Jorge Luis Borges: Mythische Gründung von Buenos Aires

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jorge Luis Borges: Mythische Gründung von Buenos Aires

Borges-Mythische Gründung von Buenos Aires

DER DRITTE MANN

Ich richte dieses Gedicht
(nehmen wir vorderhand mit diesem Wort vorlieb)
an den dritten Mann, der am Spätnachmittag an mir
aaaaavorbeiging,
nicht weniger geheimnisvoll als der des Aristoteles.
Am Samstag ging ich aus.
Die Nacht war voller Menschen;
darunter war sicherlich ein dritter Mann,
Wie auch ein vierter und ein erster.
Ich weiß nicht, ob wir einander anblickten;
er ging Richtung Paraguay-Straße, ich ging Richtung Cordoba-Straße.
Fast haben ihn diese Wörter gezeugt;
nie werde ich seinen Namen wissen.
Ich weiß, daß er einen bestimmten Duft bevorzugt.
Ich weiß, daß er langsam zum Mond aufgeblickt hat.
Es ist nicht unmöglich, daß er gestorben ist.
Er wird lesen, was ich jetzt schreibe, und wird nicht wissen,
daß ich von ihm sprechen.
Im geheimen Künftigen
können wir Nebenbuhler sein und einander achten
oder Freunde und einander mögen
Ich habe eine nicht wiedergutzumachende Handlung ausgeführt,
ich habe ein Bindeglied hergestellt.

 

 

 

Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort

Die Literatur ist unerschöpflich,
aus dem hinreichenden Grund, daß jedes
Buch unerschöpflich ist. Das Buch
ist keine geschlossene Einheit:
Es ist eine Beziehung, ein Zentrum
unzählbarer Beziehungen.
Jorge Luis Borges

Wissen Sie, alles, was man über mich
geschrieben hat, ist apokryph:
Jorge Luis Borges

Im Gehäuse seines unerschöpflichen Werkes ist der Dichter so alt wie die Welt; an Jahren ist Jorge Luis Borges so alt wie unser Jahrhundert. Eine Frage, die dem blinden Seher aus Argentinien in jedem Gespräch gestellt wird, ist die nach seiner Identität: Wer sind Sie? Borges verweigert sich keiner Frage, seine Antworten aber enthalten oft ein gut Teil Spott über den Frager; die Komödie des bürgerlichen Literaturbetriebs wird von Borges durchschaut und zugleich ausgenutzt. Rezensionen zu nichtexistierenden Büchern gehören ebenso zu seinem Werk wie das falsche Zitieren aus überlieferten Quellen. Die Fantasie des Autors ist dabei nur die erweiterte Seite einer empirischen Realität.
Im Sommer 1984 war Borges Gast literarischer Kolloquien auf Kreta und in Sevilla. Auch hier konnte die Frage nach Herkunft und Selbstverständnis nicht ausbleiben. Borges resümierte:

Ich bin ein Konglomerat. Europäer von der Bildung her, Südamerikaner von der Familie her, aber meine Mutter war Engländerin. Spanisch- und englischsprachig aufgewachsen, aber seit dem ersten Europa-Aufenthalt, 1914 in Genf, auch französisch sprechend, gelegentlich schreibend. Meine geistigen Wurzeln reichen bis zum Buddhismus, zugleich gibt es starke Einflüsse des Judaismus wie des katholischen Christentums. Dazu kommt ein ,Übergepäck‘ an Literatur – Stevensen und Novalis, Jefferson und Spengler, Shaw oder Victor Hugo, dessen Wort vom Alptraum als „schwarzes Pferd der Nacht“ mir unvergleichlich ist. Vielleicht bin ich ein mythengläubiger Rationalist? Ein von Schopenhauer genährter Skeptiker mit einer Privatmoral?

1981 schrieb die rechtsgerichtete argentinische Zeitschrift Cabildo, Borges sei eine Erfindung dreier Autoren, eine Ausgeburt von Leopoldo Marechal, Adolfo Bioy Casares, Manuel Mújica Laínez. Seine Erscheinung, sein Erdendasein werde von dem italienischen Schmierenschauspieler Aquiles Scatamacchia „verkörpert“ – eine Unterstellung, die Borges belustigt haben wird und die zugleich seinem Maskenbedürfnis entspricht, aber auch seiner Vorstellung, daß Literatur letzten Endes eine kollektive Angelegenheit sei. Im neunzehnten Jahrhundert hatte Arthur Rimbaud seine eigene Person mit dem bekannten Wort „Ich ist ein anderer“ aufgehoben. Borges führt diese Linie fort, wenn er von sich sagt:

Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.

Die Verdächtigung des argentinischen Revolverblattes war eine Erwiderung auf die Bemühungen Borges’, sich um den Verbleib jener vielen zu kümmern, die unter der Diktatur des Generals Videla in den siebziger Jahren in Argentinien verschwanden. „In meinem Land habe ich gegen den Terrorismus geschrieben…“, erklärte Borges einem der vielen Interviewer aus aller Welt. Seine politische Haltung bleibt dennoch suspekt. Die moralische Kraft lateinamerikanischer Literatur, jene Einheit von Autor und Werk, ist bei Borges vieldeutig, versteckt und diffizil. Der „andere“ Borges, der Ehrendoktor vieler Universitäten, der Preisträger, der weltbekannte Autor überraschte seine Leser, als er 1976 aus der Hand des derzeit schlimmsten Diktators auf dem lateinamerikanischen Kontinent im Nachbarland Chile den Ehrendoktor und den Orden Bernardo O’Higgins annahm. Der „Rektor“ der Universität von Santiago de Chile, ein General Toro, feierte Borges als einen Streiter gegen die Gewalt, gegen den schlechten Geschmack und den Egoismus in einer materialistischen Welt, und er lobte den Dichter als einen Kämpfer für die menschlichen Werte abendländischer Zivilisation. Borges bedankte sich mit einer Rede über den argentinischen Schriftsteller und die Tradition. Unsere Tradition, so erklärte er und meinte die lateinamerikanische Literatur im Ganzen, verdanke sich der abendländischen Erbschaft. Freilich verwendeten die Argentinier alle europäischen Themen ohne jede Ehrfurcht, was „glückliche Konsequenzen“ zeitigen könne. – Eine absurde Komödie jenseits der politischen Realität? Oder die List des Autors, eine Weltöffentlichkeit, die sich mit den Zuständen in Chile weitgehend abgefunden zu haben scheint, durch einen Skandal aufzurütteln? Borges als Hamlet in einem aktualisierten Drama seines verehrten Shakespeare? Oder doch nur der Kniefall des blinden Dichters vor der Macht der Schwerter und Symbole? Womöglich sind es Eskapaden dieser Art, mit denen sich der greise Borges von Jahr zu Jahr die Gunst der Nobelpreis-Richter verscherzt. Borges, das „geistesgeschichtliche Konglomerat“ ist dennoch kaum weniger ein Autor des lateinamerikanischen Kontinents wie Cortázar, Carpentier oder Vargas Llosa, Die jeweils extrem unterschiedliche Entwicklung der lateinamerikanischen Länder und der in ihnen aufgehobenen Kulturen führen bei den genannten Autoren zu verschiedenen Ausdrucksformen. Gemeinsam aber ist ihnen die Abwehrhaltung zum Über-Ich der europäischen Vergangenheit. Für Autoren der jüngeren Generation ist es leichter, sich von den politischen Fehlern des argentinischen Meisters zu distanzieren. Die Generation nach Borges, die die lateinamerikanische Literatur in der Welt vertritt, steht zu Borges in einem Schüler-Meister-Verhältnis. So schreibt Vargas Llosa über seine ersten literarischen Versuche:

Ich wollte meine Erzählung Der qualitative Sprung nennen, und mein Ziel war es, kalt, intellektuell, konzentriert und ironisch zu schreiben, gleich einer Erzählung von Borges, den ich in diesen Tagen gerade entdeckt hatte.

