Johannes Schenk: Spektakelgucker

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Johannes Schenk: Spektakelgucker

Schenk-Spektakelgucker

GARDEROBENSTÄNDER UND STERNE

Wo auf dem schiefgewickelten Globus noch leben,
an welchen Garderobenständer den Hut hängen,
wohin den Postboten zu Tisch bitten,
der mir gerade den Brief gebracht hat,
daß die Miete eine halbe Etage höher steige,
bis zu den Regenrinnen.
Woraus mir die Putzbrocken auf den Kopf flattern.
Was tun, auf einem wackeligen Fußboden,
der mir Kündigung beschert,
die ich jeden Tag neu erwarte.
Und all die untröstlichen Hoffnungen in der Stadt.
In der ich nicht der erste bin,
nicht der letzte sein werde, dem das Dach überm Hut
und das Bett unterm Rücken weggezogen wird.
Sichtbar in all seiner Schönheit
der blanke Himmel darüber mit geputzten Sternen.

 

 

 

Spektakelgucker

sind die, denen die Welt zum lärmenden Schauspiel wird, zum bunten und verlockenden, zum grotesken und absurden Treiben. Aus den Kreuzberger Hinterhöfen entwerfen sie Fluchtlinien, sinnliche Träume voll Sehnsucht und Melancholie. „Eine reiche, schier unerschöpfliche Phantasie ist die Basis, der Quell dieser Poesie.“ (Alexander von Bormann in der Frankfurter Rundschau)

Deutsche Verlags-Anstalt, Klappentext, 1990

 

Beiträge zu diesem Buch:

Helmut Böttiger: Gedichte, Ornamente
Stuttgarter Zeitung, 14. 12. 1990

Karl Deiritz: Mit den Augen des Träumers
Freitag, 11. 1. 1991

Alexander von Bormann: Kopf unter blauer Mütze
Der Tagesspiegel, Berlin, 17. 2. 1991

Stephan Speicher: Flucht durch Wasser und Luft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 4. 1991

Kurt Drawert: Die vermeintliche Tugend der Ferne
Süddeutsche Zeitung, 24. 4. 1991

 

Laudatio an Johannes Schenk

Empfänger der Kester-Haeusler-Ehrengabe 1997

Opa Böttcher schnitzte die Holzschuhe, in denen ich als Kind übern Sanddamm spazierte. Ich ging im mahlstromigen Sand mit schiefen, nach innen gebogenen Füßen, weil ich Rachitis hatte, bis ich neun war oder zehn. Hinter unserem Haus, in dem Mama und ihre Freundin, die Malerin, deren Sohn und ich wohnten, lag die Kuhwiese, taufrisch am Morgen und, unter den Apfelbäumen mit den krummen Ästen, kühl auch im Sommer, da stapften die rosaeutrigen Kühe im Matsch und soffen das Wasser aus der Blechtonne, das Wasser troff aus ihren runden Nasenlöchern, sie beugten die Köpfe über den Zaun, wo es noch kühleres Wasser gab, das sie nur riechen konnten.

