. Gedichte und Aufzeichnungen der Porträtierten durchziehen als Evidenzspender den gesamten Erzählfluß. Stets bleibt dabei aber deutlich, wo die historische Dokumentation endet, um mit dramaturgischen Mitteln fortgeführt zu werden. Bedarf es einmal der Mutmaßungen, wird das ausdrücklich kenntlich gemacht.
Eine angemessenere Darstellungstechnik kann man sich für diese komplizierte Vita gar nicht vorstellen. Da sind etwa gleich drei Ehen zu beschreiben: Die ganz kurze der Trümmerfrau und Transportarbeiterin mit Kurt Loose, dem Freund von der Flak und Vater des gemeinsamen Sohnes Bernd. Die längere mit dem vornehmeren Herbert Schwenkner, der seiner Frau als Direktor des Friedrichstadtpalastes erste Aufträge für Kinderrevuen verschafft und ihr so den Weg zur Kinderliteratur ebnet. Schließlich die Verbindung mit Heiner Müller, der sich im Haus des linientreuen Parteifunktionärs Schwenkner in der Lehnitzer Staatssiedlung einnistet und einfach nicht mehr geht. Auch nach der baldigen Heirat 1955 wohnen Inge und Heiner Müller fast weitere fünf Jahre unter bizarren Umständen in diesem Haus. Eine Affäre mit Heiner Müllers jüngerem Bruder Wolfgang macht die Situation um nichts leichter. Diese persönliche Entwicklung ist zugleich auf die Klimawechsel in der DDR abzustimmen, was Geipel mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit gelingt: Der Aufstand von 1953, der aufkommende Stalinismus, die doktrinäre Verlogenheit, die Staatssicherheit mit dem IM Schwenkner im eigenen Haus, schließlich der Mauerbau – all das wird mit Leichtigkeit präsent gehalten, ohne deshalb langer Exkurse zu bedürfen.
Geipels Bericht über Inge Müllers Krankheit zum Tode besticht durch Takt und Sensibilität. Wirklich auflösen kann diese unselige Melange aus Tabletten, Alkohol, Depressionen und Suizidversuchen ohnehin niemand. Doch meint man einige Faktoren besser begreifen zu können: jahrelange physische Schmerzen, die unbewältigten Kriegserlebnisse, der unbeugsame Freiheitswille, die literarische Abwendung Heiner Müllers oder der gnadenlose Termindruck, mit dem das Deutsche Theater das vertraglich vereinbarte Stück „Die Weiberbrigade“ einfordert. Das Notat: „Selbstmörder: die, die sich nicht aufgeben wollen“, bleibt, wie so oft, höchst zwiespältig.
Inge Müller fühlte sich wohl die meiste Zeit unverstanden und einsam.

Die wenigen gelungenen Stellen
Aus meinen kaum gelungenen Gedichten
Wird man auswählen,
Um zu beweisen
Ich wäre euresgleichen.
Aber dem ist nicht so:
Denn ich bin
Meinesgleichen.
So werde ich auch im Tode
Mich zu wehren haben,
Und über meinen Tod hinaus
− wie lange wohl? −
Erklären müssen
Daß ich meinesgleichen war.

Statt auf Auswahl setzt die Ausgabe von Sonja Hilzinger auf Vollständigkeit. Bis auf die Gemeinschaftsarbeiten, journalistischen Beiträge und die Texte für Kinder sollen hier alle Werke versammelt werden. Das ist eine schwierige Aufgabe angesichts der vertrackten Archivlage. Denn Inge Müllers Kriegskatastrophe spiegelt sich darin – so ein Bild Hilzingers im Nachwort – als „Verschüttung ihrer Autorschaft“: Ihr Nachlaß war bis zum Jahre 2000 untrennbar mit dem Heiner Müllers verwoben. Die meist völlig ungeordneten Manuskripte des einen wurden auf freien Rückseiten vom anderen beschrieben, gegenseitige Ergänzungen und Korrekturen fließen bis zur Untrennbarkeit ineinander, Datierungen sind selten. Die Herausgeberin ordnet deshalb die knapp dreihundert Gedichte nicht chronologisch, sondern nach Sachgruppen, je nach der jeweiligen Perspektive der Sprecher und der Adressaten. Die autobiographischen Gedichte bilden dabei die größte Rubrik.
Auf die Lyrik, die nach wie vor Inge Müllers literarischen Rang begründet, folgt weitgehend unpublizierte Prosa. Im Zentrum stehen die um eine weibliche Jona-Figur arrangierten Fragmente, die mit Anspielung auf die biblische Geschichte von einem verschütteten Leben handeln. Obgleich sich handschriftliche Gliederungen finden, bleibt die Zuordnung von Nachlaßstücken zu dem Komplex problematisch. Die Herausgeberin hat achtzig Textteile in eine imaginäre Chronologie gebracht, die jedoch ein nachträgliches Konstrukt bleibt. Ein besonderer Reiz liegt in den autobiographischen Zügen und ihrer fiktiven Überformung. Von Einberufung und Flugabwehr, Kellern und Bunkern in den letzten Kriegstagen ist da viel die Rede. Gelegentlich wird es aber auch sehr konkret: Eine Frau drängt ihren Schwiegervater, den Ring seiner toten Frau durch Abtrennen des Fingers zu retten. Doch der alte Mann weigert sich, denn der Krieg ist aus. Viele dieser kurzen Erzählungen sind so pointiert, daß sie fast anekdotisch oder parabelhaft wirken, Brechts „Geschichten von Herrn Keuner“ nicht unähnlich.
Zu den dramatischen Arbeiten gehören auch Bearbeitungen und Entwürfe, unter anderem zu einem Jona-Stück. Am interessantesten ist das Hörspiel „Die Weiberbrigade“, das wie „Der Lohndrücker“ zu den Baustellen und Arbeiterversammlungen aus der Aufbauphase des Sozialismus führt. An einer Einrichtung für die Bühne arbeitete Inge Müller bis zuletzt. Dabei fühlte sie sich zu Kompromissen genötigt, zu denen sie nicht mehr bereit war. Ihr Stil ist in allen drei Gattungen präzise, einfach, konkret, berichtend, immer an der Wirklichkeit orientiert. Inge Müller glaubte, dem doktrinären Denken ihrer Umwelt nur durch die letzte mögliche Freiheit entkommen zu können. Eine feministische Stilisierung zum Opfer männlicher Auslöschung ihrer Autorschaft hat sie aber sowenig wie Veza Canetti verdient. Die starken literarischen Qualitäten beider Autorinnen stimmen zuversichtlich, daß das Urteil eines möglichst großen, unbefangenen Publikums sie vor solchen Vereinnahmungen bewahren wird.

Alexander Kosenina, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.7.2002

Elf Jahre lang

war Inge Müller mit dem Dramatiker Heiner Müller verheiratet. Es waren elf Jahre, die ihr Leben jedoch weniger geprägt haben, als die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend. Die 1925 geborene, spätere DDR-Autorin wurde nicht nur zur Wehrmacht einberufen, versuchte nicht nur zu desertieren, sie musste vielmehr Bombenangriffe überstehen und als Zwanzigjährige ihre Eltern tot aus den Ruinen ziehen. Zeit Lebens verfolgten sie die Erfahrungen, besonders die des im Bunker Lebendig-begraben-Seins – bis sie 1966 Selbstmord beging.
Vor allem als Lyrikerin wurde Inge Müller bekannt. In ihren ruhelosen Gedichten, die mal sorgfältig gereimt, mal von jedem formalen Ballast befreit sind, versuchte sie, die Ereignisse zu komprimieren: „Ich lernte Tote bergen / Lernte, Ertrunkene tragen (schwere Last).“ Anders als andere Autoren ihrer Generation ist ihre Sprache lakonisch und unmittelbar.
In den gesammelten Texten, herausgegeben von der Literaturwissenschaftlerin Sonja Hilzinger, nehmen Müllers Gedichte fast die Hälfte des Bandes ein. Hilzinger verweist im Nachwort auf ihre Schwierigkeiten: Heiner und Inge Müller schrieben an ihren Texten gemeinsam, und oft ist unklar, wer Urheber welcher Passage ist. Hilzingers Sammlung ist zwar verdienstvoll, aber erstens nicht vollständig, und zweitens hätte sie manchen Text unveröffentlicht im Archiv belassen können. Die zweite Hälfte des Bandes enthält Prosatexte, Müllers erfolgreiches Hörspiel „Die Weiberbrigade“, Skizzen, Entwürfe, Bruchstücke sowie die Neufassung eines Stückes des russischen Autors Rosow. Das meiste, das Inge Müller geschrieben hat, scheint unvollständig geblieben, viele der vollendeten Texte haben nur noch literaturhistorischen Wert: Sie besingen die Emanzipation der Frau im Sozialismus („Die Weiberbrigade“) oder die Entwicklung eines jungen Beatnicks zu einem arbeitsamen Mitglied eines Kombinats („Unterwegs“). Beeindruckend hingegen das Prosa-Fragment „Ich, Jona“, das wiederum von den Erfahrungen im zweiten Weltkrieg erzählt, diesmal aus Sicht eines Kindes. Auch wenn die erhaltenen Teile gerade dieser Erzählung womöglich willkürlich angeordnet sind: Inge Müllers genuines Thema war das Grauen des Krieges. Die spröde Eindringlichkeit der Lyrik und dieses Prosa-Fragments entschädigt für die Hymnen auf den Sozialismus.

Matthias Kehle, matthias-kehle.de

Vielleicht werde ich plötzlich verschwinden

… Ein wahres Glück ist es, dass fast gleichzeitig mit Ines Geipels Biografie ein neuer, voluminöser Textband mit Werken Inge Müllers erschienen ist. Wunderbar, dass sich die dramatischen Entwürfe darin finden. Wenn man Else Lasker-Schüler eine lyrische Dramatikerin nennen könnte, so gilt für Inge Müller die Vorherrschaft des Dramatischen auch in den Gedichten. Sage noch einmal einer, das Drama sei kein Genre für schreibende Frauen, sondern eine reine Männersache. Diese Autorin arbeitet messerscharf die Konturen ihrer Figuren heraus.
Unter den Gedichten sind Perlen zu finden, die Schülern weit eher als Interpretationsaufgabe zu wünschen wären als etwa die bereits zum Kanon gehörenden Verse Ulla Hahns.

Du glaubst, Du kannst die Welt verbessern.
Weißt du, warum der Vogel
Fliegt?
Willst du ihn laufen lehren?

Die DDR-Wirklichkeit überwach wahrzunehmen und gleichzeitig leise die Stimme für das herzugeben, was jenseits der Ideologien liegt, Gewalt total verinnerlicht zu haben und Sanftmut zu schreiben – darin liegt die Stärke von Inge Müller. Wer sie noch nicht wahrgenommen hat, hat jetzt Gelegenheit dazu.

Ingeborg Gleichauf, literaturkritik.de, August 2002

Eine tot getanzte Liebe

In den beiden brauchbarsten Lyrikanthologien der letzten Jahre, Jörg Drews Das bleibt (1995) und Thomas Klings sprachspeicher (2001), findet sich jeweils ein Müller-Gedicht. Drews entschied sich für „Wiedersehn mit der bösen Cousine“ von Heiner Müller und Kling für „Feuerprobe“ von Inge Müller. Die beiden Gedichte könnten unterschiedlicher nicht sein, unverkennbar ist das eine von Heiner, das andere von Inge Müller geschrieben. Dass eine solch klare Unterscheidung allerdings nicht immer leicht zu machen ist, das zeigt der jetzt im Aufbau-Verlag erschienene Band Daß ich nicht ersticke am Leisesein. Er enthält die „Gesammelten Texte“ von Inge Müller, bzw. das Material, „das zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Hinterlassenschaft Inge Müllers angesehen wird“, wie die Herausgeberin Sonja Hilzinger einschränkend und einigermaßen verunsichert bemerkt, denn in „dreizehn Jahren Lebens- und Produktionsgemeinschaft“ sei „eine schier untrennbare Mischung entstanden“, die es geradezu unmöglich mache, viele der Texte, besonders die aus dem Nachlass, eindeutig einem der beiden Autoren zuzuordnen.
In einem Interview hat Inge Müller die Textproduktion als einen eng mit dem Ehepartner verschränkten Prozess beschrieben: „In tage-, ja oft nächtelangen Diskussionen klären wir die aus dem Leben aufgegriffenen Probleme, ihre Gestaltung und den Ablauf der Handlung. Dann kann schließlich ich dort weiterschreiben, wo Heiner aufgehört hat und umgekehrt.“ Auch in ihren Gedichten thematisiert sie eine wechselseitige Inanspruchnahme: „und du greifst nach dem Bleistift wie nach meiner Hand / (Wie ich nach deiner greife. Manchmal.)“ Heiner Müller hingegen beansprucht nach dem Tod seiner Frau die alleinige Autorschaft an den in den fünfziger und sechziger Jahren unter seinem Namen veröffentlichten Texten und vor allem an den unter beider Namen publizierten Stücken „Die Lohndrücker“, „Die Korrektur“ und „Klettwitzer Bericht“, zu denen seine Frau lediglich die Recherche-Arbeit beigetragen haben soll und die schließlich auch in seine bei Suhrkamp erscheinende Gesamtausgabe aufgenommen wurden und im vorliegenden Band mit „Gesammelten Texten“ ebenso fehlen wie die von Inge Müller verfassten Kinderbücher und -verse. Gerade Inges Gedichte waren „ihre eigene Welt“, sagt Heiner Müller in seiner Autobiographie, und fährt fort: „wenn ich ihr Verbesserungen vorschlug, wurde etwas anderes daraus, etwas für sie Falsches, deswegen ließ ich dann die Finger davon.“
Man könnte eine Reihe von Indizien gegeneinander abwägen und umfangreiche Textvergleiche anstrengen: Im Fall von Inge und Heiner Müller ist besonders schwer zu entscheiden, wie groß der Anteil der Einen am Werk des Anderen war und umgekehrt. Bevor sich beide 1953 bei einer Autorenwerkstatt kennen lernten, hatten sie noch nichts Nennenswertes geschaffen und ihr eigenes Idiom, das dann in mancherlei Hinsicht ein nah verwandtes werden sollte, noch keinesfalls ausgebildet. Manche behaupten, Heiner Müllers dichterisches Potential wäre größer gewesen als das seiner Frau, selbst ihr Sohn, den Heiner Müller adoptierte, hält diesen für die eigentlich originäre Kraft. Andere halten ihn als Lyriker für eine eher schwache Begabung, und so wird er in der Forschung auch hauptsächlich als Dramatiker wahrgenommen und sein lyrisches Schaffen weniger beachtet als das Inge Müllers.
 Daß ich nicht ersticke am Leisesein bietet nun mit der Vielzahl an Gedichten, die hier erstmals veröffentlicht werden, die Möglichkeit, wenn auch zu keinem abschließenden Urteil über den Einfluss ihres Mannes auf ihr Werk zu kommen, so doch diejenige, darüber zu reden, inwieweit es sich bei Inge Müller um eine außergewöhnliche Dichterin handelt.
Dass ihre Lebensgeschichte in einem negativen Sinn außergewöhnlich ist, daran zumindest besteht kein Zweifel: Geboren 1925, in ihrer Kindheit von einer gewalttätigen Mutter tyrannisiert, gegen Kriegsende eingezogen, zweimal unter Trümmern verschüttet, einmal für drei ganze Tage. Ihre Eltern allerdings sterben in den Ruinen, sie birgt und begräbt sie, wobei ihrer Mutter ein Finger fehlt, den Nachbarn wegen eines Ringes abgeschnitten haben. Zwei Scheidungen, Geldprobleme (vor allem nachdem Heiner Müller nach der Uraufführung seines Stückes „Die Umsiedlerin“ 1961 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wird), Alkoholprobleme, schwere Krankheit, mehrere Klinikaufenthalte und ab Ende der fünfziger Jahre zunehmende Probleme innerhalb der Familie (zu der auch Heiner Müllers Bruder zählt, mit dem sie ein Verhältnis hat). Psychotherapeutische Behandlung. Zahlreiche Selbstmordversuche. Ihr letzter, sie ist 41, gelingt (Birgit Vanderbeke hat diese harten Fakten in ein etwas milderes Licht gerückt).
Viele biographische Motive speisen Inge Müllers Lyrik und auch ihre in den „Gesammelten Texten“ enthaltene Prosa-, Theater- und Hörspielarbeit. Zählt man den Tod zum Leben, so ist er die eigentliche Konstante ihrer Biographie. Der Tod ist bei ihr immer gegenwärtig. Dass sie so häufig mit ihm konfrontiert war, hat ihn zu ihrem ständigen Gefährten gemacht. Er ist der Fluchtpunkt ihres Schreibens. Reinhard Jirgl spricht in Bezug auf ihre Gedichte vom „Leitwort Tod“, das mitunter einen „symbolische(n) Tod des Gedichtes“ bewirke. Man beachte, wie im folgenden Gedicht die erst lange dann kurze Betonung des Vokals a’ im Reim Grab/ab das Gedicht in einer vom Klang auf den Sinn rückwirkenden Weise determiniert:

Ich steh mit einem Bein im Grab
Was mach ich mit dem zweiten.
Ich muß dich doch begleiten.
Ich hack das erste ab.