Die lateinamerikanische Revolution beginnt nicht erst mit den Proklamationen und Kriegen Bolívars, Sarmientos oder José Martís gegen die Spanier. Mit den ersten Niederlassungen des Kolumbus in der Neuen Welt wächst der Keim der Rebellion und zugleich die Utopie einer besseren, neuen Welt. Aus dieser Dialektik entstehen die Romane von Asturias oder Carpentier, die wiederum eine neue Tradition einleiten, wie Carlos Rincón untersucht hat, als er uns 1975 zum erstenmal in der DDR mit Erzählungen von Borges bekannt machte:

Die Geschichte Argentiniens, das Bild Lateinamerikas und das Schicksal des Lateinamerikaners kondensiert Borges in einem archetypischen Symbol: dem Duell. Das Messer ist das blinde Gesetz, das das Leben des Gaucho beherrschte… Die Art und Weise, wie Borges lateinamerikanische Grundsituationen, die bei ihm zu Grenzsituationen mit archetypischem oder modellhaftem und enthistorisierendem Charakter werden, einfängt, gibt uns einen Einblick in eine Welt der Gewalt, deren Protagonisten dazu verurteilt sind, zu töten oder getötet zu werden. Das ironische Spiel mit Denkmodellen und Vorstellungen aus der Geschichte von Philosophie, Religion oder Literatur zum anderen, die, auf ein Paradox gebracht, auf ihren Gehalt und ihre Gültigkeit nach allen Seiten hin überprüft und in ihren Variationsmöglichkeiten durchgespielt werden – Vorstellungen vom Unendlichen, der Ewigkeit, dem Schicksal, der Schrift, der Erinnerung, von Christus als Märtyrer und Erlöser –, vermittelt uns von ihnen ein neues Bewußtsein, neue Erkenntnisse, eine kritische Distanz.

Für Borges befindet sich die argentinische Kultur lange in einer künstlichen Situation; für Borges gleicht der Argentinier dem Juden oder Iren innerhalb einer fremden Umgebung. Will er nicht untergehen, muß er dominieren. Das Spekulative dieser Kultur ist weit entfernt von der Lebensweise der proletarischen Stadtbewohner, den ungezählten spanischen und italienischen Einwanderern. Zwischen 1860 und 1940 kommen dreieinhalb Millionen europäische Einwanderer nach Argentinien. Mit mehr als zwei Millionen Einwohnern wird die Hauptstadt Buenos Aires zu einem New York des Südens. Für Borges verliert sich die Gründung der Stadt durch spanische Glücksritter im Nebel der Mythologie: Buenos Aires ist eine Urstadt wie Babylon oder Ninive. Zugleich scheint die Metropolis auf dem Meer der sie umgebenden Pampa zu schweben, eine Fantasmagorie des Wahnsinns, an deren Rändern sich uferlose Weiden erstrecken. In dieser Wildnis hatten sich die von den spanischen Eroberern im Stich gelassenen Pferde und Rinder vermehrt. Sie wurden die Grundlage der argentinischen Wirtschaft. Bis heute ist der Gaucho, der Viehhirt, eine legendäre Erscheinung, oft ein Einzelgänger, welcher der Stadt den Rücken zukehrt und sich der komplizierten Romantik des scheinbar ungebundenen Lebens überläßt. Tatsächlich ist seine Arbeit die Grundlage jener Agrarhierarchie, welche bis in die Gegenwart die argentinische Wirtschaft dominiert. 1844 importierte der englische Grundbesitzer Richard B. Newton hundert Rollen Draht, um damit seine Besitzung Santa Maria in der Nähe von Buenos Aires einzuzäunen. Andere Großgrundbesitzer taten es ihm nach. Die unendliche Freiheit der Pampa fand in der Geometrie des wirtschaftlichen Denkens ein Ende. Der „Sündenfall“ des Kapitalismus, von dem Rousseau sprach, der mit der Einzäunung freien Landes beginnt, ereignete sich mit Verspätung auch in Argentinien. Die Einwanderer aus dem sizilianischen Palermo wie aus dem nordspanischen Vigo verdingten sich in den Schlachthäusern der Hauptstadt. Wurden sie arbeitslos, vergrößerten sie das pittoreske Heer der Messerstecher und compadritos, der Zuhälter jener Kaschemmen, wo die proletarisch-anarchistische Urform des Tango entstand.
1921 kehrt ein junger Mann aus gutem Haus nach langjährigem Aufenthalt in der Schweiz, in Frankreich und Spanien nach Buenos Aires zurück. Wenn man Borges später nach dem wichtigsten Ereignis in seinem Leben befragt, antwortet er:

Meine erste Rückkehr nach Argentinien.

Jenseits eines ironischen Spiels mit Denkmodellen und Vorstellungen aus der Geschichte bleibt die Verhaftung dem Labyrinth einer Stadt, die einen verschlingen, aber auch bis zur Totalität verschlungen werden kann. Zwei Zeilen aus einem der bekanntesten Gedichte von Borges lauten:

Die Straßen von Buenos Aires
sind längst mein Innerstes.

Der Wirtschaftskrise von 1930/33 folgt unter den argentinischen Intellektuellen eine Krise des Bewußtseins. Gab es denn eine argentinische Kultur und konnte die Odyssee der Pampa-Bewohner im Nationalpoem Martín Fierro von Jose Hernández dem argentinischen Selbstbewußtsein genügen? Oder war der Anarchismus der Großstadt, wie er von Roberto Arlt in den Farben Dostojewskis beschrieben wird, der Beginn einer Revolution?
Borges definiert das Argentinische im Zeichen des Anti-Spanischen:

Seit dem Jahre 1816, als wir unsere Unabhängigkeit von Spanien erklärten, hatten wir aufgehört, Spanier zu sein… Lateinamerikaner sahen mit französischen Augen die Spanier pittoresk, indem sie im Sinne von Garcia Lorcas Requisiten über sie dachten – Zigeuner, Stierkämpfer, maurische Architektur.

Borges, der nie aufgehört hat, die spanische klassische Literatur eines Cervantes oder Quevedo zu rühmen, erklärt 1984 in Sevilla:

Wissen Sie, die Großeltern meiner Großeltern kamen aus Sevilla. Ich bin hier um 1930 gewesen und bin heute wiedergekommen aus dem einfachen Grund, daß man immer wieder zu seiner Erde zurückkehrt.

Aber auch hier hat der Vierundachtzigjährige das Trauma seines Lebens nicht vergessen. Die ausgewanderten Großeltern seiner Großeltern waren:

Männer der Tat, und ich bin, kaum, ein Mann der Schrift. Doch wissen Sie, ein Mann der Schrift zu sein ist gar nicht so verächtlich, da diese Arbeit darin besteht, sich das Leben der Männer der Tat vorzustellen.