Drei Sätze nur, prall voll Bildern, voll Duft, aber kein Wort, keine Nuance zu viel. Landleben, aber keine Idylle; real-voll möchte ich diese Sätze nennen. Johannes Schenk eröffnet mit ihnen seinen 1993 erschienen Erinnerungsband Dorf unterm Wind. Untertitelt sind die Erinnerungen „Eine Kindheit in Worpswede“. 1941 in Berlin geboren, ist Johannes Schenk in Worpswede aufgewachsen.
„Das Zarte und Gewaltige, das Heitere und Düstere sind nirgends enger gepaart“, charakterisiert Hans Bethge 1905 die Landschaft; Worpswede war gerade in die Kunstgeschichte eingegangen. Rainer Maria Rilke, 1902, nennt sie „eine merkwürdige Landschaft“. Heute ist das Bildungsgut, vernutzt; wie vermag einer, dagegen an, Kindheitserinnerungen zu schreiben? Bei Johannes Schenk reicht Kindheitserinnern hinter das Bildungsgut zurück. Die Maler wie ihre Modelle, Bohème und Rachitis sind von ihm erlebt. Das Zarte und Gewaltige, das Heitere und Düstere sind bei ihm noch immer gepaart, das Zarte und Düstere im Inneren, wie das von Bethge beschworene der Landschaft.
Mit vierzehn geht Schenk zur See; sechs Jahre fährt er auf Fischkuttern, Frachtschiffen und Bananendampfern. Die See lässt ihn nicht los: Auf einem umgebauten Rettungsboot macht er sich auf; vor Casablanca versagt das ihm den Dienst. Auch den Dichter, der Schenk doch ja nun von Substanz her ist, lässt sie nicht los: Johannes Schenk habe „den rollenden Seemannsgang in die deutsche Gegenwartslyrik eingebracht,“ urteilt Michael Töteberg 1988 im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt über Schenks Metrik. Fisch aus Holz heiß seine erste Veröffentlichung, 1967 erschienen in der Rabenpresse, Jona, 1976 eine andere, ein 1977 erschienener Kinderroman Die Stadt im Meer, Der Schiffskopf, Geschichten, 1978. Meer und Seefahrt sind die andere Quelle seiner Bilderwelt. Sie ist von einer pastos, zuweilen grellbunt aufgetragenen Farbigkeit, diese Welt der Schiffe, Salzgeruchs, phosphorisierender See, blitzender Messer, der erotischen Einsamkeit der Seeleute oder – mit einem seiner Bilder zu sprechen –: „frischgemalter Träume“. Keine Idyllik; die Gegenidyllik charakterisiert er – ich zitiere aus dem Titelgedicht seines Bandes Bis zur Abfahrt des Postdampfers – mit dem einen Satz:

Tropft dem Seemann die Einsamkeit
aus dem segeltuchgenähten Beutel.
Bückt er sich, glaubt keiner guckt,
sie heimlich aufzuwischen.

Berlin, wo er in Kreuzberg Straßentheater spielte, überhaupt Großstädte, sind das dritte überquellende Reservoir seiner Bilderwelt, freilich einer Welt unter Fluchtgedanken.

Die dünnen Masten auf den Dächern
schwanken, meine Depressionen im Café Americain,
so
daß ich für einen Moment aufs Schiff
will

beginnt er das Gedicht „Selbstbildnis mit Hut“ in dem 1985 erschienenen Band, benannt nach dem Amsterdamer Café Americain.
Es sind breit angelegte, zuweilen kataraktartig hinstürzende Erzählgedichte, von denen bislang unter den Titeln Bis zur Abfahrt des Postdampfers und Cafe Americain beispielhaft die Rede war; nehmen wir für dieses Genre, den im selben Verlag, der Deutschen Verlagsanstalt, 1990 erschienenen Gedichtband Spektakelgucker als dritten hinzu, um an ihm auf einen Zug seiner Lyrik einzugehen, der bis jetzt noch nicht zur Sprache gekommen ist: die Phantastik. Chagalls Bilderwelt bringe sich in Erinnerung, meinte einer der Rezensenten des Spektakelguckers. Ich scheue diesen wie jeden Vergleich. Schenks Phantastik ist nicht allein die des Märchens, sie reicht bis in die Sprachbilder – oder nennen wir sie besser: seine Art der Poesie.
Die Liste seiner Bücher, die Johannes Schenk mir auf meine Bitte schickte, führt siebzehn Titel auf. Er schrieb mir dazu „Welche der Bücher die hier wichtigsten sind, vermag ich nicht zu sagen; jedes ist zu seiner Zeit geschrieben und mir nah.“ Er möge mir nachsehen, dass ich unterm Diktat der Zeit gerade auf vier dieser siebzehn eingegangen bin.

Egbert-Hans Müller, Deutsche Schillerstiftung von 1859: Ehrungen – Berichte – Dokumentationen, 1997

 

 

Michael Wilke: Glaspyramide könnte Dichter-Boot schützen
Weser Kurier, 14.1.2012

Ein Abend für Johannes Schenk

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv + Kalliope + KLG
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
Brigitte Friedrich Autorenfotos

Nachrufe auf Johannes Schenk:

lmue: Hinter dem Meer
Süddeutsche Zeitung, 6.12.2006

sv.: Fast der Bürgermeister von Worps­wede
Berliner Zeitung, 6.12.2006

Hans-Christoph Buch: Seemann in Berlin: Zum Tode von Johannes Schenk
Die Welt, 7.12.2006

Fred Viebahn: Johannes Schenk: Vignetten der Erinnerung an einen alten Freund
P.E.N. Zentrum, März 2007

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