An diesem Gedicht wird auch deutlich, dass Inge Müller sich zum Weiterleben immer neu hat entscheiden müssen. Sie klagt nicht über die Schlechtigkeit der Welt oder über die bittere Unausweichlichkeit des Todes, sondern sieht Tod und Leben in einem dynamischen Verhältnis zueinander, weswegen sie ein ums andere Mal die Gründe zu leben/zu sterben gegeneinander abwägt. Insofern ist nicht ganz richtig, was Adolf Endler schreibt: „Motive des Laufens, Gehens und Weitergehens zeigen bei der Häufung, wie sie Inge Müllers Lyrik bietet, natürlich in die Richtung des Gegenteils: auf permanenten Niederbruch.“ Zwar erkennt Endler die große Bedeutung von Bewegung für die Poetik der Dichterin, schließt aber, um dieses Motiv zu erklären, auf sein Gegenteil: den Stillstand. Sicher trägt jedes Ding seinen Widerpart in sich und weist zuweilen auch recht deutlich auf ihn hin. Inge Müllers Lyrik aber ist der beharrliche Versuch den Stillstand zu um-gehen. Selbst der Tod besitzt für sie noch ein dynamisches Moment, wie das zitierte Gedicht „Da kommt der schwarze Wagen“ zeigt.

Da kommt der schwarze Wagen
Das Pferd, das geht im Schritt
Und wer allein nicht laufen kann
Den nimmt der Wagen mit.

Er ist ihr lockende Ent-deckung: „Drum hab ich kein Gesicht / Bis sie mich begraben.“
Selbstverständlich kann man die Ursache für Inge Müllers Schreiben am Tod im berühmten „Übriggeblieben zufällig“ sehen, kann man ihre Gedichte als die eines Menschen lesen, der bereits einmal mit dem Leben abgeschlossen hatte. Dagegen spricht allerdings ihre gleichzeitige Hinwendung zum Diesseits, ihr Wunsch nach einer besseren, sozialistischen Welt und der Beginn ihrer Schriftstellerlaufbahn als Autorin von Kinderbüchern. Dagegen spricht auch, dass in der Lyrik ihres Mannes der Tod im selben Maße und in ganz ähnlicher Weise immer präsent ist: „Meine Liebe ist stark, / (…) Wie der Wald aus dem die Särge gemacht sind“, heißt es in einem seiner schönsten Liebesgedichte. Inge Müllers ständige Todesnähe ist wohl eher die Erfahrung einer ganzen Generation, für die „Kriegs-Erleben nicht (…) zu Vergangenem, Erinnertem“ werden konnte und die dem Tod mit völliger „Distanzlosigkeit“ (Peter Böthig) gegenüberstand.
Vielleicht ist Inge Müllers Lyrik ganz im Gegenteil ein Kampf ums Vergessen: „Ich schrieb und schrieb / Das Grün ins Gras“, heißt es in einem ihrer Gedichte, und in einem anderen:

Sieh auf die Bäume vor deinem Fenster. Unbewegt
Bieten sie deinem suchenden Auge die
Ewige Ruhe: Vergessen in Grün, Farbe
Die sanft die Sinne tötet.

Der poetische Akt, der hier einer Farbgebung gleichgesetzt wird, ist bei ihr also ein Akt der Entsinnlichung, Abstumpfung und letztlich Abtötung. Die „Bruchstückhaftigkeit, die Härte und Trauer vieler Texte, ihre Kargheit und Spröde“ – was sich am leichtesten an den vielen unreinen Reimen und dem häufigen Wechsel zwischen Lang- und Kurzzeilen festmachen lässt – zeugt davon. Ob diese „fast minimalistisch zu nennende Poetologie heutigen Kunst-Erwartungen“ allerdings entgegenkommt, wie Birgit Dahlke weiter schreibt, ist fraglich. Eine minimalistische Poetologie wird sich kaum ein junger deutscher Dichter bescheinigen lassen wollen. Und Gedichte die man vor allem hart, karg und spröde nennen möchte, sind längst nicht mehr angesagt. Wenigstens möchte man in dem Fall spüren, wie dem Dichter die Galle kocht – man denke an Dieter Roth und eben auch an Heiner Müller, die manche Gedichte weniger ausgeschrieben als ausgekotzt haben.
Inge Müller hingegen gleitet trotz aller Todessehnsucht nie in völlige Selbstreferentialität ab. Fast immer bleibt sie sozial und auf ein Gegenüber gerichtet. Das ist allerdings nicht nur eine Stärke, denn durch den Willen zum Dialog neigt ihre Lyrik zur klaren Aussage und mithin zur Banalität. Deswegen lässt sich über zu viele der etwa 300 Gedichte in Daß ich nicht ersticke am Leisesein zu wenig sagen. Viele sind lediglich Kritik oder Kommentar und bergen kein Geheimnis, überraschen nicht, arbeiten nicht im Leser fort. Zwar hat es gerade für die Forschung sein gutes, wenn 36 Jahre nach Inge Müllers Tod die Anstrengung unternommen wird, ihr Gesamtwerk zu versammeln. Das Bestreben um Vollständigkeit aber findet im vorliegenden Band allein im Fall der Gedichte Erfüllung, denn nicht aufgenommen wurden, ohne dass schlüssig erklärt wird warum, weder die Kinderbücher, noch die journalistischen Arbeiten, noch die gemeinsam mit Heiner Müller veröffentlichten Stücke, noch ihre Tagebücher – die vor sechs Jahren teilweise in Irgendwo; noch einmal möchte ich sehen einen Platz fanden. Und wie zu viele der Gedichte einen rein dokumentarischen Wert besitzen, so sind auch ihre Prosa- und Theaterstücke wenig geeignet, ein ästhetisches oder intellektuelles Vergnügen zu bereiten. Abgesehen von einigen kurzen Erzählungen und einem längeren Hörspiel handelt es sich um Schnipselwerk, um das, was man so gerne Fragment nennt, um es interessant zu machen.
Wenn ich schon sterben muss heißt eine Anthologie, die Richard Pietraß 1985 zusammengestellt und weniger fragwürdig angeordnet hat, als es in Daß ich nicht ersticke am Leisesein der Fall ist. In ihr sind alle Gedichte enthalten, für die man Inge Müller mehr als bewundern kann. Nach der Lektüre des neuen, zugleich überfüllten und für ein Gesamtverständnis doch wieder zu knapp angelegten Bandes, ist Inge Müllers Lyrik allerdings wie „eine tot getanzte Liebe“. Und wie Inge Müller am Ende tot war, so schnappt schließlich auch „die kleine Mausefalle / Des Glücks zu zwein“ zu.

Tobias Lehmkuhl, satt.org, August 2002

Ich sah den Tod und die Gewalt

– Zwei Versuche, sich Inge Müller zu nähern. –

Schriftstellern, deren Biographie von Schreckensstationen geprägt sind, erfahren nicht selten eine Mythisierung, die in keinem Verhältnis zur Qualität ihrer Arbeiten steht. Die DDR-Lyrikerin Inge Müller gehört zweifellos nicht zu dieser Spezies, und dennoch rankten sich im Laufe der Jahrzehnte Legenden um ihr Werk, die es nicht einfach machen, ihm nicht automatisch einen Tragikbonus zuzugestehen. 1966 nahm sich Inge Müller im Alter von einundvierzig Jahren das Leben, eine letzte Entscheidung, der zahlreiche Suizidversuche vorangegangen waren. Die Kulturobrigkeiten der DDR wussten wenig mit diesem Tod anzufangen, kommentierten ihn lapidar. Innerhalb der Literaturgeschichte des Landes hatte sich Inge Müller bis dahin vor allem als Theaterautorin einen Namen gemacht: Zusammen mit ihrem dritten Mann Heiner Müller schrieb sie die Stücke „Der Lohndrücker“ und „Die Korrektur“, die 1959 mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet wurden. Heute, sechsunddreissig Jahre später, sind diese Arbeiten literarhistorische Grössen, ohne den Nachruhm der Inge Müller zu bestimmen. Heute gilt sie in erster Linie als Lyrikerin, die in viele Gedichtanthologien Aufnahme findet.
Es bedurfte nach ihrem Tod der Anstrengungen kundiger Literaturwissenschafter, um Inge Müller vor dem völligen Vergessen zu bewahren – vor einem klaglosen Verschwinden, wie es ihrem Grab auf dem Städtischen Friedhof in Berlin-Pankow widerfuhr, das eingeebnet wurde, da niemand die Verlängerungskosten auf sich genommen hatte. Gerade einmal zweiundzwanzig Gedichte publizierte Inge Müller zu Lebzeiten. 1985 legte Richard Pietrass’ Sammlung Wenn ich schon sterben muss den Blick für die Lyrik erstmals frei, und Ines Geipels elf Jahre später, ebenfalls im Aufbau-Verlag, erschienene Zusammenstellung Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn stellte die Gedichte in den Zusammenhang meist unbekannter Prosa- und Tagebuchtexte. Die komplizierte Nachlasslage brachte es mit sich, dass ein Zugang zu Inge Müllers Schaffen und eine Separierung von dem Werk Heiner Müllers erst kürzlich erleichtert wurden. Vor diesem Hintergrund legt die Christa-Wolf- und Anna-Seghers-Herausgeberin Sonja Hilzinger nun eine neuerliche Auswahl vor, die Inge Müllers Œuvre breit, ja wohl zu breit präsentiert. 300 Gedichte finden sich darin, thematisch angeordnet, ergänzt mit Erzählungen, mit dem Fragment gebliebenen Romanzyklus „Jona“ (den bereits Ines Geipel in Auszügen vorgestellt hatte), mit Nachdichtungen und Theater- und Hörfunkarbeiten, darunter „Die Weiberbrigade“, die Inge Müller zuletzt vergeblich für die Bühne zu adaptieren versucht hatte. Herausgeberin Hilzinger bemüht sich, Inge Müller nicht mit uneinlösbaren Hypotheken zu belasten. Überzeugt von deren „gewaltiger poetischer Gestaltungskraft“, hält sie sich mit interpretatorischen Bemerkungen zurück. Das spröde Nachwort, das inhaltsarme Ungetüme gebiert wie „Die lebensgeschichtliche Erfahrung der Permanenz des Kriegszustandes gestaltet sie durch die Intensität sinnlicher Vergegenwärtigung“ und zum Teil wortgetreu wiederholt, was „Zeittafel“ und „Editorische Notiz“ ohnehin festhalten, wirkt wenig inspiriert und lässt selbst biographische Eckdaten hinter einer Nebelwand verschwinden. Dass die gemeinsam mit Heiner Müller erarbeiteten Stücke ebenso wie die frühen Kinderbücher ausgespart wurden, mag aus Umfangsgründen erklärlich sein; bedauerlich sind diese Lücken allemal. Immerhin ist es mit diesem Band möglich, Inge Müllers Werk präziser zu sichten und vor Überschätzungen zu warnen.
Gewiss, die „lyrische Autobiographie“ (Wulf Kirsten), die sie sich in den Nachkriegsjahren abrang, beeindruckt noch heute. In oft frappierender „Kunstlosigkeit“, wie es die Literarhistorikerin Ursula Heukenkamp nannte, umschreibt sie die traumatischen Erlebnisse der Kriegstage: Sie wird verschüttet, überlebt die dreitägige Isolation und birgt wenig später die Eltern tot aus den Ruinen ihres Berliner Wohnhauses. „Ich sah den Tod und die Gewalt / Noch eh ich jung war, war ich alt“, heisst es dazu in ihren komprimierten Versen, und in „Unterm Schutt II“ ist es schon die Anfangszeile, die die Perspektive des Schreckens wirkungsvoll benennt: „Und dann fiel auf einmal der Himmel um“. Inge Müllers Lyrik schwankt zwischen ästhetischer Sorglosigkeit, bewusstem Stilbruch, der Überzeichnungen und Worthülsen hervorbringt, und einer beeindruckenden Kraft der Aussparung. Allen Elementen liegt der verzweifelte Wunsch zugrunde, mit den Mitteln der Literatur gegen das erlebte Inferno anzugehen: „Wie kann man Gedichte machen / Lauter als die Schreie der Verwundeten“.
Was in manchen Versen so mit vermeintlich leichter Hand glückt, bleibt in den Prosatexten unübersehbare Anstrengung. Der „Jona“-Roman, der von ferne an Ingeborg Bachmanns Erzählungen der sechziger Jahre erinnert, ist auch in der Anordnung, die Sonja Hilzinger vorschlägt, ein Torso, der die Kühnheit des Entwurfs nur erahnen lässt. Die kleineren Erzählungen sind hingegen meist blass oder ideologisch befrachtet. Hierhin, so scheint es, ist die Verknappung der Lyrikerin nicht gedrungen. Es ist nicht einfach, sich in dieser Sammlung zurechtzufinden.
Wer Inge Müller besser verstehen will, ist – die biographische Hilfestellung sei in diesem Fall ausdrücklich empfohlen – auf Ines Geipels Biographie angewiesen. Hier erst spüren wir die Spannungen dieses Lebens deutlich, hier erst zeigt sich, welche poetischen Wege und Irrwege beschritten wurden, bis es zur „atemknappen, hautnahen Lyrik“ kommen konnte. Die Erschütterungen des Krieges, als Inge Müller zum Reichsarbeitsjahr in die Steiermark eingezogen wurde, und die Todeserfahrungen von 1945 kontrastieren mit den Nachkriegsbildern einer schönen, ja kokett wirkenden jungen Frau, die Männer zu bezirzen wusste und sich ihrer notfalls auch entledigte.
1953 lernt sie Heiner Müller kennen und geht mit ihm eine fruchtbare künstlerische Symbiose ein – eine Beziehung, die mit vielfältigen Schwierigkeiten und Missverständnissen zu kämpfen hatte. Ines Geipel muss in ihrer biographischen Recherche mit zum Teil magerem Quellenmaterial auskommen. Sie umgeht dieses Dilemma dadurch, dass sie den riskanten Weg einer einfühlenden und imaginierenden Annäherung beschreitet. Von gelegentlichen Ausrutschern abgesehen, ist ihr dieser Balanceakt vorzüglich gelungen: Ein dichtes biographisches und zeitgeschichtliches Porträt entsteht, das Inge Müller nicht zur verkannten Grossdichterin aufwertet, nicht blindlings – wie in der feministisch orientierten Literaturwissenschaft geschehen – zur ausgebeuteten Gefährtin des heute kanonisierten Heiner Müller macht und auch nicht das Aggressionspotenzial ihrer letzten, von Alkohol und Lebensüberdruss gezeichneten Jahre verschweigt. „Originell, zu eigenwillig, deutsch 1, gesamt 4“, so wurde Inge Müller in einem Schulzeugnis beurteilt. – Ines Geipels kunstvolle Biographie erlaubt es, die Wurzeln dieser „Originalität“ kennen zu lernen – eine Lektüre, die den Wunsch aufkommen lässt, dass bald eine preiswerte, sagen wir: 80 Seiten starke Auswahl der schönsten Inge-Müller-Gedichte erscheint, ein Taschenbuch für die Jackentasche, ein gelbes Reclam-Heft vielleicht. So wäre dieses „eigenwillige“ Werk am einfachsten zu entdecken.