Damit ist eines der elementaren Themen dieses, aus den eignen Wurzeln sich nährenden Werkes gegeben. Im Gedicht „Die zyklische Nacht“ evoziert Borges die Familiengeschichte, die zugleich die Geschichte seiner Vaterstadt Buenos Aires ist:

Hier ist Buenos Aires. Die Zeit, die sonst den Menschen
Gold oder Liebe gibt – mir hinterläßt sie diese
erloschene Rose, diese Reihe eitler Straßen,
die alte Namen meines Blutes wiederholen:
Laprida, Cabrera, Soler, Suárez …

Ein Gedicht, das der Fußnoten bedarf: Oberst Isidor Cruz, Borges’ Urgroßvater, hafte in den argentinischen Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien gekämpft. Ein anderer Vorfahr, Francisco Narciso Laprida, unterschrieb als Präsident des Abgeordnetenhauses die argentinische Unabhängigkeitserklärung. Der Urgroßvater Suárez steht in der Aura, gegen den Diktator Rosas gekämpft zu haben. Für den jungen Dichter eine beinah bedrohliche, überwältigende Ahnengalerie.
Die aus England eingewanderte Großmutter Fanny Haslam durchbricht die Mythen der Vätergeschichte nur scheinbar. Ihre Erzählungen reichten weiter als bis zu den argentinischen Kriegen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Was sie dem Jungen zu berichten weiß, liegt zunächst eingefangen in einer fremden. Sprache. Doch schon der neunjährige Borges übersetzt Oscar Wilde ins Spanische. Bis in die späten Gedichte gebiert die englische Grammatik eine normannische, keltische, dänische und isländische Sagenwelt. Die nordischen Kenningar wie die Sagen der Edda sind Grenzbereiche dieser Welten. Aus der angelsächsischen Welt kommen die idealistischen Philosophen Hume und Spencer, aber auch skurrile Erzähler wie Chesterton. Die Erinnerung an die Großmutter Fanny Haslam romantisiert die Vorstellungskraft von einer Welt jenseits der heroischen Väter.
Die glänzenden Taten der Familiensaga können bereits vom Vater des Dichters, der auch Jorge Luis Borges hieß und Rechtsanwalt aus begüterter Familie war, nicht fortgesetzt werden, Dafür vermacht der Vater dem einzigen Sohn eine umfangreiche Bibliothek. Borges vergleicht sie später mit einem Garten, einem ersten Paradies seiner Kindheit. Die Bücher glichen Mauern, die ihn vor der Außenwelt abschirmten.

Jorge Luis Borges wird am 24. August 1899 geboren. Von seinem Vater erbt er die Leidenschaft für die Literatur, aber auch die Krankheit, die um 1955 von den Ärzten als unheilbar erklärt wird und zur Blindheit führt. Hat die Blindheit, durch die Borges nur Grade von Helligkeit wahrnehmen kann, seine Empfindungen verändert? Borges gab zwei Antworten auf diese Frage. Einmal verstreiche die Zeit „auf sehr leichte Art… Ich meine, die Zeit fließt abschüssig dahin.“ Zum andern, abhängig von fremden Augen, „versuche ich, bei allem, was mir vorgelesen wird, so zuzuhören, als hörte ich die Texte zum erstenmal“.
Der Vater hatte 1923 im spanischen Mallorca einen Roman veröffentlicht. Zahlreiche Essays hatte er vernichtet. Es gab ein geheimes Einverständnis zwischen Mutter und Sohn, die literarischen Arbeiten des Vaters fortzuführen. Die Mutter wird die wichtigste Gefährtin des Dichters. Sie begleitet ihn auf seinen Vortragsreisen, sie liest ihm vor und wird seine Sekretärin. 1967 heiratet Borges, aber die Ehe bleibt eine kurze Episode. Man hat seinem Werk den Vorwurf gemacht, kühl und spröde zu sein, aus Mangel an Erotik. Frauenporträts wird man mit wenigen Ausnahmen in diesem Werk vermissen. Sie erinnern entweder wie die Emma Zunz der gleichnamigen Erzählung an Szenarien zu Hitchcock-Filmen, oder sie haben die Schönheit gläserner Blumen wie in dem späten Gedicht „Ulrike“. Eine der großen Erzählungen aus dem Spätwerk. „Der Eindringling“, sieht die Frau als Beute, aber auch als Gefährdung einer Gaucho-Welt, in der Tradition des argentinischen Machismo.
Der junge Borges wächst mehrsprachig auf. Er spricht englisch, noch bevor er spanisch zu lesen versteht. Für die argentinische gute Gesellschaft ist Paris noch immer die Mitte der Welt. So unternimmt die Familie Borges 1914 eine Bildungsreise nach Europa. Frankreich und Norditalien werden touristisch besichtigt. Da beginnt der erste Weltkrieg, dessen Ende man aus einer sicheren Loge abwarten will, und so sucht man eine Wohnung in Genf. Der junge Borges, der am Genfer Lyzeum Französisch lernt, entdeckt die deutsche Philosophie. Mit Kant kommt er nicht weiter, Schopenhauer aber wird sein Hausphilosoph, und so lernt er Deutsch, um ihn im Original lesen zu können. Die Welt als Vorstellung ist dem angehenden Dichter näher als die Welt als Wille. Er liest Heines Buch der Lieder und vergießt heimliche Tränen. Noch heute kann er Heine auf Deutsch zitieren.

Jedenfalls las ich von nun an mein ganzes Leben deutsche Literatur…

Der Expressionismus formt den jungen Dichter. Noch im hohen Alter erinnert Borges sich an Becher, Klemm, Stramm, Kafka, Meyrink, Trakl, Heym – Autoren, die er für avantgardistische Zeitschriften in Argentinien übersetzt, Er hat seinen absoluten Gott gefunden, die Literatur:

Während vieler Jahre war ich des Glaubens, die nahezu unendliche Literatur sei in einem einzigen Menschen versammelt. Dieser Mensch war Carlyle, war Johannes Becher, war Whitman, war Rafael Cansinos Assens, war de Quincey.