Rainer Moritz, Neue Zürcher Zeitung, 13.6.2002

Im Stiefelschritt marschiert der Tag

– Eine Biografie und eine Textsammlung erlauben einen genaueren Blick auf Inge Müller. –

Die Mehrzahl der Artikel, die in den letzten Jahren über Inge Müller geschrieben wurden, stellt sie als eine vergessene Autorin vor. Manche sagen: Wenn sie ein Mann gewesen wäre, würde man sie noch kennen. Aber so einfach ist das nicht. Als Lyrikerin konnte sie überhaupt erst nach ihrem Tod bekannt werden. Als Dramatikerin hat sie vielleicht zu wenige, vielleicht zu sehr an ihre Zeit gebundene Stücke geschrieben, um heute noch gespielt zu werden. Ihre Prosa blieb Fragment; publiziert hatte sie fast nur Texte für Kinder.
Wie aber kann eine Schriftstellerin vergessen genannt werden, über die siebenundsiebzig Jahre nach der Geburt und sechsunddreißig Jahre nach dem Freitod – also ohne irgendein Jubiläum – eine ausführliche Biografie erscheint und eine Sammlung fast aller auffindbaren Texte? An diesem Sonnabend stellt Sonja Hilzinger den von ihr herausgegebenen Band Dass ich nicht ersticke am Leisesein vor. Im vergangenen Monat erschien Ines Geipels Buch Dann fiel auf einmal der Himmel um. Inge Müller. Die Biographie. Nie zuvor gab es so viel von und über Inge Müller zu lesen.
Ines Geipel hatte schon vor sechs Jahren Texte aus Müllers Nachlass veröffentlicht. Sie ist eine Spezialistin für die Rekonstruktion von Lebenswegen und Schreiberfahrungen, Mitbegründerin des Archivs „Unterdrückte Literatur der DDR“, das den Opfern staatlicher Zensur späte Gerechtigkeit zukommen lassen will. Dieser Hintergrund erklärt Geipels entschieden politische Sicht auf Leben und Werk Inge Müllers.
Erstaunlich ist, wie viel sie über die Zeit herausgefunden hat, bevor Inge Müller zur Schriftstellerin wurde: Von den Gerüchen und Geräuschen eines Berliner Mietshauses in den zwanziger Jahren, der Kindheit ihrer Heldin, bis zu Ausbildung und Arbeitsdienst im Dritten Reich ergibt sich aus Puzzleteilchen ein Bild.
Ingeborg Meyer, 1925 geboren, heiratete zweimal, ehe sie 1955 die Ehefrau des damals noch in seinen Anfängen als Autor stehenden Heiner Müller wurde. An den Stücken und Hörspielen „Der Lohndrücker“, „Klettwitzer Bericht“ und „Die Korrektur“ schrieb das Paar gemeinsam und wurde dafür von der Akademie der Künste mit dem Heinrich-Mann-Preis geehrt. Die Müllers wohnten zunächst in Lehnitz bei Berlin in der oberen Etage des Hauses, in das sie als Ingeborg Schwenkner mit ihrem zweiten Mann gezogen war. Herbert Schwenkner, damals Direktor des Berliner Friedrichstadtpalastes, blieb unten wohnen. In dem Jahr, da seine Ex-Frau Heiner Müller heiratete, ließ er sich als IM „Friedel“ anwerben. Die Stasi erwartete, das weist Ines Geipel nach, dass er nicht nur die Müllers sondern auch deren Künstlerfreunde ausspionierte.
Allein, wenn man die äußeren Bedingungen ihrer literarischen Arbeit betrachtet, muss sich die Autorin Inge Müller zwischen den Fronten hin- und hergeschoben gefühlt haben. Fast zur selben Zeit, da die Uraufführung von Heiner Müllers Stück „Die Umsiedlerin“ zur Staatsaffäre in der DDR wurde, erhielt sie zusammen mit zwei Kollegen den „Vaterländischen Verdienstorden“ in Bronze für das Hörspiel „Die Weiberbrigade“. Zur gesellschaftlichen Schizophrenie kam die persönliche: Ihr Sohn Bernd aus erster Ehe blieb Heiner Müller fremd. Und sie verliebte sich in Heiners jüngeren Bruder Wolfgang, der zeitweise bei ihnen wohnte.
Während also Ines Geipel die Entwicklung von einem fröhlichen Mädchen zu einer zwischen Anspruch und Aufgaben zerrissenen Frau ergründet, versucht Sonja Hilzinger das literarische Werk in seinem ganzen Umfang zu zeigen. Die Literaturwissenschaftlerin, die auch die Christa-Wolf-Werkausgabe betreut, durchforstete den kaum geordneten Nachlass in der Akademie der Künste. Nachdem 1985 der erste umfassendere Gedichtband und 1996 Geipels Buch mit Gedichten, Tagebuch- und Prosa-Auszügen erschienen war, geht Hilzinger weiter.
Verdienstvoll ist ihr Buch einerseits hinsichtlich des Roman-Fragments „Ich Jona“, dessen längere Abschnitte und Textsplitter über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren entstanden. Sie ordnete sie entlang einer möglichen Lebenslinie der weiblichen Figur, die als Jona in der dritten Person oder als „Ich“ agiert. Jetzt ist wenigstens erahnbar, was für ein Buch daraus hätte werden können. Viele Episoden zeugen vom Kampf der Figur gegen jegliche Fremdbestimmung – in der Familie wie in der Gesellschaft. Einige davon könnten durchaus als Kurzgeschichten bestehen, so ausgefeilt sind sie. Die zweite große Leistung Hilzingers besteht darin, 162 Gedichte Inge Müllers erstmals zugänglich zu machen. Die meisten lagen nur handschriftlich vor. Natürlich drängte sich zunächst die biografische Sicht auf, man lese nur die drei Varianten von „Unterm Schutt“. Etwa das dritte Gedicht:

Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich
Wir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich.
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht.
Fragt den Hund wie.

Als zwanzigjährige Wehrmachtshelferin, einberufen zum letzten Aufgebot der Hitler-Armee, erlebte sie den Kampf um Berlin. An der Schwedter Straße in Prenzlauer Berg sackte ein von Bomben beschädigtes Haus über ihr zusammen. Drei Tage war sie eingeschlossen. Kurz darauf grub sie ihre toten Eltern aus den Trümmern ihres Hauses in Berlin-Friedrichsfelde. Die Erinnerung daran kam immer wieder, auch körperlich. Ärzte fanden für Inge Müllers Schmerzen, die sie mehrmals für Monate in Krankenhaus brachten, wenig physiologische Erklärungen.
Bei Hilzinger erscheinen die Gedichte in sieben Gruppen, ihre innere Ordnung entspricht denen der Personalpronomen. Die größte Gruppe der Ich-Gedichte spiegelt Inge Müllers Erfahrungen mit dem Schreiben, mit Krankheit, dem Kriegstrauma und der eigenen Kindheit. „Unterm Schutt“ ist hier eingeordnet. Es folgen die Du-Gedichte, die von der Liebe künden, von Sehnsucht und Abschied.

Die Nacht sie hat Pantoffel an
Aus Tierhaut und aus Gold
Im Stiefelschritt marschiert der Tag
Der unsre Nacht einholt.

Wenn morgen früh im Dämmerlicht
Der Star vom Dachrand schreit
bleibt dein Gedicht und mein Gedicht
Wir und die Nacht sind weit.

Liedhaft und einfach klingen die Liebesgedichte beim ersten Lesen, doch die Symbolik fesselt. Die dem „Wir“, „Ihr“, „Sie“ zugeordneten Texte gehen von einer Gemeinschaft aus. Inge Müller thematisiert Abgrenzung und Zugehörigkeit. Wenn sie „wir“ sagt, meint sie nicht das genormte sozialistische Wir, sondern eher eine imaginäre Gruppe Gleichgesinnter, ähnlich Denkender.
Ihre Gedichte offenbaren ein reiches Œuvre, das Inge Müller jedoch – so legen es Biografin und Herausgeberin nahe – für weniger bedeutsam hielt als ihre dramatischen und Prosaarbeiten. Inge Müller war nicht eine todgeweihte Frau, die auch Gedichte schrieb, sondern eine große Lyrikerin. „Atemknapp“ nennt Ines Geipel ihren Stil der letzten Jahre, der auch ihrer Dramatik eigen ist: Immer stärker komprimierte Inge Müller ihre Aussagen, immer stärker wurde ihr Ausdruck, sowohl in ihrer Selbstsicht als auch in ihrer Auseinandersetzung mit anderen. Diese Qualitäten kann man erst jetzt würdigen.

Cornelia Geißler, Berliner Zeitung, 11.5.2002

Wiedergeburt der traurigen Müllerin

Sie war eine schwermütige Frau. Eine, der das Verschüttetsein in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs zum lebenslänglichen Trauma wurde. Und zugleich zum verheimlichten Grundthema ihrer meist melancholisch, immer empfindsam, nie aber larmoyant grundierten Verse, die von klaustrophobischer Beklemmung zeugen – und vom uneinlösbaren Begehren, ihr zu entfliehen.

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch:
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch

So lautet das Gedicht „Trümmer 45“, das zugleich als Grundstein ihrer Bewältigungs-Poetologie und Nekrolog auf die in der Ruine umgekommenen Eltern lesbar ist.
Dass die Ostberliner Lyrikerin und Dramatikerin Inge Müller zudem mit dem Vorzeige-Theaterautor der DDR verheiratet war, bedeutete eine weitere Bürde. Vom „Müller der Nation“ von Mitte der 50er-Jahre an in Manier seines Dichterübervaters Brecht zur bloßen Ko-Autorin und Material-Lieferantin degradiert, fand die manisch-depressive und zusehends alkoholkranke Schriftstellerin allenfalls in ihren Texten einen fragilen Halt.
Diese Ausbeutung durch den intertextuellen Allesfresser Heiner Müller setzte sich selbst dann noch fort, als es Inge Müller 1966 nach etlichen Suizidversuchen 41-jährig gelang, ihrem Leben ein Ende zu setzen: Der allererst auf Produktivität bedachte Trauerarbeiter Müller, ein Orpheus der Postmoderne, ließ seine Frau, maskiert bis zur Kenntlichkeit, als Kunstfigur in seinen Dramen auferstehen. Und sie in seinen Stücken stellvertretend für die Erniedrigten dieser Welt leiden.
Lange hat es gedauert, bis das umfangreiche Werk der zumal in ihren Gedichten weithin unpolitischen DDR-Autorin in eine angemessene Form gegossen worden ist. War die von Richard Pietraß 1985 herausgegebene Anthologie Wenn ich schon sterben muss ebenso verdienstvoll wie notgedrungen lückenhaft, versammelte die Germanistin und Inge-Müller-Biografin Ines Geipel 1996, zum 30. Todestag der vergessenen Dichterin, Lyrik, Erzählungen, Tagebuchnotizen und dramatische Fragmente in dem Band Irgendwo; noch einmal möchte ich sehn. Mit diesem von literaturwissenschaftlichen und biografischen Essays flankierten Band erst hob eine Wiedergeburt der traurigen Müllerin an, die nachhaltiger ist als die in den Texten des Totenbeschwörers Heiner Müller. Mit dem von der Berliner Literaturwissenschaftlerin Sonja Hilzinger herausgegebenen Band Dass ich nicht ersticke am Leisesein hat die Renaissance ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Gestützt auf das Material des Inge-Müller-Archivs präsentiert die umsichtig besorgte Ausgabe erstmals sämtliche Texte, deren Großteil zuvor unveröffentlicht geblieben ist. Einmal mehr zeigen die oftmals wie Selbstverständigungstexte anmutenden Gedichte den Willen der Schriftstellerin, ihrer überbordenden Verzweiflung strenge lyrische Formen wie das Sonett zu geben, von dem Bert Brecht sagte, es helfe gegen Schmerzen. Einmal mehr auch wird deutlich, wie eng und hierarchisch die Zusammenarbeit mit Heiner Müller war. Kaum ein frühes Gedicht Inges, in dem nicht ein Vers oder ein Thema ihres Mannes echote. Kaum ein Früh-Stück Müllers, in dem nicht die Recherche, bisweilen auch der gleichfalls an Brecht geschulte Stil Inges nachhallte.
Und trotz der Dominanz des nicht nur literarischen Machos ist es ein detektivisches Vergnügen, sich in der Zuordnung von Fragmenten des Dichter-Dialoges zu üben, bevor die Anmerkungen manche, aber längst nicht alle Autorenrätsel auflösen. Zu entdecken ist eine Dichterin, die kompromisslos wie kaum eine andere DDR-Autorin ihre lyrische Innerlichkeit gegen den politischen Zeitgeist behauptete. Und, wie Heiner Müller schrieb, ein „tragisches und tapferes Leben, gegen das ihr Tod nichts beweist“.