Ein Gott in wechselnder Inkarnation, dessen vorübergehende Gestalt Borges im eigenen Spiegelbild entdecken würde.
Der spanische Dichter Cansinos Assens, der heute vergessen ist, war in den zwanziger Jahren eine Vaterfigur für die jungen Dichter des Ultraismo. Eine neue Sprache sollte mit der kläglichen Stimmung einer Fin-de-siècle-Poesie aufräumen. Anstelle des Pathos wie der abstrakten Schönheit sollten die Realien der Gegenwart die Dichter berauschen. Das Labyrinth der Stadtlandschaft wie zugleich die neue Technik einer motorgetriebenen Fortbewegung begeistern die Dichter durch ein einfaches, immer wieder neues Motiv: das der Überraschung. Bei der Beschäftigung mit Borges fand ich durch Zufall in Bibelzitat (aber gibt es Zufälle, während man sich über Monate mit Borges beschäftigt): „Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort“ (Paulus, I. Kor. 13, 12), ein poetisch-magischer Satz, der an die programmatischen Erklärungen des jungen Borges erinnert. Wir wissen nicht, ob Borges diese Stelle aus der Bibel kannte, aber er hatte in seinen frühen Arbeiten die Dichtung gedeutet als eine Kontrolle des eigenen Selbst und dessen Beschreibung im Rätsel der Metapher. Die Lyrik von Borges, ob man sie nun für große Dichtung hält oder nicht, ist wie ein Reservoir aller Themen des Dichters, in Abkürzungen vorgetragen, bis auf den Tag ein Notizbuch des Blinden, eine Gedächtnisstütze für die Essays und Erzählungen verwandten Inhalts. Dabei sind die Grenzen in diesem Werk fließend, die Erzählungen kommen nicht ohne essayistische Überlegungen aus, die Essays nehmen erzählerische Elemente auf, wenn es um das Bild eines Autors oder einer philologisch ungesicherten Sachlage geht. Die von Borges mehr als einmal zitierte „Respektlosigkeit des Argentiniers“, für den die Welt eine einzige Offenbarung des Zufalls ist, erleichtert dem Autor den poetischen Umgang mit der Welt und ihren Themen. Was beispielsweise in Frankreich in der Philosophie und Literatur als These und Anti-These erscheint, als kontrapunktisches Gespräch zwischen den Generationen, kann in Argentinien als Echo belauscht und mißverstanden werden. Aber Lüge und Irrtum sind die Geburtshelfer des Poetischen – und so findet sich auch noch im positivistischsten Essay des Autors ein poetisches Glanzlicht aus den Tagen seiner lyrischen Anfänge.
Der Nachhall literarischer Fehden in Paris oder Berlin traf den jungen Borges, als er 1921 nach Buenos Aires zurückkehrte. Die Stadtteile Florida und Boedo standen sich gegenüber. Der literarische Streit verbarg nicht die sozialen Gegensätze von arm und reich, wie sie die von Borges im Gedicht besungenen Friedhöfe der Stadt veranschaulichen. Borges schließt sich der Boedo-Gruppe an, der alten Nordseite der Stadt mit ihren Slums, ihrer Misere, ihren von Sonnenuntergängen verklärten Mauern, die auf Borges die Wirkung einer Epiphanie haben, also einer jähen Umsetzung von Gefühl in dichterischen Ausdruck. Borges schreibt, noch immer den eigenen dichterischen Versuchen mißtrauend, ein Buch über den vergessenen Volksdichter Evaristo Carriego, Im Stadtteil Palermo, an dessen Grenze sich die Familie Borges ansiedelte, war Carriego ein Nachbar gewesen. Es ist das Palermo der Aufschneider und Zuhälter aus dem Lumpenproletariat, denen die Lieder von Carlos Gardel bis auf den heutigen Tag eine goldene Aura unbesiegbarer Helden und Frauenverführer verleihen. Für Borges ist der Tango, den er in einem Abschnitt des Buches über Carriego untersucht, ein „Lamento des Gehörnten“. In den Texten von Tangos und Milongas aber dokumentiert sich eine eigene Sprache, ein Großstadtjargon aller Einwanderer, das berüchtigte lunfardo, die Sprache der argentinischen Identität. Noch in späteren Jahren wird Borges vom oft unerträglichen Kitsch des Tangos verfolgt. Doch genüge es, sich im kühlen Uppsala eine Platte aufzulegen, aus den Zeiten der „alten Garde“, um sogleich (wie eingestandenermaßen nur bei Heine) in Tränen auszubrechen.
Der Fünfundzwanzigjährige wird Mitarbeiter und Herausgeber verschiedener, meist kurzlebiger literarischer Zeitschriften wie Martín Fierro oder programmatischer: Sur, der Süden, womit der lateinamerikanische Kontinent gemeint war, aber auch der südliche Stadtteil mit seiner „Mythologie der Lehmhütten und der Messer“. 1925 veröffentlicht Borges den ersten Essayband mit dem unerbittlichen Titel Inquisiciones. 1932 folgt die Essaysammlung Discusión. In beiden Bänden werden, nach Borges’ Worten, „philosophische Themen in Form von literarischer Kritik“ behandelt. Erste Prosaarbeiten erscheinen, „in einer barocken Sprache, die wohl der Mentalität der Jugend, der Schüchternheit entsprach. Ein junger Mann hält das, was er zu sagen hat, für unwichtig, für banal. Er schmückt deshalb seine Worte aus, ja er verkleidet sie geradezu. Später, mit den Jahren, im Alter, gelangt man zu Einfachheit… zu der schwierigen Einfachheit.“ (1964)
Die schwierige Einfachheit kommt auch im hohen Alter bei Borges nicht ohne Kalkulation aus. Der Erbe von Theorien, wie sie E.A. Poe im neunzehnten Jahrhundert für das Schreiben von Kurzgeschichten aufstellte, abstrahiert das eigene Erleben, unterkühlt aber auch eine allzu schnelle Lesebegeisterung. Die Dialektik Autor – Leser beschäftigt ihn von Anfang an. In dem Maße, wie Borges Leser in aller Welt fand, wurde er von seinen Kollegen gnadenlos attackiert. Der im argentinischen Exil lebende Witold Gombrowicz, der sein Leben als Bankangestellter fristen mußte, nannte ihn „einen ornamentalen, literarisch fehlerlosen Meister… einen pathetischen Einsiedler-Blinden“, der seine Literatur für die Mitglieder der Nobelpreis-Jury geschrieben habe. Und Erneste Sábato, der große argentinische Schriftsteller, vermißte bei Borges „… jenes Verständnis, das Autoren wie Dickens oder Thomas Hardy, Gogol oder Tschechow, Shakespeare oder Balzac für die eigene und für die Seelen ihrer Mitmenschen hatten“. Ein absurdes Diktum, das die Autoren vermischt und vergißt, daß die Ästhetik eines Autors eine freiwillige oder unfreiwillige Antwort auf die Gegebenheiten seiner Zeit ist. Ausgerechnet Stanislaw Lem, einer der bedeutenden Macher von Literatur unserer Tage, rügt an Borges den „Mangel an freier und reicher Einbildungskraft“. Allein die Fauna der Fabelwesen, die Borges erfindet oder aus alten Quellen weiterfabuliert, lassen ein solches Urteil unsinnig erscheinen. Und: Schließen Fantasie und Konstruktion einander aus? Ist Borges ein – Handwerker der Literatur, ein Homo faber?
Ortega y Gasset hatte um 1925 in Spanien sein folgenschweres Wort von der Enthumanisierung der modernen Kunst gesprochen. Ein Autor solle darstellen und verfremden, nicht zu Tränen rühren. Das meinte keine parteilose Distanz, es richtete sich gegen die schnelle Konsumierbarkeit von Kunst, gegen eine Haltung, die Julio Cortázar in seinem Roman Rayuela als die eines „Leser-Weibchens“ karikiert. Borges hatte unabhängig von den Überlegungen Ortegas sich mit dem Verhältnis von Kunst und Konsument beschäftigt. Sein Aufsatz „Die Erzählkunst und die Magie“ ist die bleibende Aussage seiner Poetik. Ob nun die Literatur Wirklichkeit abbilde oder nicht, ist für Borges weniger interessant als die Frage, wie sie den Leser glauben macht, daß ihm etwas Wahres, ein realer Vorfall unter tatsächlichen Umständen mitgeteilt wird. Denn erst die Lektüre eines Textes erschafft die Welt, im Vertrauen auf die Kraft der Sprache, noch einmal. Die Welt, wie wir sie täglich erleben, ist für Borges eine Anhäufung von Zeichen, die ein Magier zu deuten hat. Eine unbekannte Schrift bedarf ebenso der Entzifferung wie die Streifen im Fell des Tigers. Der Traum, am Anfang aller Schöpfung, enthält ebenso viele unbekannte Zeichen wie der helle Tag. Der Magier, den Borges beschwört, ist der Zeichenleser. Das Amt des Dichters ist es, uns diese Zeichen vorzutragen, aber seine Vermittlung ist nur eine Lesart unter vielen. Wir, die Leser, sind aufgerufen, lesend seine Arbeit zu vollenden. Zu fragen bleibt, wie die Zeichen der Welt zu deuten sind.
In einer seiner bekanntesten Erzählungen, „Das Aleph“, führt Borges diese Gedanken weiter:

Nun komme ich zum unaussprechlichen Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Alle Sprache ist ein Alphabet von Zeichen, deren Anwendung eine den Gesprächspartnern gemeinsame Vergangenheit voraussetzt; wie soll ich anderen das unendliche Aleph mitteilen, das mein furchtsames Gedächtnis kaum erfaßt?

Das Aleph, jenes kabbalistische Zeichen, das mit seinem Geheimnis die Welt überzieht, für Borges trägt es jeder Leser in sich, und so läge die Lösung bei uns. Borges selber deutet sie an:

Jemand setzt sich zur Aufgabe, die Welt abzuzeichnen. Im Laufe der Jahre bevölkert er einen Raum mit Büchern von Provinzen, Königreichen, Gebirgen, Buchten, Schiffen, Inseln, Fischen, Behausungen, Werkzeugen, Gestirnen, Pferden und Personen. Kurz bevor er stirbt, entdeckt er, daß dieses geduldige Labyrinth aus Linien das Bild seines eigenen Gesichts wiedergibt.

Der Autor als Vorläufer des Lesers, das ist für Borges nur eine, wenn auch wichtige Korrespondenz in der Weltliteratur, „… es ist ein bedeutungsloser und zufälliger Umstand, daß du der Leser dieser Übungen bist und ich ihr Verfasser“, heißt es in der Vorrede zu seinem ersten Gedichtband. Daß Kafka der Autor des Schlosses ist und nicht Hawthorne, ist für Borges ein Zufall ohne Bedeutung. Unsere Kenntnis von Kafka aber hilft uns, einen Autor wie Hawthorne neu zu lesen und seine Entzifferung der Welt besser zu verstehen. So kann Borges die Figur des französischen Schriftstellers Pierre Menard erfinden, den er als Autor des Quijote vorstellt. Menard schreibt das berühmte Buch Zeile für Zeile neu, ohne dabei ein Wort zu verändern. Doch es entsteht ein Werk des zwanzigsten Jahrhunderts – die scheinbar absurde Logik meint wiederum den Leser, der sich ein Buch aus dem siebzehnten Jahrhundert in die heutige Sprach- und Denkvorstellung überträgt. Borges folgert, wüßten wir, wie die Leser des Jahres zweitausend einen heute geschriebenen Text lesen werden, besäßen wir ein Bild der Literatur jener nicht mehr fernen Zukunft.
Menard als Cervantes hat die Vorstellung von einer kreisförmig verlaufenden Zeit. Die Spanne zwischen Autor und Leser ist bei Borges nur scheinbar ein Fortschreiten. „Was ist Zeit?“ hatte der von Borges zitierte Kirchenvater Augustinus gefragt. Die Antwort erinnert an die Paradoxa altchinesischer Zen-Buddhisten:

Wenn man mich nicht fragt, weiß ich es. Wenn man mich fragt, weiß ich es nicht.

Für uns, den mit dem dialektischen Materialismus ausgerüsteten Nachfahren von Marx und Einstein, scheint diese Frage nicht relevant zu sein. Zeit als Existenzform der Materie folgt objektiven Gesetzen, die weder unserer subjektiven Stimmung noch unserer Willkür unterliegen. Doch an welchem Punkt trennen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Für Borges, diesen leidenschaftlichen Leser der unterschiedlichsten Autoren, fließt Zeit in eins und ließe sich unter dem Begriff Erlebniszeit subsumieren. In seinen Aufsätzen und Reden über die Zeit beruft sich Borges auch auf den französischen Philosophen Henri Bergson (1859–1941). Für Bergsen ist Zeit eine Abfolge des menschlichen Denkens; doch wo bleibt die wirklich gelebte, erlebbare Zeit? Die wirklich gelebte Zeit, wie sie nicht nur bei Proust Motivation eines gigantischen Romanwerks wird, hat für Borges eine subjektive Ausdehnung, sie, ist das Erlebnis von Dauer, oder anders gesagt: sie ist das Erlebnis von Intensität wie im Roman Ulysses von James Joyce, der auf beinahe tausend Seiten den Ablauf eines beliebigen Tages beschreibt. Platon, Zenon, Heraklit oder Berkeley in ihren Deutungen der Zeit aber hindern Borges nicht daran, zu begreifen, daß es einen historischen Prozeß gibt, in dem er selbst steht:

Die Zeit ist die Substanz, aus der ich gemacht bin, die Zeit ist ein Fluß, der mich davonreißt, aber ich bin der Fluß; sie ist ein Tiger, der mich zerfleischt, aber ich bin der Tiger; sie ist ein Feuer, das mich verzehrt, aber ich bin das Feuer. Die Weh ist – unseligerweise – wirklich; ich – unseligerweise bin Borges.

Im Meinungsstreit der Philosophen seit Zenon will Borges keine neue Seite schreiben. Das Zeitmaß der Sanduhr stellt dem Dichter eine praktische Aufgabe, nämlich die Koordination des Zeitgefühls zwischen seinen Figuren und dem Leser. In Borges’ Erzählung „Das geheime Wunder“ wird im März 1939 Jaromir Hladik, Autor unvollendeter Tragödien, von der Gestapo verhaftet und erschossen. In den Sekunden bis zur Hinrichtung erlebt Hladik nicht nur sein ganzes Leben noch einmal, er kann auch eines seiner Stücke zu Ende schreiben und diesem den gewünschten Schluß geben. In seiner Widerlegung der logischen Zeit macht Borges anschaulich, was Norbert Elias in seiner Untersuchung von „strukturbezogener“ und „erfahrungsbezogener“ Zeit verkündet:

Mit dem Eintritt vom Menschen gewinnt das Universum zu den vier Dimensionen von Raum und Zeit eine fünfte hinzu, die Dimension des Erlebens, der Erfahrung oder wie immer man es ausdrücken will. Alles, was in der Reichweite von Menschen geschieht, wird nun erlebbar und repräsentierbar durch menschengeschaffene Symbole.

Umgekehrt ließe sich folgern, die Symbole im Werk von Borges lassen sich durch eine kollektive menschliche Erfahrung aufschlüsseln. Borges dazu in einem Gespräch:

Ich nehme an, daß alles, was ich schreibe, biographisch ist, nur daß ich die Vorgänge nicht direkt erzähle. Ich ziehe es vor, mich in Symbolen auszudrücken.

In der Erzählung „Das geheime Wunder“ wird „ein deutsches Thema“ angeschlagen, das noch einmal in der Erzählung „Deutsches Requiem“ variiert wird, beide Male aus einer eindeutig antifaschistischen Haltung.

In Buenos Aires lebten auch Menschen, die Hitleranhänger waren. Natürlich gehörte ich niemals zu ihnen. Ich wünschte vielmehr den Untergang Hitlers, und als seine Macht zusammenbrach, war ich froh. Nichtsdestoweniger spürte ich das tragische Schicksal Deutschlands in diesem notwendigen Zusammenbruch, etwas, was die Anhänger Hitlers ja nicht spürten. So schrieb ich Deutsches Requiem, um in irgendeiner Form meinen Gefühlen für die Tragik des deutschen Schicksals Ausdruck zu geben, eine Tragik, die ja nicht zum erstenmal nach diesem zweiten Weltkrieg eintrat, sondern die bereits nach dem ersten da war, ja die zurückgeht bis zum Dreißigjährigen Krieg. (1964)

1938 stirbt Borges’ Vater. Ein Jahr zuvor hatte Jorge Luis Borges eine Anstellung als Bibliothekar angenommen. In den Weihnachtstagen des ersten Arbeitsjahres erleidet er einen Unfall, eine Kopfverletzung, die ihn für viele Monate ans Bett fesselt. Er fürchtet, seine geistigen Fähigkeiten eingebüßt zu haben, und beginnt, um sein Erinnerungsvermögen zu prüfen, eine Erzählung zu schreiben. Ein Nachbarsjunge aus den Tagen seiner Kindheit, Funes, fällt ihm ein, der an einer extremen Krankheit litt – er konnte nichts vergessen. Borges schreibt über „Das unerbittliche Gedächtnis“:

Später habe ich das Thema noch einmal aufgegriffen in der Erzählung „Der Zahir“. Darin geht es um ein Zwanzigcentavosstück, das die Eigenschaft besitzt, unvergeßlich zu sein, das heißt, ihr Eigentümer kann an nichts anderes mehr denken als an diese Münze. Der Erzähler dieser Geschichte verliert den Verstand und meint, hinter der Münze verberge sich Gott: Diese Wahnsinnserscheinung ist Ihm womöglich der Beginn einer mystischen Entdeckung. (1964)