Hendrik Werner, Die Welt, 8.2.2003

Unterm Schutt, da blüht es

Inge Müller, die sich 41-jährig in Ostberlin 1966 das Leben nahm, zählte lange zu den unbekannten DDR-Autoren. Doch dies gilt seit einigen Jahren nicht mehr. Ein Poesiealbum 1976, eine Gedichtauswahl 1985 und ein Überblicksband 1996 haben ihre Texte dem Lesepublikum vorgestellt, aus der Geschichte der DDR-Literatur ist sie nicht mehr wegzudenken.
Der letzten Kriegsgeneration zugehörig, erlebte sie das Inferno des „Endkampfs“ um Berlin als Wehrmachtshelferin, verlor ihre Angehörigen, wurde verschüttet und nach Tagen geborgen. Sie hat literarisch von den eigenen Traumatisierungen Zeugnis abgelegt. Vor allem ihre Gedichte aus den 60-er Jahren lassen sich neben die Romane von Gert Ledig oder Hans Erich Nossack stellen. Doch erst spät, lange nach ihrem Freitod, wurde sie als eine der sprachmächtigsten Dichterinnen der Nachkriegszeit entdeckt. Ihr Werk reicht über das Thema „Unterm Schutt“ (so der Titel einer Gedichtreihe) hinaus. Sowohl bei den Gedichten wie vor allem auch bei der Prosa und den dramatischen Texten zeigt sie ein starkes Interesse an Gegenwartsthemen der 50er und 60er Jahre. Sechs Jahre nach dem letzten und bis dahin umfangreichsten Band mit Gedichten, Erzählungen und Tagebuch-Notizen erscheint nun ein Band aus dem Nachlass, mit dem Untertitel „Gesammelte Texte“. Damit liegt, 35 Jahre nach Müllers Tod, das Gesamtwerk vor.
Die Nachlass-Situation ist schwierig. Nicht nur, dass Briefe und Tagebücher, die Ines Geipel noch 1996 einsehen und auszugsweise veröffentlichen konnte, inzwischen gesperrt sind, es scheinen auch Teile von Manuskripten verschwunden zu sein oder außerhalb des gemeinsamen Archivs von Heiner und Inge Müller in der Akademie der Künste zu lagern. Außerdem ist vieles fragmenthaft geblieben, einige Texte liegen in mehreren Varianten vor, und die Anteile beider Schriftsteller sind, bedingt durch eine 13-jährige enge Partnerschaft, nicht immer klar zu trennen.
Inge Müller selbst hat ein Jahr vor ihrem Tod eine zur Veröffentlichung bestimmte Auswahl an den Aufbau-Verlag gegeben. Die 81 Gedichte bildeten, um 29 weitere Gedichte aus dem Nachlass erweitert, die Edition von 1985, herausgegeben von Richard Pietraß. Ganze 22 Gedichte waren zu ihren Lebzeiten, in Anthologien und Zeitschriften, veröffentlicht worden. Der Rang dieser Gedichte ist unbestritten, Kollegen wie Elke Erb, Adolf Endler, Wulf Kirsten, Annett Gröschner, Herta Müller, Reinhard Jirgl, Wolf Biermann und andere haben die Lyrikerin gewürdigt. In ihrer Verknappung der Sprache, den an Kinderverse erinnernden Reimen und den kunstvoll eingesetzten Synkopen und Zeilenbrüchen überraschen sie den Leser und bestechen durch ihre Präzision und ihren Ernst.
110 veröffentlichten Gedichten bei Pietraß und 129 bei Geipel stehen nun knapp 300 Gedichte gegenüber. Obwohl etliche der neu hinzu gekommenen Gedichte als Fragmente kenntlich sind, teils durch Abbrüche, teils durch geringere Durcharbeitung, kann man von einer Bereicherung sprechen. Auch die Fragmente zeigen, weit mehr als bisher, dass Inge Müller keineswegs nur auf ihre Erlebnisse am Kriegsende fixiert blieb. Wir sehen jetzt die Dichterin eingebettet in die literarischen Strömungen ihrer Zeit, aber doch als singuläre Erscheinung. Hatte schon Ines Geipel Prosa und Tagebuchblätter aufgenommen, so bezieht die neue Edition auch die dramatischen Texte ein. Damit sei, so die Herausgeberin, bis auf die für Kinder geschriebenen Texte, alles aufgenommen worden, was im Nachlass auffindbar war. Müllers Prosa reicht an Intensität und gedanklich-emotionaler Tiefe jedoch nicht an ihre Gedichte heran. Auch hier arbeitet sie mit Verknappungen und dialogischen Passagen, Themen und Milieu von Leuten aus dem untersten Proletariat erinnern an Margarete Steffins Erzählungen. Obwohl die Erzählungen sich brisanten Themen nähern (z.B. Schmuggel an der Sektorengrenze), bleiben sie seltsam eindimensional. Eine Ausnahme bildet das umfangreiche Konvolut aus Textanfängen, Skizzen, Entwürfen und Erzählungen mit dem Titel „ICH JONA“. Inge Müller arbeitete hier an einer Sammlung von Einzelerzählungen und Anekdoten, gruppiert um die weibliche Hauptfigur Jona, die mit Perspektivwechseln und sehr unterschiedlichen Erzählhaltungen sich zu einer Art disparatem Roman zusammenfügen.
Die dramatischen Texte, teils Sketche in Berliner Mundart, lassen das dialogische Talent der Autorin erahnen, ihre Kraft zur Figurenzeichnung. Das Hörspiel „Die Weiberbrigade“, seinerzeit erfolgreich aufgeführt und mehrfach prämiert, nach dem 1969 Heiner Müller sein Stück „Weiberkomödie“ gestaltete, besticht noch heute durch witzige Dialoge. Es zeigt aber auch auf anrührende Weise die damalige Utopie des sozialistisch vergesellschafteten Menschen.
Da die weitaus meisten Texte nicht datiert sind, sehen sich die Herausgeber gefordert, selbst eine Ordnung zu finden. Ines Geipel hat ein eigenes Periodensystem gefunden und Prosa und Tagebuch-Notizen zwischen die Gedichte gestreut. Entstanden ist ein plausibel gegliedertes Lesebuch. Ob jedoch Hilzingers inhaltliche Einteilung der Gedichte überzeugen kann? Die Einteilung in „Ich-Gedichte“, „Du-Gedichte“, „Wir-Gedichte“, „Sie-Gedichte“ und „Ihr-Gedichte“ scheint doch gewollt-naiv. Offenbar verführt die Autorin dazu, sich über das Werk distanzlos herzumachen. Schon die Titel lehren den Leser das Gruseln. Irgendwo; noch einmal möchte ich sehn hieß der Band von 1996, und der jetzige: Dass ich nicht ersticke am Leisesein. Wie schön und schlicht war dagegen der von Richard Pietraß 1985 gewählte Titel: Wenn ich schon sterben muss. Und dann die Nachworte: „Einzig nicht zu Vollendendes wird zum gültigen Gestus ihre Schreibens … Nur hier, über den Impuls des Kunstwerks auf die gesamte Aktivität des wahrnehmenden Körpers, darf Neues entstehen“, schreibt Geipel. Was bei der einen vor sich hin künstelt, das germanistelt die andere hinterher: „Seit der Veröffentlichung ihrer Gedichte hat eine Rezeption eingesetzt, die Inge Müller als tragisch Gescheiterte wahrnimmt… Stoff zum Nachdenken über die auch in der feministischen Literaturkritik praktizierte problematische Vereinnahmung Inge Müllers als vergessene Autorin unter überwiegend biografischer Perspektive und ihre Stilisierung zum Opfer männlicher Auslöschungsstrategien“, heißt es bei Hilzinger. Und dann windelweich: „Auch wenn im konkreten Fall Heiner Müller Anlass zu einer solche Lesart gegeben hat, müssen die widersprüchlichen und komplexen Aspekte dieser Problematik sorgfältig untersucht werden“. Die „notwendige Kontextualisierung unter rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten“ darf dann nicht fehlen. Ach, wenn sie es doch täte, statt darüber zu schwadronieren. Trotzdem ein Dank an den Verlag, der seine Autorin immer wieder neu ins Bewusstsein der Leser hebt.

Peter Böthig, Der Tagesspiegel, 8.7.2002

Todesanzeige

Sie war tot, als ich nach Hause kam. Sie lag in der Küche auf dem Steinboden halb auf dem Bauch, halb auf der Seite ein Bein angewinkelt wie im Schlaf, der Kopf in der Nähe der Tür. Ich bückte mich, hob ihr Gesicht aus dem Profil und sagte das Wort, mit dem ich sie anredete, wenn wir allein waren. Ich hatte das Gefühl, daß ich Theater spielte. Ich sah mich an den Türrahmen gelehnt, halb gelangweilt halb belustigt einem Mann zusehen, der gegen drei Uhr früh in seiner Küche auf dem Steinboden hockte, über seine vielleicht tote vielleicht bewußtlose Frau gebeugt, ihren Kopf mit den Händen hochhielt und mit ihr sprach wie mit einer Puppe für kein andres Publikum als mich. Ihr Gesicht war eine Grimasse, die obere Zahnreihe schief in dem aufgeklappten Mund, als ob der Kiefer ausgerenkt wäre. Als ich sie aufhob, hörte ich etwas wie ein Stöhnen, das mehr aus ihren Eingeweiden als aus ihrem Mund zu kommen schien, jedenfalls von weit. Ich hatte sie schon oft wie tot daliegen sehen, wenn ich nach Hause kam, und aufgehoben mit Angst (Hoffnung), daß sie tot war, und der schreckliche Laut klang beruhigend, eine Antwort. Später klärte mich der Arzt auf: eine Art Aufstoßen, durch die Lageveränderung bedingt, ein Rest von Atemluft, vom Gas aus den Lungen gepreßt. Oder ähnlich. Ich trug sie ins Schlafzimmer, sie war schwerer als gewöhnlich, nackt unter dem Morgenrock. Als ich die Last auf der Bettcouch ablegte, fiel ihr eine Zahnprothese aus dem Mund. Sie mußte sich in der Agonie gelockert haben. Ich wußte jetzt, was ihr Gesicht entstellt hatte. Ich hatte nicht gewußt, daß sie eine Zahnprothese trug. Ich ging zurück in die Küche und stellte den Gasherd ab, dann, nach einem Blick auf ihr leeres Gesicht, zum Telefon, dachte, den Hörer in der Hand, an mein Leben mit der Toten bzw. an die verschiedenen Tode, die sie dreizehn Jahre gesucht und verfehlt hatte, bis zu der heutigen erfolgreichen Nacht. Sie hatte es mit der Rasierklinge probiert: als sie mit einer Pulsader fertig war, rief sie mich, zeigte mir das Blut. Mit einem Strick, nachdem sie die Tür abgeschlossen, aber, mit Hoffnung oder Zerstreutheit, ein Fenster offen gelassen hatte, das vom Dach aus zu erreichen war. Mit Quecksilber aus einem Fieberthermometer, das sie, für diesen Zweck, zerbrochen hatte. Mit Tabletten. Mit Gas. Aus dem Fenster oder vom Balkon springen wollte sie nur, wenn ich in der Wohnung war. Ich rief einen Freund an, ich wollte immer noch nicht wissen, daß sie tot war und eine Sache der Behörden, dann das Rettungsamt. SIND SIE WAHNSINNIG MACHEN SIE SOFORT DIE ZIGARETTE AUS TOT SIND SIE SICHER JA SEIT MINDESTENS ZWEI STUNDEN ALKOHOL DAS HERZ HABEN SIE NICHT GEMERKT DASS IHRE FRAU WO IST DER BRIEF WAS FÜR EIN BRIEF HAT SIE KEINEN BRIEF HINTERLASSEN WO WAREN SIE VON WANN BIS WANN MORGEN NEUN UHR ZIMMER DREIUNDZWANZIG VORLADUNG DIE LEICHE WIRD ABGEHOLT AUTOPSIE KEINE SORGE MAN SIEHT NICHTS. Warten auf den Leichenwagen, im Nebenzimmer eine tote Frau. Die Unumkehrbarkeit der Zeit. Die Zeit des Mörders: ausgelöschte Gegenwart in der Klammer von Vergangenheit und Zukunft. Ins Nebenzimmer gehen (dreimal), die Tote NOCH EINMAL ansehen (dreimal), sie ist nackt unter der Decke. Wachsende Gleichgültigkeit gegen Dasda, mit dem meine Gefühle (Schmerz Trauer Gier) nichts mehr zu tun haben. Die Decke wieder über den Körper ziehen (dreimal), der morgen aufgeschnitten wird, Über das leere Gesicht. Beim dritten Mal die ersten Spuren der Vergiftung: blau. Zurück ins Wartezimmer (dreimal). Mein erster Gedanke an den eigenen Tod (es gibt keinen andern), in dem kleinen Haus in Sachsen, in der winzigen Schlafkammer, drei niedrige Stockwerke hoch, fünf oder sechs Jahre alt ich, allein gegen Mitternacht auf dem unvermeidlichen Nachttopf, Mond im Fenster. DER DIE KATZE HIELT UNTER DEN MESSERN DER SPIELKAMERADEN WAR ICH / ICH WARF DEN SIEBENTEN STEIN NACH DEM SCHWALBENNEST UND DER SIEBENTE WAR DER DER TRAF / ICH HÖRTE DIE HUNDE BELLEN IM DORF WENN DER MOND STAND / WEISS GEGEN DAS FENSTER DER KAMMER IM SCHLAF / WAR ICH EIN JÄGER VON WÖLFEN GEJAGT MIT WÖLFEN / ALLEIN / VOR DEM EINSCHLAFEN MANCHMAL HÖRTE ICH IN DEN STÄLLEN DIE PFERDE SCHREIN: Gefühl des Universums beim Nachtmarsch auf dem Bahndamm in Mecklenburg, in zu engen Stiefeln und zu weiter Uniform: die dröhnende Leere. HÜHNERGESICHT. Irgendwo auf dem Weg durch den Nachkrieg hatte er sich an mich gehängt, eine dürre Gestalt im schlotternden Militärmantel, der am Boden nachschleifte, eine zu große Feldmütze auf dem zu kleinen Vogelkopf, der Brotbeutel in Kniehöhe, ein Kind in Feldgrau. Trottete neben mir her, stumm, ich kann mich nicht erinnern, daß er ein Wort gesagt hätte, nur wenn ich schneller ging, sogar lief, um ihn abzuschütteln, stieß er zwischen keuchenden Atemzügen kleine klägliche Laute aus. Ein paarmal glaubte ich schon, ihn endgültig abgehängt zu haben, er war nur noch ein Punkt in der Ebene hinter mir, dann auch das nicht mehr; aber im Dunkeln holte er auf, und spätestens wenn ich aufwachte, in einer Scheune oder im Freien, lag er wieder neben mir, in seinen löchrigen Mantel gerollt, der Vogelkopf in Höhe meiner Knie, und wenn es mir gelungen war, aufzustehen und wegzukommen, bevor er wach wurde, hörte ich bald hinter mir sein klägliches Keuchen. Ich beschimpfte ihn. Er stand vor mir, sah mich aus schwimmenden Hundeaugen dankbar an. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn angespuckt habe. Ich konnte ihn nicht schlagen: Hühner schlägt man nicht. Nie war mein Wunsch, einen Menschen zu töten, so heftig. Ich erstach ihn mit dem Seitengewehr, das er aus den Tiefen seines Militärmantels geklaubt hatte, um sein letztes Büchsenfleisch mit mir zu teilen, ich aß zuerst, damit ich seinen Speichel nicht mitessen mußte, stieß das Bajonett zwischen seine spitzen Schulterblätter, bevor er an der Reihe war, sah ohne Bedauern sein Blut auf dem Gras glänzen. Das war an einem Bahndamm, nachdem ich ihn getreten hatte, damit er einen anderen Weg ging. Ich erschlug ihn mit seinem Feldspaten, als er gerade gegen den Wind, der über die Ebene ging, auf der wir übernachten mußten, einen Wall aufgeschüttet hatte. Er wehrte sich nicht, als ich ihm den Spaten aus der Hand riß; nicht einmal als er das Spatenblatt kommen sah, brachte er einen Schrei zustande. Er mußte es erwartet haben. Er hob nur die Hände über den Kopf. Mit Erleichterung sah ich in der schnell einbrechenden Dunkelheit, wie eine Maske aus schwarzem Blut das Hühnergesicht auslöschte. An einem sonnigen Maitag stieß ich ihn von einer Brücke, die gesprengt worden war. Ich hatte ihn vorgehen lassen, er sah sich nicht um, ein Stoß in den Rücken genügte; das Sprengloch war zwanzig Meter breit, die Brücke hoch genug für einen Todesfall, unten Asphalt. Ich beobachtete seine Flugbahn, der Mantel gebläht wie ein Segel, das Seitenruder des leeren Brotbeutels, die tödliche Landung. Dann überschritt ich das Sprengloch: ich brauchte nur die Arme auszubreiten, von der Luft getragen wie ein Engel. Er hat in meinen Träumen keinen Platz mehr, seit ich ihn getötet habe (dreimal). TRAUM Ich gehe in einem alten von Bäumen durchwachsenen Haus, eine Treppe hinauf, über der nackt eine riesige Frau mit mächtigen Brüsten, Arme und Beine weit gespreizt, an Stricken aufgehängt ist. (Vielleicht hält sie sich auch ohne Befestigung in dieser Lage: schwebend.) Über mir die ungeheuren Schenkel, aufgeklappt wie eine Schere, in die ich mit jeder Stufe weiter hineingehe, das schwarze wildbuschige Schamhaar, die Roheit der Schamlippen.

Heiner Müller, 1975

 

 

Der Tod ist: nicht gefragt zu werden

– Inge Müller tritt als Dichterin aus dem Schatten Heiner Müllers. –

Heiner Müllers „Todesanzeige“ ist eine Überblendung von Zeugenschaft und imaginiertem Mord. Der verpaßte Tod der eigenen Frau und ein „Hühnergesicht“ als lästiger Kriegskamerad. Steinfußboden und Kriegslandschaft als Kulisse für einen verlorenen Lebens- und Liebeskampf. Die Beschreibung eines Selbstmordes und eines Mordes. Wie nah ist hier alles beieinander. Eine Übertretung. Die Welt des Willens von ihren Enden her gesehen, in der ersten Person geschrieben. Inge Müller stirbt nicht schön. Sterben ist keine Kunst wie alles andere. In den langen Nächten, wenn die Toten kommen, entstehen solche Texte.
„Ich war erschrocken über das, was ich da schreibe,“ diktiert Heiner Müller seinen Biographen, „aber das gab mir nicht das Recht, es nicht zu schreiben.“ Keine Ausflucht für das Gedächtnis. Das Bild von der toten Frau bleibt in Leben und Werk, es altert mit dem Mann, begleitet ihn bis zum eigenen Tod. Nicht als Epitaph, aber auch nicht als Material wie sonst bei dem Dramatiker. In seinen Werken gerinnt Heiner Müllers offene Wunde zum Topos. „Was für eine Lady / tot ist tot“, schnauft Macbeth. In der „Hamletmaschine“ ist sie Ophelia,

Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick
Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern
Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE
Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten.