Die Funessche Krankheit als das andere Extrem des Sich-nicht-erinnern-Könnens ist für viele Jahre das Stigma dieses Dichters. Borges, der Bibliothekar, der Gott des Labyrinths, fühlt sich als das Gedächtnis der Welt. Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer, hatte Goya unter eines seiner Bilder geschrieben: Borges’ babylonischer Traum von der Welt gebiert eine Assoziationskette absurder Rätsel. Aber das Fantastische des in der Bibliothek geträumten Traums wird von Borges so angelegt, daß der Leser einer Lösung des Rätsels nahekommt. Wie in den englisch tradierten und von Borges parodierten Kriminalgeschichten sind die Rätsel der Nacht auf den Gemeinplatz der alltäglichen Vernunft zu bringen. Chestertons Detektiv schließt mit seinem Schlüssel auch noch die Alpträume auf. Daß wir die Zeichen auf dem Rücken des Tigers nicht lesen können, ist eines der Geheimnisse, die uns Borges bewahrt, aber deren Enträtselung er uns im Ablauf der Zeit verspricht. Die paradoxen Gesetze in dieser Bibliothek von Babel brauchen, um erkannt zu werden, mehr als nur die Geduld des Schachspielers. Am Ende siegt die Schildkröte über den Olympiasieger Achilles.
Die Fantasien des Borgesschen Kosmos berühren kaum den uns bekannten fantastischen Kosmos der lateinamerikanischen Länder. Das Real-Wunderbare eines Carpentier, die afrokubanischen Fantasien eines Lezama Lima oder die Wunderwelt Macondos haben nichts mit den Konstruktionen des Fantastischen bei Borges zu tun. Es fehlt ihnen deren Naivität, die ja zugleich ein Erbteil aus der namenlosen Tiefe des Volkes ist.
Die unbarmherzige Berührung mit den Gegebenheiten des Lebens sprengt das babylonische Gehäuse der Borgesschen Bibliothek. 1946, in der bis 1955 anhaltenden Ära Peron, verliert Borges seinen Posten als Bibliothekar und wird – o Ironie der Diktatoren – zum Inspektor für Geflügel und Kaninchen auf den öffentlichen Märkten befördert. Homer als Schweinehüter? Argentinien ein auf dem Kopf stehendes griechisch-römisches Imperium? Als Borges den Grund für seine seltsame Beförderung erfahren will, klärt ihn ein Beamter auf:

Sie waren doch auf der Seite der Alliierten. Was erwarten Sie eigentlich?

Argentinien hatte bis zum 27. März 1945 seine Neutralität gewahrt. Die Beziehungen zu den „Alliierten“ aber waren von seiner Geschichte nicht wegzudenken, seit England es im neunzehnten Jahrhundert als eine billige Kolonie ausgebeutet hatte. Argentinien hatte während des zweiten Weltkrieges die Alliierten mit Fleisch und Weizen beliefert. Für viele europäische Emigranten war es ein letzter Zufluchtsort gewesen. Unter Peron kehrte es zur „alten Neutralität“ zurück.
Borges, 1955 zum Direktor der Nationalbibliothek ernannt, verzichtete 1973 auf jedes offizielle Amt und zog sich zurück in den sechsten Stock seiner Dreizimmerwohnung am Platz von San Martin, 1945 wurde ihm der Literaturpreis des argentinischen Schriftstellerverbandes verliehen. In seiner Dankesrede zieht der Fünfundvierzigjährige eine erste Bilanz seines Lebens:

Viele Jahre hindurch glaubte ich, daß ich in einem Vorort von Buenos Aires, in einem Vorort der abenteuerlichen Straßen und unsichtbaren Abenddämmerungen aufgewachsen bin. In Wahrheit aber bin ich in einem Garten aufgewachsen, der von einer hohen Mauer umgeben war, und in einer Bibliothek voll unendlich vieler englischer Bücher… Es sind mehr als dreißig Jahre vergangen; das Haus, in dem mir jene Literatur enthüllt wurde, ist abgerissen, ich bin durch die Straßen Europas gegangen, ich habe Tausende von Seiten vergessen, Tausende von unersetzlichen menschlichen Gesichtern, doch denke ich oft, daß ich im Grunde niemals jene Bibliothek und jenen Garten verließ. Habe ich denn später je anderes getan, als die Vorstellungen, die sich aus den früheren ableiten, zu verflechten und zu entflechten, und werde ich denn in Zukunft je etwas anderes tun?

Nach den Erzählungsbänden Der Garten der Pfade, die sich verzweigen (1941) und Fiktionen (1944) die den Ruhm des Dichters in alle Welt trugen, seine Kunst aber auch zu einem Endpunkt zu führen schienen, publiziert Borges 1969 elf neue Erzählungen unter dem Titel David Brodies Bericht. In seinem Vorwort unterstreicht Borges die „realistischen Züge“ dieser neuen Arbeiten. Fantastische Erzählungen könne heute jedermann schreiben, er aber denke nicht daran, sich selber zu plagiieren. Dabei ist Borges seinen alten Themen treu geblieben. In „Das Evangelium nach Markus“ wird einmal mehr die Macht des Erzählens demonstriert. Eine Macht, vernichtend wie der Sog des Malstroms. Denn die Zuhörer nehmen das aus der Bibel Vorgelesene wörtlich und schlagen den Erzähler ans Kreuz. Der Magier, der raunende Beschwörer des Imperfekts, geht unter mit der Deutung der Schrift, doch bleiben die Leser, um in seinem Sinne fortzufahren, sich selber in der Welt des Erzählten fortzubringen. Nach Erscheinen dieses Buches schrieb Borges:

Viele Jahre hindurch glaubte ich, mittels Variationen und Neuheiten könnte mir eine gute Seite gelingen; nun, nach Vollendung der Siebzig, glaube ich meine Stimme gefunden zu haben.

Der heute Fünfundachtzigjährige hat nicht aufgehört, an dieser letzten Seite der Vollendung zu schreiben. Neue Gedichte und Erzählungen entstanden, und die Pläne für ein Buch über das Leben Buddhas sind nicht aufgegeben. Der Borgessche Kosmos ist heute zu einem Spiegelkabinett geworden, darin der greise Autor sich selber in der bizarren Verfremdung des Erfolgsromans Der Name der Rose von Umberto Eco begegnen kann. Der italienische Sprachwissenschaftler Eco folgt in seinem Roman einem Gleichnis aus dem Gedicht „Der Bücherwächter“ von Borges:

Ich bin der, der die Bücher, verwahrt
Die vielleicht die letzten sind…

Eco entwirft ein Panorama aus der Zeit des italienischen Mittelalters. In einer Klosterbibliothek ereignen sich eine Reihe rätselhafter Verbrechen. Der geheimnisvolle Urheber dieser Morde ist der Bücherwächter, ein Greis, der unzweideutig Jorge von Burgos heißt. Dieser ist im Besitz des einzigen Exemplars der zweiten Ästhetik des Aristoteles, darin eine diesseitige, der Komödie zugewandte Anleitung zu finden wäre – wenn man das einzige Exemplar zu lesen bekäme. Die es an sich bringen, zahlen mit dem Tod. Der Bibliothekar selber geht mit dem Buch am Ende unter, als er die Bibliothek anzündet.
Der Borgessche Kosmos in seiner Faszination für den Leser gleicht auch einem Labyrinth, aus dem wir uns lesend zu befreien haben. George Steiner hat diesen Kosmos einmal so beschrieben:

Wie Lewis Carrol hat Borges aus seinen autistischen Träumen eine zurückhaltende, aber anspruchsvolle Aufforderung gemacht, auf die die Leser in aller Welt mit einem Gefühl des Wiedererkennens reagieren. Unsere Straßen und Gärten, das schnelle Huschen einer Eidechse durch das warme Licht, unsere Bibliotheken und Wendeltreppen sehen immer mehr wie von Borges geträumt aus, obwohl die Quellen seiner Sicht einmalig und unzugänglich sind, die Vision zuweilen im Aberwitz ihren Ursprung hat. Der Prozeß, durch den ein fantastisches privates Weltbild die Spiegelwand überspringt, hinter der es geschaffen wurde, und darangeht, die allgemeine Landschaft des Gewahrwerdens zu verändern, ist augenfällig; doch darüber zu sprechen ist äußerst schwierig.