In dem Stück „Lessings Schlaf Traum Schrei“ repetiert der Mann hinter der Lessing-Maske: „Ich habe die Hölle der Frauen gesehen: Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. 30 Jahre lang habe ich versucht, mit Worten mich aus dem Abgrund zu halten“. In der „Bildbeschreibung“, geschrieben 1984, sprengt ein Satz den Text: „Ich habe dir gesagt du sollst nicht wiederkommen tot ist tot.“
Kommen sollte sie gar nicht.

MEINE MUTTER WOLLT MICH NICHT HABEN
Sie wollte einen Sohn
Und da kam ich schon
Und mein Bruder war noch nicht begraben.

(…)

Meine Mutter wollt mich nicht haben
Ich wollt die Mutter nicht
Drum hab ich kein Gesicht
Bis sie mich begraben.

Am 13. März 1925 wird sie als Ingeborg Meyer im proletarischen Osten von Berlin geboren. Die Mutter ist eine preußische Offizierstochter, die sich unter ihrem Stand verheiratet. Der Vater kommt aus Schlesien, ist Gelegenheitsarbeiter und Soldat. Im Berliner Ullstein Verlag bringt er es vom Boten zum Abteilungsleiter. Der kleine beharrliche Aufstieg, fleißig und korrekt. Auf das Hinterhaus folgt die kleine Neubauwohnung. Der ältere Bruder stirbt kurz nach Inges Geburt. Die erste erspürte Wahrheit ist ein Nicht-gewollt-Sein. Erzogen wird nach preußischen Werten, streng und gerecht, Prügel von der Mutter, nicht ohne Liebe. Ballettunterricht, Akkordeonspiel und „gutes Benehmen“ geben die Accessoires einer behaupteten heilen Welt.

33 WAR ICH EIN GLÄUBIGES KIND
Meine Eltern warn gut und fleißig
Erwachsen wurde ich 39
Als der Krieg anfing.

Als der Krieg anfängt, besucht Inge noch die Mädchen-Mittelschule, später die Berliner Handelsschule. Der Reichsarbeitsdienst kommandiert die Siebzehnjährige zur Landarbeit in die Steiermark, das Pflichtjahr bei einer Offiziersfamilie in Berlin folgt. Der Krieg kehrt sich jetzt gegen die Kapitale des Dritten Reiches und wird auch für Inge Meyer zum herrischen Lehrmeister. Bombenangriffe bestimmen den Rhythmus. Inge Meyer arbeitet als Stenotypistin in den „kriegswichtigen“ Solway-Werken. Dort ist sie nicht geschützt vor dem letzten Aufgebot. Im Januar 1945 wird in Berlin auch der weibliche Jahrgang 1925 zum „Endkampf“ eingezogen. „Führerbefehl: Die deutsche Frau raucht nicht.“ Goebbels-Stakkato und Leben auf Abruf. Da ist sie zwanzig.

Inge Meyer kommt zu den Kraftfahrern der Luftwaffe, versucht davonzulaufen, wird zur Flak strafversetzt. Auch hier „Hühnergesichter“, wimmernde Kindersoldaten. „Daß nicht noch einer stirbt – Nein / Ich weiß auch nicht mehr als ihr“. Im einwöchigen Häuserkampf um Berlin sieht sie die Zeichen des Todes und der Vergeblichkeit. Die Steine glühn. Stalinorgel, Standgerichte, Selbstmorde. Pferde werden geschlachtet, Depots geplündert, die skandinavische SS erschießt sich im Hinterhof. „Bomben drehn die Häuser um“. Drei Tage und drei Nächte bleibt Inge verschüttet, allein mit einem Schäferhund.

UNTERM SCHUTT III

Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich
Wir haben das Haus getragen
Der vergessene Hund und ich.
Fragt mich nicht wie
Ich erinnere mich nicht.
Fragt den Hund wie.

Inge Meyer gräbt ihre toten Eltern aus den Trümmern. Sie läuft nach einer Bahre, als sie zurückkommt, fehlt der toten Mutter der Finger mit dem Ring. Der Ring ließ sich nicht abstreifen. Letzter Gruß der Kannibalen. Die fleißig Davongekommenen zeigen, was sie können.

TRÜMMER 45

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch,
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch.

Hieß es eben noch „bis zuletzt am Maschinengewehr“, spricht man jetzt vom Tod nicht mehr, von Auschwitz schon gar nicht, das hat man ja nicht gewußt. Das wird auch noch dauern „Am grünen Strand der Spree“. Das Leben fängt wieder an, mit neuen Liedern nach alten Melodien.
„Übriggeblieben zufällig“ – auch für Inge Meyer beginnt ein zweites Leben. Steineklopfen, Altenbetreuung und Kinderspeisung. Die Bilder des Krieges, noch gibt es für sie keine Worte, werden verdrängt. Lebenshunger will gestillt sein. Wenige Monate nach Kriegsende heiratet sie überstürzt einen davongekommenen Schulfreund, 1946 wird ihr Sohn Bernd geboren. Das Leben gewinnt an Fahrt. Zwei Jahre reist sie mit einem Zirkus, steht auch im Käfig mit schwarzen Panthern. Was ist verwegen nach diesem Krieg? Alles wird Vorwand für Leben. Sie weiß schon, es gibt keinen späteren Ausgleich für Versäumtes. Zum neuen Mann wird der Altkommunist und Zirkusdirektor Herbert Schwenkner – ein Tausendsassa mit väterlichen Zügen. Aus dem Berliner Trümmerlabyrinth geht es jetzt in ein Einfamilienhaus zwischen märkischen Kiefern. Es gehört zu einer Siedlung, die KZ-Häftlinge aus dem Lager Sachsenhausen für SS-Offiziere gebaut haben.
Jetzt wohnen hier die Spitzen der neuen Macht. Und niemand aus der Nomenklatura findet etwas dabei. Lehnitz bei Oranienburg wird eine Gruselsiedlung bleiben, zumindest für einige Nachbarn. Hier herrscht ein eigener Tribalismus. Der erste DDR-Außenminister Georg Dertinger, früher deutsch-national und in Franz von Papens „Herrenclub“, jetzt Block-CDU, wird als „Verschwörer“ verhaftet. 15 Jahre Bautzen. Auch der spätere Stasi-Minister Ernst Wollweber bewohnt vor Aufstieg und Fall die Siedlung in Lehnitz. In dieser geschlossenen Welt weiß keiner vom andern. Beim linientreuen Sowjetemigranten Friedrich Wolf gibt es eine Hausdurchsuchung, vier Wochen später stirbt der Dramatiker 64-jährig. Seine Witwe, Else Wolf, wird eine neue Vertraute. Inge macht sich ihr eigenes Bild, aber über diesen „Kurzen Lehrgang“ des Stalinismus hat sie immer geschwiegen. Oder doch nicht? „Und: heute? / Wer ist Jäger, wer ist Beute“?
An der Seite von Altkommunisten und Emigranten findet sie, die Gefühlssozialistin, sich in der Einheitspartei wieder. Das geht nicht gut. Was ihr auf Schritt und Tritt begegnet, ist die Verlogenheit der Parteiöffentlichkeit. Die Suche hört nicht auf. Das erste, was ihr auffällt: Die großen Hoffnungen werden von taktierenden Machthabern verstellt. Kastraten-männlich alles. Es herrschen Kommandoton, Ikonenkitsch und sehr viel Schweigen:

TAG

(…)
Versammlung
Kein Streit (Diskussion nach Schluß
Auf dem Flur)
Zu Hause bis zwei Uhr
(Einer bleibt bis drei)
Der Tag der neue ist
auch nicht mehr frei.

Sie erprobt unmittelbar und schnell, Journalismus geht in der „Neuen Ordnung“ nicht. Was heißt hier Volkskorrespondentin? Wie soll sie bei dem schnellen Jubel der Tageserfolge das Erfahrene auslassen? „Meinen Kopf will ich behalten / Den jungen und den alten“.
Inge Schwenkner schreibt für Kinder Gedichte und das Buch Wölfchen Ungestüm. Ihre Kinderrevue Karsten-Kindinger läuft im Berliner Friedrichstadt-Palast vier Wochen en suite. Die kinderäugigen Texte finden eine gute Aufnahme, allein, die Autorin möchte mehr. Mitten im Lärmen der neuen Gesellschaft schreibt sie, „Übriggeblieben zufällig“, zwar weiter Verse im Rhythmus des Abzählreims, aber das scheinbar Naive zeigt starke Risse. Die poetische Sprache trägt den Krieg noch nicht in sich, aber dunkle Naturmotive sind wie ein Vorlaufen zum verdrängten Erlebten.

Der Weg der immer war
Und er war für mich allein
Er ist jetzt schmaler und
Führt tiefer in den Wald hinein.

Aber nichts von Gedankendämmerung liegt über der Szene, als sich die Wege von Inge und Heiner Müller kreuzen. Es ist der Zauber der Frau, der den jungen Autor aus Sachsen gefangennimmt. Sie ist 28, er vier Jahre jünger. Heiner Müller lebt in Berlin nomadisch. Selbst seine Parteimitgliedschaft geht darüber verloren. Keine Einkünfte, keine Aufenthaltserlaubnis, keine Wohnung. Seine Versuche, sich Brecht zu nähern und am Berliner Ensemble Meisterschüler zu werden, sind gescheitert. Er lebt im Bauch von Berlin. In den Kneipen vom Prenzlauer Berg sammelt der Dramatiker Material. Wie Brecht in den Zwanziger Jahren mit der Metropole Berlin an Schärfe gewinnt, wird auch Heiner Müller im Nachkriegs-Berlin urbanisiert.
Liebe hat keine Scheu vor dem schlechten Gedicht. Inge eröffnet:

Da ist die Brücke
Und ich seh dich gehen
Über die Planken aus Holz.
Drei fehlen in der Mitte.
Ich reiche dir die Hand
Und du siehst sie nicht.
Du siehst das Wasser unter dir
Und den Wind, der stark ist.
Da zittert meine Hand
In der Mitte zwischen Wasser
Und Wind.
Und da ist die Brücke.

Heiner Müller nimmt den Ton auf:

Ins Wasser blickend sah ich
Deine Augen, die mich suchten.
Da Fand ich mich. Und fürchtete den Wind
Nicht mehr. Er trägt uns
Die sich an den Händen halten.

Der Belcanto täuscht. Beide sind als Autoren reifer, eigenständiger, entfernter. Aber sie versuchen nicht nur das gemeinsame Leben, sondern auch die gemeinsame Arbeit. Verwegen ist das. Heiner Müller zieht mit ins Haus nach Lehnitz. Der Impresario Schwenkner willigt in die Scheidung ein. Heiner Müller heiratet lnge Schwenkner, adoptiert ihren Sohn Bernd.
Das Autorenpaar bewegt sich nicht auf gleicher Höhe. Heiner Müller hat auch als Lyriker begonnen, ist bei Brecht in die Schule gegangen. Vom Altmeister entlehnt er die parabelhafte Chinoiserie und übt sich früh im Paraphrasieren antiker Mythen. Auch das Konditionale ihrer Poesie ist verschieden. Die Grenzen der Menschen bleiben das Thema von Inge Müller. Bei Heiner Müller wird der Blankvers durch die Weltgeschichte getrieben, auch in seinen Gedichten kündigt sich der Dramatiker an. Inge Müller erliegt nicht seiner apokalyptischen Faszination. „Kunst hat und braucht eine blutige Wurzel“ – das ist nicht ihr Credo. Heiner Müllers literarische Gewalttätigkeit teilt sie nicht. „Genosse Mauser“ gehört nicht zu ihrem Teil an der Utopie, die als das „Neue“ daherkommt, aber das Kostüm Stalins trägt.
Den Gedichten seiner Frau kann Heiner Müller wenig abgewinnen: „Es war schwer für sie, sich frei zu schreiben, auch frei von mir, außer in den Gedichten, die ich eigentlich erst nach ihrem Tod in ihrer Qualität erkannt habe. Das war ihre eigene Welt. Manchmal hat sie mir eines gezeigt, ganz selten. Sie waren mir fremd. Ich habe nur gemerkt, wenn ich ihr Verbesserungen vorschlug, wurde etwas anderes daraus, etwas für sie Falsches, deswegen ließ ich dann die Finger davon. Es ist schwer, zusammenzuarbeiten, wenn man zusammenlebt. Da kann man leicht etwas zerstören.“
Inge Müller beginnt ihren großen Kampf, sich neben diesem Mann als Dichterin zu beweisen. Die Sache wird ernst. Ekstatische Arbeit und Entbehrungen ohne Ende. Alle Mittel sind angespannt. Ihr Schreiben ist nicht wie das Umarmen der Welt.
Aber vorerst verlagert sich die gemeinsame Anstrengung zur Dramatik hin. Wochenlang treiben beide Recherchen im Industriemoloch „Schwarze Pumpe“ und im Tagebau von Klettwitz. An den Stücken Der Lohndrücker, Die Korrektur und Klettwitzer Bericht arbeiten sie vereint, über viele Fassungen hinweg. Für den Regisseur und Heiner Müller-Vertrauten B.K. Tragelehn ist entschieden: „lnge hat eine sehr wichtige Rolle bei den Recherchen gespielt. Eine andere Frage ist, wieviel davon unvermittelt oder direkt in die Texte eingegangen ist. Das ist, glaube ich, nicht sehr viel.“ Heiner Müllers Bruder Wolfgang erinnert sich anders: „ln der ersten Phase der Zusammenarbeit könnte man, glaube ich, fast von Fifty-fifty-Arbeit sprechen. Später hat sich das mehr zugunsten von Heiner verschoben.“ Der Dichter Adolf Endler dagegen ist sich sicher: „Die Zusammenarbeit mit Heiner Müller war nie so eine Zusammenarbeit wie die, die Brecht mit seinen Mitarbeiterinnen hatte.“ Die Eindrücke zum Anteil lnge Müllers an den frühen Stücken können verschiedener nicht sein.
Aus den verwobenen Nachlässen sind Inges Anteile an der dramatischen Arbeit Heiner Müllers wohl nicht mehr zu entschlüsseln, wobei die Angleichung ihrer Handschriften ein berührendes Detail ist. Inge Müller wird letztlich doch in bester Brecht-Manier als Mitarbeiterin geführt. Diese Graduierung, die mehr verschleiert als offenbart, verschwindet zeitweise ganz. In der Rotbuch-Ausgabe der Werke Heiner Müllers ist sie nur mühsam in den Anmerkungen auszumachen. In dem einzigen Interview, das Inge Müller gegeben hat, sagt sie 1960: „ln tage-, ja, oft nächtelangen Diskussionen klären wir die aus dem Leben gegriffenen Probleme, ihre Gestaltung und den Ablauf der Handlung. Dann kann schließlich ich dort weiterschreiben, wo Heiner aufgehört hat und umgekehrt.“
Das klingt wie eine Anrufung und ist doch nur ein Hilferuf nach dem Versiegen der vereinten Arbeit. Heiner Müller besteht auf einer deutlichen Vorhangordnung. Bis zum Lebensende beharrt er darauf, sein erstes großes Stück, Der Lohndrücker, ohne Beteiligung seiner Frau geschrieben zu haben. Auch ihre Recherchen habe er nicht gebraucht. In dem Stück Der Bau habe sie nur zwei Worte verbessert. Inge Müller steht nach Jahren der Zusammenarbeit mit leeren Händen da. Sie sucht dort Gemeinsamkeit, wo es keine gibt. Nach den Exerzitien der Brecht’schen Arbeitsweise geben die Mitarbeiterinnen ab, der Meister hält alles unter seinem Namen zusammen.
Inge Müller sorgt für den Unterhalt mit Übersetzungen und dramaturgischen Brotarbeiten. Heiner „vergißt, daß wir Geld brauchen, er vergißt, wenn ich krank bin“, schreibt sie 1957 in ihr Tagebuch. Und: „Dreigeteilt: Mein Mann, mein Kind, mein Schreiben – keins ist vor dem andern, keins? Wenn es entschieden ist, werde ich gesund sein oder sterben. (…) Meine Pflichten: Berge, wie soll ich barfuß und ohne Hände hinauf?“ Noch versucht Inge Müller, die Welt um sich nicht zu verlieren. Noch sucht sie nicht die Einsamkeit als einzige Möglichkeit, sich selbst wahrzunehmen. Sie will teilhaben. Aber auch von den Proben ihrer gemeinsamen Fassung des Stücks Zehn Tage, die die Welt erschütterten nach John Reed bleibt sie nicht nur durch Krankheit ausgeschlossen. „Ich möchte so gern bei den Proben dabeisein“. Nächtelang wärmt sich Heiner Müller an den Lagerfeuern in den Theaterkantinen, verliert sich in Projektemacherei. „Ich muß lernen, nicht auf Heiner zu warten. (Wenn er spät kommt, ohne Nachricht – eine Qual)… Er soll immer gern heimkommen können.“
Lehnitz, vor den Toren von Westberlin, ist für einen Theateralltag in der Tat ein verlorenes Quartier. Das Paar zieht zwei Jahre vor dem Mauerbau nach Pankow. Was sich in Lehnitz angedeutet hat, kommt in Pankow zur vollen Entfaltung. Die Generation, die für Brecht, Huchel und Eisler brennt, fällt in die Wohnung des Autorenpaares ein. Aber diese sozialistische Boheme ist männlich, erwachsene Namen darunter: B.K. Tragelehn, Fritz Marquardt, Karl Mickel, Peter Hacks, Manfred Bieler, Wolf Biermann, Hans Bunge. ein ganzes Dorf von Mitwirkenden. In Heiner Müller feiern sie den kommenden Theaterdichter. Diese Zigarrenrunden drängen Frauen an den Rand, und was für Frauen: Christa Tragelehn, Brigitte Soubeyran, Anne Wiede, Christa Vetter. Am Ende fühlt sich auch die Gastgeberin in den nächtlichen Dauerdebatten verloren. In Inge sehen die exzentrischen Gäste die faszinierende Frau, nicht die Dichterin. Ihre erotische Aura saugen sie ein, ihre scharfzüngigen Widerworte mögen sie weniger. Der kommunitäre Narzißmus verschafft Inge Müller Ekel. In diesem Kreis rechnet sie nicht mehr damit, verstanden zu werden. „Sie bereiten alles auf wie alten Tee.“
Peter Hacks, frisch promoviert über das Theater des Biedermeier, gefällt sich in Galanterien. Inge Müller antwortet der männlichen Eitelkeit in einem Brief. Sie erlaubt keinen Angriff auf ihre selbstgewählte Rolle. „Lieber, alter Hacks! Doch, Du bist ein Dichter und ich werde hören auf das, was Du sagst, und Dir wieder sagen, was ich nicht verstehe, auch wenn Du mir böse bist, weil ich lieber dem Müller den Dreck wegräume, als mit Dir zu arbeiten: lch liebe ihn; genügt Dir das? Als Erklärung, meine ich. Und er ist ein Genie. Und wenn er sich verzettelt, – und wenn auch meine Kraft nicht ausreicht, das muß sich erst erweisen.“
Der Angriff der Kriegsbilder auf die fröhlich lärmende Gegenwart beginnt. Immer häufiger schleudert Inge Müller ihre weltwunden Vorwürfe den anderen ins Gesicht. Einem besonders Lebhaften ruft sie nach: „Soviel Worte / Schlaf mal auf dem Asphalt“. Die männliche Avantgarde läßt sich solches nicht sagen. Alle scheinen entschlossen, Inge Müller zu übersehen. Ihr bleibt nichts als die Bewegung des Verschwindens zu probieren. Immer häufiger flieht sie vor der uneinnehmbaren Phalanx. Der Rückzug hat eine mythische Seite, die niemand versteht. Nur ihr ekstatisches Akkordeonspiel stört, ihr abruptes Schweigen ängstigt. Das hat nichts von den Eskapaden inszenierter Verdüsterung, das ist die blanke Not. Betäubung in immer kürzeren Abständen. Das Leben tut weh.
Das Gerücht von einer „Erkrankung“ wird schnell geschäftig und soll bis heute alles erklären. In ihrer unglücklichsten Zeit wird Inge Müller zur Dichterin. Sie ist mit ihren Gedichten allein. Nur der heranwachsende Sohn darf sie lesen. Dabei spricht sie in ihren Strophen weiter mit Heiner Müller. Aber die Verse „Wenn ich mich niederlege / Geh über mich hinweg“ erreichen ihn nicht. Ein anderes Gedicht ist nur wenig älter.

MEINE LIEBE

Sie war immer ganz
Sie hat mich zerrissen
Sie hat mir Namen gegeben
Ich hab die Namen vergessen.

Die Außenwelt der Parteikontoristen hält unterdessen lebhafte Belastungsproben bereit. Bei dem Versuch, die Stücke Der Lohndrücker und Die Korrektur in einem Berliner Theater an einem Abend zu zeigen, erlebt das Autorenpaar die Wechselbäder poststalinistischer Kulturpolitik. Erst gibt es ein Verbot, dann, nach der Korrektur der Korrektur, steht das Parteilob in der Zeitung, und als Auszeichnung folgt der Heinrich-Mann-Preis für Inge und Heiner Müller. Der Preisverleihung bleibt Inge Müller fern. Bald darauf lebt die Partei wieder ihre Doktrin aus und zeigt die Instrumente. Der Brecht-Schüler Tragelehn inszeniert an der Hochschule für Ökonomie mit Studenten ein Stück, an dem Heiner Müller noch schreibt: Die Umsiedlerin. Der Theaterdichter faßt die Geschichte eines mecklenburgischen Dorfes von der Bodenreform bis zur Kollektivierung mit grotesker Verve.
Inge Müller hat ursprünglich am Stoff mitgearbeitet. Aber Autor und Regisseur beziehen sie in die spätere Arbeit, die fast zwei Jahre währt, kaum mit ein. Eine Verletzung, die lange nachwirkt. Die Premiere wird zum Eklat, sechs Wochen nach dem Mauerbau. Die Einheitspartei verstößt Tragelehn und fährt ihn in die Grube von Klettwitz. Heiner Müller wird nach Selbstkritik, von ihm erkannt als „stalinistische Derivation der Psychoanalyse“, aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Der Huchel-Jäger Alfred Kurella fordert Inge Müller auf, sich von ihrem Mann zu trennen: „Sie sind doch eine Künstlerin, und das ist doch, wie soll ich sagen, Abschaum.“ Immerhin soll er dabei gestottert haben. Inge Müller reagiert auf die unsittliche Annäherung des Altstalinisten mit Abscheu und Verachtung. Zehn Tage nach dem Inszenierungsverbot unternimmt sie einen Suizidversuch.
Zwei Jahre wird Heiner Müller – und mit ihm Inge – in Acht und Bann gehalten. Publikationsverbot, kein Geld, und die Freunde, eben noch Fronde, haben sich schnell verlaufen. Nur Tragelehn kommt aus seinem Tagebau mit Kohlen und Bergmannsschnaps. Die Ausgeschlossenen unter sich. Die Männer suchen den Abstand mit Brecht-Gestus in eisiger Dialektik, in kalten Witzen. Dahinter sitzt auch Angst. Der Schnaps ist schlecht, die Atmosphäre schal. Die Gespräche gehen an Inge Müller vorbei. Noch versucht sie, alles zu wenden. Es gibt sie doch, die Märchen.

(…)
Du hast Märchen und hast sie schön erzählt
Könnt ich abtragen was dich quält
Wo sind die Freunde hin
Im Geist und im Sinn.

Ach du lieber Augustin
Wie fröhlich ich bin.

Die hohe Geste der trutzigen Fröhlichkeit verrauscht im Alltag der Nöte und Einsamkeit. Der Boden wankt. Das Ausgeschlossensein ist doch kein Muttermal. Und Kainszeichen werden immer nur den Störern aufgebrannt. Die Bewegungen der Hoffnung und die Starrheit der Verzweiflung lösen sich immer rasanter ab. Sprache wird zum Maß für eine, die weiß, was es heißt, an sich selbst verloren zu gehen. Der Druck des Erfahrenen treibt ihre Sprache in die Dichtung. Mit Gedichten entwirft sich Inge Müller die Vergewisserung, zu leben. Die Verse der letzten Jahre entstehen langsam und unter Schmerzen Es kommen Gedichte, die für den Weltschreck des Jahrhunderts einen Halt suchen. Das Leitmotiv Tod wird immer deutlicher gesetzt, aber es ist keine schreckensbleiche Endzeit-Metapher. Die unerbittliche Einfachheit der Todesahnung setzt sich in den Versen durch. Die Zeugenschaft bedarf nach verstreuter Arbeit der dauerhaften Form. Es gibt unendliche Versuche bis zum gültigen Gedicht. Sehr viel bleibt Fragment.
Inge Müller hat den ungleichen „Wettbewerb“ beendet. Sie schreibt um ihr Leben, und das heißt auch, um ihre Liebe. Selbst dort, wo Schweigen herrscht, wo die schleichende Entfernung ihr Werk tut, hofft sie, die Beziehung zerbreche nicht, sei sie auch noch so unterbrochen.

WER GIBT DIR EIN RECHT DEN STUMMEN ZU SPIELEN
(Du zitterst vor Eigenliebe, Narziß)
(…)
Ich wünschte, ich könnt dich zum Reden bringen.

Die Dämmerung des eigenbestimmten Verlöschens hat bei Inge Müller kein Datum. Wahre Verzweiflung, weiß sie mit Paul Eluard, hat keine „Flügel“ und keinen Ausdruck, nur ihre Stummheit. Schweigen ist für sie die Maske des Todes. Dagegen schreibt Inge Müller an. Jeder geIungene Vers erhebt über den Verfall durch Stummheit. Die letzten Zeichen gehen ins Leere. „Der Tod ist: nicht gefragt zu werden“. Wo ihre „Wahrheit, leise und unerträglich“, nicht gehört wird, gibt es in den langen letzten Jahren andere Kundgebungen der Verzweiflung. Bis zum letzten Vers bleibt der Anspruch einer Penthesilea, die über sich hinaus will und den Preis des Einsatzes kennt. In allem. Im Leben, in der Kunst und der liebe Wer will eine Penthesilea haben, wer kann mit ihr leben, wer hält das aus?
„Acht Jahre vergingen mit Selbstmordversuchen“, sagt Heiner Müller und erinnert gleichsam an sein nicht einfaches Leben mit. Aber bei Inge Müller gibt es kein Stürzen aus innerer Ursache. Auf die Trümmer, unter denen sie gelegen hatte, häuft sich nicht nur der Schutt einer gefledderten Utopie, sondern auch das Opfer von „Genosse Mauser“.

EINMAL KOMMT
Von uns gesandt
Der vorgeahnte
Mensch.
Protzt, ihr
Die ihr uns
Ins Straßenpflaster stampft.

Inge Müller bleibt auch dort von hoher Verletzbarkeit, wo andere wenig bemerken. Als ein halbes Jahr vor ihrem Ende der Wirtschaftsreformer Erich Apel in den Tod getrieben wird, schreibt sie

Für E. A.

(…)
Ist alle Welt aus allen Fugen
Drückt alles mehr.
Einer von allen.
Ich vermiß dich sehr.

(…)

Wer würde sie vermissen? Fast zwanzig Jahre dauert es nach ihrem Tod, bis ihre Gedichte erscheinen.
Als Inge Müller in der Nacht des 1 Juni 1966 tot von ihrem Mann gefunden wird, vermißt die Volkspolizei einen Abschiedsbrief. Heiner Müller steht kurz unter Mordverdacht. Niemand versteht, daß sie seit acht Jahren an diesem Brief geschrieben hat – in ihren Gedichten. Auch Heiner Müller wird das zu spät bemerken.

STUFEN

Ich schrieb und schrieb
Das Grün ins Gras
Mein Weinen
Machte die Erde nicht naß
Mein Lachen
Hat keinen Toten geweckt
In jeder Haut hab ich gesteckt.
Jetzt werd ich nicht mehr schrein −
Daß ich nicht ersticke am Leisesein!

Jürgen Verdofsky, in Ursula Keller (Hrsg.): „Nun breche ich in Stücke…“, Vorwerk 8, 2000

Die Nacht sie hat Pantoffeln an

– Über Inge Müllers Gedichte. –

Die Straße war mit hohem Unkraut zugewachsen. Ich sah es beim Gehen von ganz nahe, und wenn ich das genaue Hinsehen aushielt, sogar Blatt für Blatt. Und dennoch war das Unkraut, wie es über dem Weg zusammenschlug, ein Versteck. Meist war es Abend, wenn ich auf dieser Seitenstraße ging, und viele Blüten hatten sich bereits geschlossen für die Nacht. Sie waren noch mal ein Versteck.
Egal wie warm der Abend war, immer trug ich ein Kleid, das bis an den Hals hinauf geschlossen war. Und Schuhe, die bis um die Knöchel geschlossen waren. Unter dem Kleid und in den Schuhen trug ich beschriebenes Papier. Ich ging mit dem beschriebenen Papier zu einer Freundin. Ich rechnete mit einer Hausdurchsuchung und trug meine Texte zu ihr. Auf dem Weg zum Versteck war ich selber ein Versteck. Und während ich ging, sagte ich, ohne den Mund zu bewegen, im Kopf Gedichte auf, die andere geschrieben hatten. Kurze Zeilen, kurzer Atem, kurze Schritte.
Ich hatte Angst auf diesem Weg. Die Gedichte waren ein tragbares, ganzes Stück im Kopf, fest und genau. Sie kannten diesen Weg nicht, aber sie wußten, wie man ankommt. Ich aber kannte nur den Weg. Wie sehr sie mich damals schützten, ahnte ich nicht.
Erst viel später, als ich Rumänien verlassen hatte, fand ich in Ruth Klügers Buch weiter leben Eine Jugend genau formuliert, was ich damals in der Falle ahnungslos und mechanisch praktizierte: den Halt der gebundenen Sprache in haltloser Zeit.
Die vielen Menschen in der Sowjetunion oder Rumänien, die mit Literatur nichts zu tun, jedoch viele Gedichte im Kopf hatten und diese ihre Gedichte nannten, all diese Menschen packte beim Lesen mehr als die Liebe zur Lyrik. Sie brauchten etwas, das den Nerv anders traf als die gewöhnliche, jedoch unberechenbare Angst vor der täglichen Drohung des Staates. Angstmenschen sind gefühlshungrig. Ihr Leben ist eingezwängt. Uneingeschränkt und stellvertretend für alles, was verboten war, lebten Gedichtworte in der Stirn. Wenn auch nur uneingeschränkt in der Angst. Denn auch diese durften Angstmenschen nicht zeigen. Die Angst der Gedichtworte stillte die eigene, indem sie diese bestätigte. Die eigene Angst pachtete fremde Gedichte.
Ich schnitt diese fremden Gedichte so auf mich selber zu, daß der Gedanke des Stehlens aufkam, der Eindruck, daß ich Gedichte vor anderen versteckt halte. Ich habe sie entwendet wie eine Diebin, dachte ich mir. Wenn ich sie eines Tages werde zurückgeben müssen, wird man sie nicht mehr erkennen. Mir kam das, was ich durch meinen Kopf trieb, vor wie Geldscheine, die so abgegriffen sind wie Fetzen, deren Beschriftung man nicht mehr erkennt.
Die Abnutzung dieser Gedichte war deshalb so groß, weil die Zahl der Gedichte, die zum Angstaufsagen in Frage kamen, gering war. Das Kriterium der Auswahl war ein Unbewußtes:
Es krallten sich die Sinne ans Gedicht, sonst nichts. Und ich glaube, sie krallten sich nur an die Gedichte an, die ihrerseits aus dem Angstaufsagen heraus geschrieben worden waren. So wie die Gedichte der Inge Müller.
Die kurzen Schritte und der kalte Reim machten Inge Müllers Gedichte so geeignet fürs stumme Angstaufsagen. Und daß diese Gedichte auf der Winzigkeit des Sagens bestehen, daß sie aus ihr herausspringen in ungeschützte Sinnlichkeit. Die Gedichte geben sich naiv und sind das Gegenteil davon: frech wie hingeschnauzt. Es wird alles in diesen Gedichten so kalt, bis es brennt. Der Reim zerrt eine Zeile in die andere, aber dem ganzen Gedicht hält er den Mund zu.