Mit den Jahren hat Borges immer mehr versucht, sich hinter sein Werk zurückzuziehen und den Leser als Mit-Autor einzusetzen, wenn auch mit der spielerischen Geste der Imitation jener alten weisen Männer aus dem Morgenland, deren Spur sich verloren hat, deren Werke aber zum Besitz der Menschheit gehören: Dabei hat gerade in den letzten Jahren die Kritik an Borges unter den lateinamerikanischen Autoren zugenommen. Denn inwieweit deuten die Symbole und Metaphern in diesem Werk die revolutionäre Situation dieses Kontinents? Und ist nicht der große Erfolg des argentinischen Autors in Lateinamerika fast nur eine Mode, ein Reflex auf die Ehrungen, die ihm in Nordamerika, in Frankreich, in Spanien oder unter deutschen Lesern zuteil wurden? Die Dialektik Autor – Leser zielt bei Borges weiter als der aktuelle Anlaß in Nikaragua oder Chile. Borges meint eine befreite Zukunft, in der eine von ihren ökonomischen Zwängen, von der Ausbeutung einer Klassengesellschaft befreite Menschheit die Spiele des Denkens und der fantastischen Kombination ausüben kann. Als ein Vermächtnis auf diese Zukunft kann das vorliegende Werk von uns betrachtet und zu eigen gemacht werden.
In immer neuen Sätzen wird dieser Kosmos eingekreist werden, auch dann, wenn sein Autor kaum noch im Spiegelbild seines Werkes erkannt werden kann. Wer war Borges? Eine Frage, die für den blinden Seher das Glück der Anonymität suggeriert, ohne uns aus seinem Werk zu entlassen.
1984, nach dem Sturz der Militärdiktatur und der Wahl Alfonsíns zum neuen Staatspräsidenten wurde Borges wieder einmal gefragt, was er über sein Land denke, und er sagte:

Vor allem bin ich glücklich, daß es heute in Argentinien eine Hoffnung gibt, man lebt mit der Hoffnung.

Und auf die Frage, was der so weltweit bekannte Autor, Träger angesehener Literaturpreise, Ehrendoktor und Mitglied von Akademien, in einer solch schwierigen Zeit des Überganges für sein Land tun könne, sagte Borges:

Dichtung ist Harmonie, ist Suche, ist auch Freiheit. Das ist schon viel. Aber Sie wollen wissen, was ich tun kann, nicht wahr? Ich kann überall hingehen, wenn man mich ruft. Weil ich einen unverdienten Ruf genieße und man mich einen hervorragenden Dichter nennt, werde ich oft gerufen. Aus England, aus Kanada, aus Frankreich, aus Italien. Ich gehe, und weil ich Argentinier bin, denke ich, daß das meinem Land hilft.

Wenn hier zum Schluß an Laotse, einen bevorzugten Philosophen des späten Borges erinnert wird, und an zwei Zeilen aus dem 34. Spruch „Die Aufgabe der Vollendung“, so klingt ein Lebensziel an, das Jorge Luis Borges erreicht hat:

Das Werk wird vollbracht,
und er nennt es nicht seinen Besitz.

Fritz Rudolf Fries, Nachwort, März/April 1985

 

In seiner Jugendzeit waren Gedichte

ein Ausdruck der Suche nach den Möglichkeiten und der Erneuerung der spanischen Sprache, im hohen Alter wurden sie für Borges zur fast wichtigsten Form der Gedankennotierung. Ihre thematische Vielfalt scheint unbegrenzt: Buenos Aires mit seinen Straßen und Friedhöfen, seinen uralten Patios und vergitterten Gärten, die argentinische Geschichte und die Welt seiner Vorfahren in den Bürgerkriegen des neunzehnten Jahrhunderts, seine bevorzugten Autoren der Literaturgeschichte von Snorri Sturluson bis Edgar Allan Poe, die Zeit und die Ewigkeit, der Traum und der Träumer, der Spiegel und das Duell, das Altern und die Blindheit, das Labyrinth des Bücherwächters, die Schönheit des Tigers, der Schmerz des Vergessens und die Musikalität des Tangos. In der stets angestrebten Harmonie von Inhalt und Form wechselt der kunstvolle Gebrauch traditioneller Versmaße mit dem freien, rhythmischen Fluß der Sprache, verbindet sich gedankliche Schärfe mit der Klarheit des Ausdrucks; entsteht aus der einst revolutionierenden Verwendung neuer Metaphern ein ungewöhnlicher Reichtum an sinnlichen und abstrakten Bildern.

Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1987

 