Da kommt der schwarze Wagen
Das Pferd, das geht im Schritt
Und wer allein nicht laufen kann
den nimmt der Wagen mit.

oder:

Einer war wie ein Licht so dünn
Und er brannte wie ein großes Feuer
Ein Tag kam ein neuer
Das Licht machten sie hin.
Er hatte keine Orden
Nur Blut am Kinn.

Einen schmalen Gedichtband hat Inge Müller geschrieben. Und der Titel dieses Bandes sagt auch, warum: Wenn ich schon sterben muß.
Wo das Wort „Freunde“ auftaucht in den Gedichten, ist die Nähe durchgeschnitten vom Alleinsein. Kein Finger rührt sich, um dies zu ändern. Unbeweglich steht Leere im Gleichmaß da. Innen längst stumm und schal, außen starr.
Oft stehen nur Initialen von Namen als Gedichttitel, Namen von Freunden, die es nicht mehr gibt. Die Scheu, sie auszusprechen, macht die Gedichte auf unerklärliche Weise intim.

FÜR H. E.

Grau ist der Himmel vorm Morgen
Der zu frühe Star singt im Schnee
Eh die Sonne ganz oben steht.
(Der Tod tut dem Sänger weh.)

Aus der Parole des Arbeiter-und-Bauern-Staats „einer für alle“ macht Inge Müller in dem Gedicht „Für E. A.“: Einer von allen. Ich vermiß dich sehr. Hier zählt dieser eine. Die Realien kommen in den Gedichten nicht voran. Es gibt nur Folgen, die Ereignisse sind bereits geschehe und wurden hart bezahlt von denen, die in Sie hineingetrieben wurden, ohne dies zu wollen. Geschichte ist für Inge Müller das ständig an die Schläfe klopfende Detail des Ganzen, das, woran man im großen Lauf der Ereignisse klein zerbricht. Zweimal ist Inge Müller zerbrochen (worden). Zwei Diktaturen gingen über sie hinweg, der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Zwei Säcke trug sie – in dem zweiten nur Ohnmacht, in dem ersten sogar Schuld. Mehr eingeredete als begangene Schuld, aber was nützt das einem Menschen, der nicht leben kann, ohne die persönliche Moral an die Geschichte anzulegen: 1945 wurde Inge Müller kurz vor Kriegsende als Luftwaffenhelferin zur Wehrmacht eingezogen. Kaum zwanzig Jahre alt, erlebte sie in der Soldatenuniform das maßlose Toben der Zerstörung in Berlin. Sie wurde unter Schutt begraben und erst drei Tage später lebendig aus diesem Grab geborgen. Kurz darauf grub sie ihre Eltern tot aus den Trümmern ihres Hauses aus. Sie wollte den Ring vom Finger der toten Mutter als Erinnerung behalten. Der Ring ließ sich vom Finger der Mutter nicht abstreifen. Sie ging eine Tragbahre holen, um die Toten wegzubringen. Als sie mit der Bahre wiederkam, war der Finger mit dem Ring abgeschnitten.

12-Zeilen-Befehl, Stakkato in Phrasen
Ein Stempel: Mädchen, du bist Soldat
Weg mit den Locken, den Kleidern – den Rasen
Ob grün oder weiß, zahlt der Staat.

Inge Müller war drei Tage dort, wo der Tod ist. Man sagt, daß man sich auf den Tod verlassen kann. Manchmal stimmt das nicht. Der Tod behielt Inge Müller nicht. Er schickte sie aus dem Schutt wieder über die Erde, ohne zu fragen, wie und ob sie das aushält.

TRÜMMER 45

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch;
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch.

Eine Schauderumkehrung. Wie Mutter und Vater ihr Kind zum Essen überreden, wie sie einen Schluck für Mama, einen Bissen für Papa erbetteln, so reicht sich in diesem Gedicht das Kind den Eltern zurück. Das Trauma des Verschüttetseins blieb.

Mög ihm die Erde leicht sein.
Wenn die Erde nicht schwer ist
Ists weil sie leer ist

schreibt Inge Müller. Sich über die Erde aufraffen nach dem Krieg, vielleicht hatte sie darauf gehofft. Viel Zeit zum Hoffen blieb nicht. Denn der junge Staat DDR, antifaschistisch und demokratisch angetreten, lief noch in Kinderschuhen in den Stalinismus. Willkür, Heuchelei, Erpressung wurden im Umgang zwischen Menschen wieder zur Maßgabe gemacht, Verhaftungen zum Alltag.

Einmal kommt
Von uns gesandt
Der vorgeahnte Mensch.
Protzt, ihr
Die uns
Ins Straßenpflaster stampft.

Nach Kriegsende war Inge Müller Arbeiterin, Sekretärin, Journalistin. Sie heiratete Heiner Müller, dreizehn Jahre lang – bis zu ihrem Tod – war sie seine Frau. Sie schrieb mit ihm zusammen die Stücke „Die Korrektur“, „Der Lohndrücker“, „Klettwitzer Bericht“. Man fragt sich heute: Was hat sie, der das Unglück buchstäblich aus den Augen stach, die Geschichte ohne Distanz zu den Fakten als persönliches Draufzahlen begriff, in diese Stücke hineingelegt. Und was er, der dazugehörende Mann, der Geschichte als Material bezeichnet und Moral als Behinderung der Ästhetik? Oder hat Heiner Müller dieser Frau wegen das Tragische damals noch nicht so weit von sich weghalten können wie heute?

Die Zerbrochenheit der Inge Müller führte in die Einsiedelei kalter Poesie. Und ins Akkordeonspielen, für das sie sich einschloß ins Haus. Sie spielte besessen bis zur Erschöpfung, für niemanden mehr erreichbar. Ins Leben hinein führte kein Wort mehr und kein Lied. Viele Gedichte kannte zu ihren Lebzeiten niemand. Sie hielt sie geheim, ein Sprechen zurück in den eigenen Mund, ein Versuch sich zu halten im Auf und Ab aggressiver Erinnerung an gruselige, menschenmögliche Tat. Adolf Endler benennt diese Gedichte als Poesie knapp vor dem Absturz.
Für Gehorsam und Opportunität war Inge Müller nicht mehr zu gebrauchen. Wo Geschichte unseliger Betrug und jedes Stückchen gebliebenen Lebens Schmerz geworden ist, fängt Verweigerung vor der Politik an. Außer dem nervösen, immer plötzlichen Augenaufschlag der Worte hielt Inge Müller nichts mehr in der Hand. Sie war eine, die auf dieser Erde nicht mehr mitleben konnte. Jede Selbstverständlichkeit war weg, der ganze Körper trat immer einen Schritt nach hinten aus der Reihe. Es rebellierten die Sinne, weil jeder Nerv offenlag. Es organisierte sich nichts mehr im Denken und Wollen, und nichts geriet zur Theorie.
Nach dem ersten Tod 1945, auf den sich Inge Müller nicht hatte verlassen können, kam am 1. Juni 1966 der zweite Tod. Es war nach mehreren mißlungenen Versuchen ein Selbstmord, der gelang. Inge Müller konnte sich diesmal auf den Tod verlassen, er konnte sie nicht mehr wegschicken. Und er hat sie behalten.

Die Nacht sie hat Pantoffeln an
Aus Tierhaut und aus Gold
Im Stiefelschritt marschiert der Tag
Der unsre Nacht einholt.

Wenn morgen früh im Dämmerlicht
Der Star vom Dachrand schreit
Bleibt dein Gedicht und mein Gedicht
Wir und die Nacht sind weit.

Herta Müller, Rowohlt Literaturmagazin 34, Rowohlt Verlag, 1994

„Die Nacht sie hat Pantoffel an“

– Der Todesfleck in den Gedichten von Inge Müller. –

Mond Neumond deine Sichel
Mäht unsre Zeit wie Gras
Wir stehn aufrecht im Himmel
Auf dünnem Stundenglas.
Der Stern geht seine Wege
Wir suchen unsern Weg
Wenn ich mich niederlege
Geh über mich hinweg.

Immer nutzt einer den Sturz eines andern als Treppchen zum Aufstieg. Dieses Grundmuster, für Inge Müller sitzt es mal nackt, mal verpuppt in allen Details. An diesem Grundmuster entlang gehen die Reime ihrer Gedichte: das Abdanken des Einen als Vorteil für den Anderen, zwei Seiten des gleichen Existenzmoments, die beieinander stehen um denselben Kern. Nur war Inge Müller immer die abdankende Seite, spürend, wie andere profitieren. Das Leben forderte unentwegt etwas ganz anderes als das, was sie sich selber zu wünschen oder anderen zu geben imstande war.
Man sagt: das Leben, aber es forderten zwei Regime, der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Beiden Regimen waren das Individuelle und sein Selbstwertgefühl suspekt. Der Einzelmensch galt nicht als Teil, sondern als Feind des Ganzen. Das Kollektiv war nicht die Summe der Einzelnen, sondern deren organisierte und kontrollierte Verleugnung. Nach dem Ende des Nationalsozialismus begann der DDR-Sozialismus mit dem vorgeschriebenen „Glück“ des „neuen Menschen“. Das gerade abgelöste und das neu installierte Regime führten Inge Müller vor, wie man sich außer acht zu lassen, der Dienerei verfügbar zu sein, den Kopf für die „Sache“ hinzuhalten hatte: „lm Verhältnis zur Nation gering“, schreibt Inge Müller. Überall, wo ein Wunsch von sich aus hingegangen wäre, stand schon ein Befehl. Der erste war der Einberufungsbefehl, das „Stakkato in Phrasen“.

EINBERUFUNG

13-Zeilen-Befehl, Stakkato in Phrasen
Ein Stempel: Mädchen, du bist Soldat
Weg mit den Locken, den Kleidern – den Rasen
Ob grün oder weiß, zahlt der Staat.

Mit Hitlers Vision vom „Endsieg“ fing es an, die Schwere des Grabs rutschte mitten ins Leben. Es kam zum ersten Mal der SCHWARZE WAGEN:

Da kommt der schwarze Wagen
Das Pferd, das geht im Schritt
Und wer allein nicht laufen kann
Den nimmt der Wagen mit.

In den letzten Kriegstagen von 1945 wird Inge Müller, knapp zwanzig Jahre alt, als Wehrmachtshelferin einberufen und in Uniform gesteckt. Sie gehört zu Hitlers Kindersoldaten ohne Ausbildung, ohne Glauben an den Sinn, ohne Todesmut, mit dem Himmelsschlüssel am Hals ins Feuer gejagt, ohne Lebenszeit. Der „Endsieg“, er wurde eine Schutt- und Gräberlandschaft. Die beiden letzten Strophen aus LEBENSLAUF lauten:

Durch die Tür kam auch der Marschbefehl.
Als ich wiederkam nach tausend Jahren
Lag eine andre Tür halb verbrannt
Auf denen die drunter waren.

Da war was die Welt war türlos
Und was Füße hatte lief
Über die Gräber, die waren kreuzlos
Still und bodenlos tief

Das Grab, das dem Menschen nach dem Tod zusteht, hatte Inge Müller lebend genommen, und länger als das Warten auf Rettung hoffen kann: drei Tage lag sie unterm Schutt begraben, hatte den Tod vorgekostet. Es ist uns als Lebende nicht erlaubt, unseren eigenen Tod in der Erde zu besuchen. Aber die Bombardements der letzten Kriegstage zwangen Inge Müller dazu, das Unerlaubte traf sie. Nie mehr wurde sie das Trauma des lebendigen Verwesens los.
Drei Gedichte tragen den Titel UNTERM SCHUTT. Und von ihnen nehmen andere ihren Lauf, fassen den Schrecken weiter und streifen ihn doch.

TRÜMMER 45

Da fand ich mich
Und band mich in ein Tuch;
Ein Knochen für Mama
Ein Knochen für Papa
Einen ins Buch.

Ein Rad schlagen, eine Schauderumkehrung: So wie Mutter und Vater ein Kind zum Essen überreden (ein Schluck für Mama, ein Bissen für Papa), so reicht sich in diesem Gedicht das Kind zerlegt den Eltern zurück. Denn diese Eltern liegen, als Inge Müller sich aus dem dreitägigen Tod im Schutt befreit hat, von ihrem Haus erschlagen auf der Straße. Kurz und illusionslos und im Ton dringlich bis zum Gehtnichtmehr, wie die eingetretenen Katastrophen – so werden für Inge Müller auch die Gedichte:

NACH DEN BOMBENANGRIFF

Ein schöner Morgen! Kein Baum vorm Haus mehr
Und kein Haus steht mehr unter den Bäumen.

Zwei Zeilen, gelöschtes Leben als Stilleben, plötzlicher Abbruch der Worte, nichts mehr außer kaltem Staunen. Das Entsetzlichste nach diesem Bombardement steht im Gedicht nicht drin: Als Inge Müller mit einer Handkarre zu den beiden Toten zurückkehrt, um sie zur Leichensammelstelle zu fahren, ist der Ring der Mutter samt dem Finger abgeschnitten.
Hier, an dieser Stelle hat für Inge Müller die Parabel vom Sturz des Einen als Treppchen des Anderen begonnen. Diese unerlaubte Gleichzeitigkeit, daß etwas im eigenen Kopf drin unfaßbar und in der Schuttlandschaft draußen harmlos ist: der leichenfleddernde, kleinkriminelle, nicht bös gemeinte Diebstahl des Passanten. Des einen Tod, des anderen Mitbringsel aus Gold – die beiden krassen Nuancen zogen hier zum ersten Mal Parade, starrten einander gnadenlos an. In der verwahrlosten Normalität von damals ein Kleinsterlebnis, aber prägend für immer und grenzenlos in seiner Niedertracht. Höchstens der Schwarzhandel, aber nicht sowas wird erwähnt, wenn vom Kriegsende die Rede ist. Das harmlose Wort „Schwarzhandel“ schließt aber diesen Diebstahl ein, den Verkauf des Goldrings nach dem Abschneiden des Leichenfingers.
Welcher Deutsche würde heute zugeben, daß er auf diese Art zu einem Ring gekommen ist. Diese Geschichte blieb wie der Schutt persönliches Gepäck der Inge Müller, sie gehörte wie das Grabprobieren zum Todesfleck in ihrem Kopf. Sie schreibt:

NUR DER HIMMEL IST DERSELBE.
Frierend zähl ich Wolken ab.
Taubnesseln leg ich, als ich heimgeh
Lachend auf ein fremdes Grab.

Es ist nicht lange her, daß im Feuilleton festgestellt wurde, es fehle in der deutschen Literatur der Horror des Bombeninfernos der letzten Kriegstage Gerade dies ist ein großes Thema in Inge Müllers Gedichten. Sie hat dieses Inferno von innen durchbuchstabiert, daß man nach dem Lesen der Gedichte ihre Stimme nicht mehr los wird. In allen Diskussionen über den Nationalsozialismus hätten die Deutschen, die den Krieg nicht angetrieben, sondern lediglich mit ihrer Todesangst gefüttert hatten, diese Gedichte nötig gehabt. Nötig gehabt zum einen für sich selbst, weil viele Deutsche als Soldaten mitgegangen und für immer davon gezeichnet waren. Zum anderen hätten gerade diese Gedichte viele Fragen, die nach 1945 von der Welt an die Deutschen gerichtet worden sind, kompromißlos aus dem Mittendrinsein beantwortet.

GEDANKEN EINER SOLDATENBRAUT

Die Blechnummer auf deiner Brust
Drückt bei jedem Kuß
Wie ein Friedhofstein:
Mög ihm die Erde leicht sein.
Wenn die Erde nicht schwer ist
Ists weil sie leer ist
Geh nicht allein
Ich drück mein Herz ein.

Oder das Gedicht:

BRIEF EINER WEHRMACHTSHELFERIN

Heute bin ich Soldat
Soll alles vergessen und schießen
Gestern saßen wir vor der toten Stadt
Du und ich dir zu Füßen

Mein Kleid bringt die Post zurück
Ich komme vielleicht nicht wieder
Pflicht und Soldatenglück
Ich hasse Soldatenlieder

Die Uniform auf mir und ein Gewehr
Eine Gasmaske und zwei Decken
Ich seh mich im Spiegel nicht mehr
Vorm Tod kann man sich nicht verstecken.
(…)

So filigran und persönlich hat in der deutschen Sprache kaum jemand klar gemacht, daß nicht nur die Kriegsbegeisterten und Naziverblendeten, sondern auch die Mitgezerrten für Hitlers Wahn bezahlten. Kein Text eines Beteiligten hat so Ernst gemacht, wenn er sich dem Thema Auschwitz stellte, wie das Gedicht „Liebe nach Auschwitz“. So ergreifend und redlich kann kein anderes deutsches Gedicht Paul Celans „Todesfuge“ in die Augen sehen:

LIEBE NACH AUSCHWITZ

Das war Liebe
Als ich zu dir kam
Weil ich mußte
Das war Liebe als ich von dir ging
Weil ich wußte.
Die alte Scham ist falsche Scham.

Da half kein Gott und kein Danebenstehn

Und ich ging. Und da war nichts getan
Ich sah mich und dich
Und sah die andern an
Und es reichte noch nicht

Da half kein Auseinandergehn.

Durch persönliche Beschädigung ist Inge Müller zu diesem direkten, gerafft-vereinfachten Ton gelangt. Sie hat das Gefühlsgezerre so vieler getroffen, aber wenige wollten es wissen, am wenigsten der neue Staat DDR. Sie hat an ihn geglaubt, an seine menschliche Gesellschaft, an seine antifaschistischen Kinderschuhe. Der aber ging in den Stalinismus und baute noch 1961 die Mauer, den „antifaschistischen Schutzwall“, als hätten die Faschisten noch immer und von Anfang an im Westen gesessen und nur dort. Die neuen, unsicheren Parvenus der Macht wollten ihre Sprüche, ideologiefeste Phrasen, keine Details der Wahrheit. Aber da schrieb eine, die auf Wahrheit bestand, weil sie am Lügen und Mitlaufen zerbrochen war. Sie schrieb aus der Sicht derer, die das Verbrechen weder gewollt noch angezettelt, sondern lediglich mit alleingelassener Todesangst gefüttert hatten. Diese Sicht hätte sich der neue antifaschistische Staat zu eigen machen müssen, wenn er eine Rhetorik zum Nachdenken statt zum Klittern der Wahrheit gesucht hätte.
Die Furcht der DDR vor Inge Müllers Gedichten, schon sie allein stellt jeden ernstgemeinten Antifaschismus in Frage. Diese Furcht konnte nur aus der Irritation herrühren, daß Todesangst im neuen stalinistischen Staat wieder alltäglich war, daß nur Heucheln oder Wegsehen und Schweigen das Glück des sogenannten „neuen Menschen“ möglich machen. Es fuhr wieder der schwarze Wagen durch die Jahre.

FREUNDE I

Einer war wie ein Licht so dünn
Und er brannte wie ein großes Feuer
Ein Tag kam ein neuer
Das Licht machten sie hin.
Er hatte keine Orden
Nur Blut am Kinn.

Man sah Menschen stürzen, in allernächster Nähe, aus der Freundschaft heraus wurden sie erpreßt, verfolgt, gebrochen und fallengelassen. Wie das „Thema Schutt“ ist das Thema der verlorenen Freunde in den Gedichten immer da. Minimalportraits, aus durchsichtig-dünnen Strichen, Erwähnung mit Initialen statt der Namen, eine Intimität im Flüsterton:

MAX

Er war viel betrunken
Es tat ihm nicht weh
Er schonte die Unken
Am See
Ihrer Goldaugen wegen
Er war so. Dagegen
Als er ein Junge war
Blies er auch Frösche auf
Und zahlte drauf
Bis er sich fand
Am See im Sand
Und sagte: mit dem nehm ichs auf.

Für Ideologie war Inge Müller nach dem Krieg nicht mehr zu haben. „Sie hatte Eloquenz und Charme, strahlte eine unglaubliche Heiterkeit aus, war von sprühender Intelligenz“, zitiert Jürgen Serke in seinem Buch Zu Hause im Exil einen ihrer Bekannten. „Ohne Floskeln, ohne Phrasen, ohne Schlagworte…“
Sie war mit diesem mitgebrachten Todesfleck des Kriegs alt im Kopf, aber äußerlich jung, auffallend schön. Sie versuchte dem neuen Staat durch nachweisbare, vernünftig einfache Arbeit nützlich zu sein, gab sich Mühe, gleich nach dem Krieg über den Todesfleck hinwegzuspringen ins Leben. Viele und ganz verschiedene Anläufe beginnen: Trümmerfrau ist sie, Demonteurin in der Fabrik, Akkordeonspielerin, die in Krankenhäuser und Gefängnisse geht und sechs Kinos betreut, Sekretärin ist sie, Journalistin, schreibt Kindergedichte, Schlagertexte. Sie heiratet und bringt einen Sohn zur Welt. Sie läßt sich scheiden und heiratet den Direktor des Friedrichstadt-Palastes, versucht sich als Dompteuse. Sie zieht mit diesem Mann ins abgesicherte Leben, in ein Viertel mit gemachten Bonzen in Lehnitz bei Oranienburg.
Dann lernt sie 1953 Heiner Müller im Schriftstellerverband kennen. „Sie hatte eine grüne, gestreifte Bluse an, der oberste Knopf dieser schönen teuren Bluse war auf, sie erzählte von zu Hause, ich erfuhr, daß sie zu den oberen Zehntausend gehörte, und ich weiß noch diesen Moment, als meine proletarische Gier auf die Oberschicht sich regte“, schreibt Heiner Müller.
Sie zieht der Liebe nach, aus dieser Oberschicht zu Heiner Müller, der damals mit Gedichten und kleinen Prosaarbeiten begann. Sie heiratet ihn und ist 13 Jahre lang bis zu ihrem Suizid seine Frau. Sie teilen sich das Schreiben der Stücke: Korrektur und Lohndrücker. Sie rückt ihr Dichten für die gemeinsame Arbeit in den Hintergrund. Ihr Kopf ist alt, das Zickzack des gelaufenen Lebens stellt sie zur Verfügung, ihre Menschenkenntnis, ihre dünnen Nerven schält sie nochmal für ihn. Ihr Name rangiert immer klein unter dem des Mannes, als Mitarbeiterin.
Sie schnappt sich als 32-jährige den sechzehn Jahre alten Wolfgang, den Bruder Heiner Müllers, der aus dem Westen zu Besuch gekommen ist und in der DDR bleibt. Ein Dreiergestirn, aufwühlend und vertrackt. Anscheinend giert sie nach ihrer Zeit, die der Krieg gestohlen hat, nach einem jungen Mann, der diese Zeit nicht in sich hat, giert vielleicht auch nach unkomplizierter Nähe, die sie bei Heiner Müller vermißt. Sie trägt ihr persönlichstes Gepäck ein Stück auswärts, vielleicht zu einem, der anders zuhört, der nicht mit intellektuellem Gehabe dagegenhält und in ihrem Unglück nicht bloß Material fürs Theater sieht.
Als Die Umsiedlerin auf einer Studentenbühne gespielt wird, kommt es zum Eklat. Es ist das Jahr 1961, das Baujahr der Mauer. Das Stück wird verboten, alle Textexemplare konfisziert. Heiner Müller wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, ohne Gegenstimme. Man verlangt von Inge Müller, sich von ihrem Mann zu trennen: „Sie sind doch eine Künstlerin, und das ist doch, wie soll ich sagen, Abschaum.“ Dieser Satz fällt, und Anna Seghers sitzt dabei und schweigt. Und Inge Müller sagt: „Ich bleibe bei meinem Mann.“
Der Wortlaut des beim Schriftstellerverband Gesagten, er macht begreiflich, wie und warum Inge Müllers Versuch, den Riß zu kitten, nicht gelingen konnte. Es kommen Jahre der völligen Degradierung und materiellen Armut. Das Geld reicht oft nicht für Kohle im Winter, nicht fürs tägliche Essen. Die inneren Wege zwischen ihr und Heiner Müller laufen auseinander. Er setzt aufs Arrangement und läßt sie immer weiter hinter sich zurück mit ihrem Grübeln über moralische Werte. Sind Freunde im Haus, fallen die Gespräche in zwei Teile auseinander – bittere Brecht’sche Konventionalität. Mit dem Dramatiker diskutiert man intellektuell. Inge Müller ist zuständig für den persönlichen Part, für die mitgebrachten Ängste, fürs elende Heulen der Freunde, wenn sie nicht weiter wissen. Da wird eine ausgeschlossen, Inge Müller muß ihr Selbstwertgefühl im Privatesten genauso verteidigen wie vor dem Staat. Sie schließt sich im Zimmer ein, spielt Akkordeon bis zum körperlichen Zusammenbruch. Der schwarze Wagen fährt, es kommen Siuzidversuche: Pulsadern öffnen, Quecksilber des Thermometers trinken, Sprung vom Balkon, Alkohol. Sie wird gerettet und zurückgenommen, und will es womöglich nicht mehr, und vielleicht doch.
In den letzten sieben Lebensjahren schreibt sie ihre Gedichte, aber die zeigt sie dem Mann an ihrer Seite nicht, und es muß ihr ein leichtes Geheimnis gewesen sein, denn er traut ihr das Schreiben ja gar nicht zu. Sie schält die dünnen Nerven allein.

LEISING

Du kannst dich selber nicht tragen
Du hast alles satt
Trägst dein Kindergesicht wie ein König
Der alle Reiche verloren hat.
Kratzt
Schreibst mit Kinderschrift
Kreide auf Stein
Höhlenzeichen am Mauerrand ein.
Fällt ein Pferd um trägst du den Wagen.

Die Nähe der Musik, das Akkordeon, das Bestürzende einfacher Liedpoesie spürt man aus diesen Gedichten. In manischer Aufsagerei in den eigenen Kopf, so scheinen sie geschrieben worden zu sein. Eine leierhafte, verzehrende Beschäftigung als Halt für die Tage. Sie haben keinen äußeren Anspruch, Anerkennung wurde ihnen sowieso nicht zuteil. Sie sind senkrecht nach innen gestellt, aufs Rigoroseste geschliffen, glasig, als könnten sie noch heute, beim Lesen, zerschellen. Inge Müller hat, so kommt es einem vor, den Gebrauchswert ihrer Dichtung durch innere Reibung getestet. Hat sie so lange im Hirn erprobt, bis sie übers gewöhnliche Handwerk hinaus, durch gespenstische Intuition makellos wurden.

FÜR H. E.

Grau ist der Himmel vorm Morgen
Der zu frühe Star singt im Schnee
Eh die Sonne ganz oben steht.
(Der Tod tut dem Sänger weh)

Heiner Müller schreibt, er sei mit der Ungerechtigkeit besser fertig geworden als sie, er habe von der Welt sowieso nichts anderes erwartet. Da spricht ein Unterschied, den auch die Liebe nicht relativieren kann. Ihre Sicht ist Geschichte als persönliches Unglück, und seine Sicht ist Geschichte als Manövrierstoff beim Schreiben. Wenn man Heiner Müllers Abgeklärtheit weiterdenkt, als er sie äußert, hieße das: Jeder bezahlt für sein Leben genau soviel, wie er von ihm erwartet. Oder: schrumpf, bis deine Ansprüche so klein sind wie dein Leben. Materielle Armut als Folge von Degradierung mag gerade noch hinnehmbar sein, aber doch nicht ohne die Frage: „Wie kommen die Staatsschranzen dazu, unser Leben zu stutzen?“ Denn innerhalb des Registers moralischer Werte (zu denen auch der Selbstwert gehört) lassen sich diese Schrumpfungen ohne Selbstzerstörung nicht machen. Wenn, wie im Falle der Inge Müller, die buchstäblich physisch verankerten ethischen Werte diese Rundum-Niederlage erfahren, wird man in allem selbst weggenommen, die Gedanken im Kopf genauso wie das Ansehen vor der Haustür. Als Unperson ist man mit dem Kopf und mit den Füßen nirgends mehr zu Hause. So war es für Inge Müller, so gab es keinen anderen Weg, als buchstabierend und allein aufs Ganze zu gehen.

DIE NACHT SIE HAT PANTOFFEL AN
Aus Tierhaut und aus Gold
Im Stiefelschritt marschiert der Tag
Der unsre Nacht einholt.

Wenn morgen früh im Dämmerlicht
Der Star vom Dachrand schreit
Bleibt dein Gedicht und mein Gedicht
Wir und die Nacht sind weit.

Herta Müller, in Ursula Keller (Hrsg.): „Nun breche ich in Stücke…“, Verlag Vorwerk 8, 2000

 

LEGENDE VOM SELBSTMORD
DER INGE MÜLLER IM JAHRE ’66

Unter Trümmern in Berlin, nicht unterm Regenbogen
Lag die Dichterfrau verschüttet, ward herausgezogen
Blieb halb tot im Frieden, hat sich ganz dann hingegeben
Einem Müller, Heiner – auch genannt: der Steineklopper
Tiefer, unter ihm, verschüttet lag sie nach dem Kriege
Spracheschutt und Wortbruch. Ausgeglühte Straßenschienen
Kupfersprüche. Bleigedanken. Elend eingestürzte Phrasen
Klinkersteine stapeln: Trümmerweib für Wortruinen

aaaaaDu, ich weiß noch alles
aaaaaaaFleisch und Blut und
aaaaaaaaaHaare und Gebeine
aaaaaAch, aus Steinen kann man
aaaaaaaHäuser machen – und
aaaaaaaaaaus Häusern Steine

Aus Kartoffelschaln und Kippen kann man Verse kochen
Die verbrannte Zunge lutscht das Mark aus morschen Knochen
Karabiner kann man tauschen gegen Schreibmaschine
Balalaika, Quetschkommode, bunte Russenlieder
Blutdurchsuppte Wehrmachtsmäntel. Amischokolade
Papyrossi. Und das Pärchen schwamm durch Wodkafluten
Und sie liebten sich in alphabetgefüllten Bombentrichtern
Selig nach dem heißen, in des kalten Krieges Gluten

aaaaaDu, ich weiß noch alles…

Dichterfrau – was soll das heißen: etwa Weib des Mannes
Der da dichtet, oder Frau, die selber Worte schichtet
Stein für Stein hat sich das Menschenkind noch mal alleine
Ausgebuddelt: A-B-C-D-E-F-G-H-I-J
K-L-M-N-O-P-Q-R-S-T-U-V-W-X
Ypsilon und Zet riskiert sie endlich eine Lippe
Und sie flieht aus ihres genialen Mackers Mickerleben
Und sie springt dem guten Tod, Freund Hein, auf seine Schippe

aaaaaDu, ich weiß noch alles…

Auf ’ner schwarzen Wolke schwebt sie dreißig Jahre später
Gottes Jazztrompeter bläst Germanias Trauermärsche
Heiner Müllers Grube wird grad unten ausgehoben
Und die Dichterin erbricht die „Internationale“
Runter in das offne Grab in Ostberlin. Die Alte
Sieht die junge Witwe weinen an dem Sarg. Es lachen
Brecht und Eisler. Ach und William Shakespeare krümmt sich in der Hölle:

Gloster Gysi will dem Volk den König Richard machen

aaaaaDu, ich weiß noch alles
aaaaaaaFleisch und Blut und
aaaaaaaaaHaare und Gebeine
aaaaaAch, aus Steinen kann man
aaaaaaaHäuser machen – und
aaaaaaaaaaus Häusern Steine

Wolf Biermann

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Kalliope

 

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Hans-Jürgen Wesener: Letzte Zeilen gab es in ihrem Leben viele
Die Welt, 13.3.2000

Zum 50. Todestag der Autorin:

Sabine Göttel: Ein Leben und viele Tote
Literatur & Leben, 15.5.2016

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Internet Archive + Kalliope

 

Heiner Müller spricht u.a. über seine Frau Inge Müller und liest sein Gedicht „gestern an einem sonnigen nachmittag“.

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