Jorge Luis Borges 1899–1986

Ich war gerade in Spanien unterwegs und im Kastell von Verín angekommen, als Borges starb. Das war merkwürdig, denn man hatte die seltsame Vorstellung, daß er nie sterben könne oder daß er schon lange tot sei, auch das ist möglich. Seine eigenen Spekulationen über dieses Thema machten ihn in den letzten Jahren zu einem mythischen Schemen, der über die Welt geisterte, der erzählte, er wolle erlöst werden „von dem Ding, das Borges heißt“. Vielleicht war ihm das nun gelungen oder, wer weiß, hatte er nie existiert, oder hatte ihn jemand geträumt oder hatte ein ganz anderer uns alle geträumt und ihn dazu, er lebte nun einmal, wenn er lebte, in einer Welt gnostischer Optionen. Zeitungen waren vielleicht nicht das Medium, um darüber Gewißheit zu erlangen, denn auch wenn man ihn sein Leben lang in allen möglichen Zeitungen als Autor oder Interviewten finden konnte, so hatte ich auch einen Ausspruch von ihm gelesen, daß er während des Zweiten Weltkriegs erwogen habe, seine Gewohnheit, keine Zeitungen zu lesen (weil man besser die Klassiker lesen sollte), aufzugeben, aber dann doch beschlossen habe, jeden Tag ein paar Seiten Tacitus über einen anderen Krieg zu lesen, den punischen. Der liegt zwar lange zurück, zugegeben, aber in einer Welt wie der seinen, in der es zu einer endlosen Wiederholung von Ereignissen kommt oder kommen kann, keine unlogische Entscheidung, wozu noch der Vorteil des besseren Stils bei einem – seiner Ansicht nach – im Grunde gleichen Inhalt kommt. Wahr oder nicht wahr – er liebte Scherze, seine Verachtung entbehrte jedoch nie eines philosophischen Hintergrunds.
Wie dem auch sei, ich hatte keinen Plutarch oder Thukydides bei der Hand, der mir über das Sterben großer Männer berichten konnte, und so kaufte ich in den Tagen nach seinem Tod die Zeitungen, die ich fand, als bedürfe die Nachricht einer Bestätigung. Schließlich starb jemand, mit dem ich und der mit mir eine dreißig Jahre währende Beziehung gehabt hatte. Diese beiden Beziehungen konnten erst aufhören, wenn ich starb, auch das hatte ich von ihm gelernt. Dreißig Jahre war es her, seit ich, einem Instinkt, einer Intuition folgend, die ersten gelben Bändchen der Reihe La Croix du Sud gekauft hatte, mit denen Roger Caillois ihn in Europa eingeführt hatte.
Jetzt sitze ich hier in diesem spanischen Kastell mit all den Zeitungsausschnitten, und einer wie der andere sind sie nach diesen anderthalb Monaten toter als jede Zelle oder Seite des Schriftstellers. Es ist eine recht komische Sammlung, bestehend aus dem, was ich in den Kiosken fand, The Observer, Le Monde, Libération, La Repubblica, La Vanguardia, Frankfurter Allgemeine. Doch das sind Namen, und hatte ich nicht von ihm gelernt, ich müsse auf die Bedeutung dahinter horchen? Darin wird aus dieser Reihe eine ganz andere: Der Betrachter, Die Welt, Die Befreiung… die Namen werden allegorisch und die Reihe eine verborgene Biographie. Auf allen Seiten Fotos des blinden Teiresias mit seinem Stock und darum herum Fetzen des Netzes, das er zu Lebzeiten gesponnen hatte, jetzt übersetzt in die Slogans der Journaille, und auch diese Reihe liest sich wie ein seltsames, explodiertes Gedicht: Welch Licht im Labyrinth. Quella Luce nel Labirinto. Der melancholische Minotaurus. Il Minotauro malinconico. Aber vielleicht hat er nicht existiert. Ma forse non esisteva. Unzählbar waren die Formen und Male, die ich starb. Innombrables furent mes formes et mes morts. Ich war Homer; bald bin ich niemand, wie Odysseus; bald bin ich jedermann: dann bin ich tot. J’ai été Homère; bientôt, je serai Personne, comme Ulysse; bientôt, je serai tout le monde: je serai mort. Er hat sich unsichtbar gemacht. Se ha hecho invisible. Unermüdlicher Träumeweber. Tireless weaver of dreams. Der Bibliothekar von Babel. Le bibliothécaire de Babel. Die Tod, ich will nichts anderes als sie (ich lasse die weibliche Form stehen, CN), ich will sie ganz, abstrakt. Die beiden Daten auf dem Grabstein. La mort, je ne veux qu’elle et je la veux totale, abstraite. Les deux dates sur la dalle. Und, als hätte diese Zeitung sechzig Jahre lang einen Wettstreit mitverfolgt, auf der Titelseite der Libération: Jorge Luis Borges a trouvé la sortie: BORGES HAT DEN AUSGANG GEFUNDEN! Es sind immer die anderen, die die Geschichten beenden, aber nur, wenn die Geschichten es wert sind, beendet zu werden. Und dann ist man erst richtig tot: Jeder geht mit deinen Worten hausieren. Danach folgt das Fegefeuer der völligen Abwesenheit. Die Presse hat einen ausgequetscht. Für den Tod gibt es keine Steigerung, nur für den öffentlichen: Wenn die Nachricht ausgeschlachtet ist, ist der Tote plötzlich viel toter. Wer ihn bisher nicht las, liest ihn auch jetzt nicht, die anderen sitzen mit den Worten da, die keine Fortsetzung mehr finden werden. Darin tritt das Audensche Gesetz in Kraft: Die Leser sind der Schriftsteller geworden, der Schriftsteller wird seine Leser.
Mich verbindet mit ihm, was einen mit geliebten Toten verbindet. Man kann sich nicht vorstellen, daß sie wirklich tot sind. In den merkwürdigsten Augenblicken denkt man: Wie er sich wohl fühlt? Wie denkt er darüber? Gestern abend gab es im Fernsehen eine Sendung über die Ketzerbewegung des Priscillian im vierten Jahrhundert, eine Bewegung, die sich zum großen Teil in den Landschaften abspielte, in denen ich mich gerade aufhalte, im nordspanischen Galicien, das, wie Irland, ohnehin für alles prädestiniert ist, was mit Geheimnissen und Zauberei zu tun hat. Der Film war zum Teil in einer herrlichen, riesengroßen Bibliothek gedreht worden, sprach von zeitgenössischen lateinischen Kommentaren des Sulpicius Severus, von gnostischer Symbolik und Zahlenmystik, vom Tod, der für die Kelten nichts weiter als eine Reise war, und plötzlich kam mir der Gedanke, das alles sei Fiktion, eine von Borges’ eklektischen Phantasien, allesamt erfunden und erlogen, diesen lateinischen Kommentar von Severus habe es nie gegeben, kurz und gut, ich hatte Augenblicke von entzücktem Zweifel, weil alles genausogut nicht wahr hätte sein können, weil er Fiktion nun einmal wie Wirklichkeit behandelte, am liebsten mit möglichst vielen falschen Quellen und Autorennamen, so daß die Wirklichkeit in einigen seiner Kommentare in ein Gespinst von Erfindung oder zumindest von Zweifel eingehüllt war.
Zu meiner Zeit gab es an niederländischen Gymnasien keinen Philosophieunterricht, das einzige, was in meinem Fall dem in etwa nahekam, war in der katholischen Schule der Religionsunterricht mit solch merkwürdigen kasuistischen Exzessen wie: „Wenn jemand einen Autounfall hat, und er liegt an einer Straßenecke im Sterben, und ein exkommunizierter Priester kommt vorbei, und der Sterbende will beichten, ist diese Beichte dann trotzdem gültig (Antwort: ja)“ – aber solche scholastischen Haarspaltereien halfen mir ebensowenig wie die thomistischen Gottesbeweise, um Borges’ auf Berkeley und Hume basierenden Hirngespinsten über Sein und Nicht-Sein auch nur einigermaßen gewachsen zu sein. Später gewöhnt man sich daran (wiewohl nie ganz), aber ich erinnere mich noch gut an dieses schwindelerregende Angstgefühl bei der Vorstellung, die Wirklichkeit, die sichtbaren Dinge, bestünden einzig und allein dank unserer Wahrnehmung, jedenfalls als Borges in einem anderen Essay behauptete, das sei noch nicht alles, auch die Zeit existiere nicht. Das Argument, das er anführte, stammte von Sextus Empiricus, der in seinen Adversus Mathematicos, XI, 197, abstritt, es gebe eine Vergangenheit, weil sie bereits jetzt nicht mehr da sei, während es gleichzeitig auch keine Zukunft geben könne, weil die noch nicht gekommen sei. Außerdem behauptete er, die Gegenwart müsse teilbar oder unteilbar sein, um zu existieren. Aber sie sei nicht unteilbar, denn dann habe sie keinen Anfang, der mit der Vergangenheit, und auch kein Ende, das mit der Zukunft verbunden sei. Teilbar sei sie andererseits aber auch nicht, denn dann bestünde sie ja aus einem Teil, der bereits vorbei sei, und einem, der erst noch kommen müsse. FOLGLICH gebe es sie nicht, und weil es auch keine Vergangenheit und keine Zukunft gibt, gebe es keine Zeit.
Das jagte mir Angst ein. Er schrieb dann zwar, daß neben der unverkennbaren Verzweiflung ein geheimer Trost im Leugnen der Aufeinanderfolge stecke, die die Zeit ist, im Leugnen des Ichs und des astronomischen Universums, doch ich hatte Probleme damit, weil sich diese hochfliegenden Gedanken mit meinem Gefühl vermischten. Das nahm sogar physische Formen an: Ich glaubte, von der Welt herunterzufallen, etwas, das, wenn weder die Welt noch ich existierten, natürlich nur so schlimm wäre, wie ich es fand. Das Problem war, daß man sich bei Borges mit seinen ersonnenen Zitaten aus echten Enzyklopädien, seinen ersonnenen Autoren mit ihren folglich ebensowenig existierenden Büchern nie sicher sein konnte, ob es jemanden wie Sextus Empiricus wirklich gegeben hatte, und selbst wenn das der Fall war, ob dieser das Buch, aus dem der Meister zitierte, wirklich geschrieben hatte. Erst viel später begriff ich, daß dies alles Ernst war, allerdings Ernst einer ganz besonderen Art, Teil einer großen literarischen Verzauberung, daß er all diese Elemente und Betrachtungen, in denen er sich auch noch so gerne selbst widersprach, dazu benutzte, um seine Erzählungen und Gedichte zu schreiben. Das Nicht-Existieren, das immer wieder von neuem Existieren-Müssen, der Doppelgänger, der Spiegel mit dem anderen oder einem anderen Anderen oder gar keinem darin, das alles gehörte zu dem, was er perplejidad nannte, den andauernden Zustand der Perplexität, aus dem das Leben besteht. Borges’ Universum ist eines, von dem man, vorausgesetzt, man neigt von Natur aus dazu, sehr leicht eine Weile mitgesogen wird, und auch wenn es Zeiten im Leben gibt, in denen das Bedürfnis nach „Wirklichkeit“ größer ist als der ängstliche Genuß des Perplexen, so zieht es einen doch immer wieder zu diesem Œuvre zurück wie jemanden mit Höhenangst zum Abgrund. Um der Herausforderung des Schwindels willen, des Flirts mit dem Nicht-Sein, des allumfassenden Zweifels, der ein Stimulans ist, der Negation, in der man um so schärfer hervortritt.
Einmal habe ich ihn gesehen, vor langer Zeit, in den sechziger Jahren, in der Westminister Hall in London. Ich war eigens dafür nach London gereist. Er saß da, sehr souverän, ein Orakel, mit diesen seltsamen Kopfhaltungen des Blinden, der auf Geräusche reagiert. Später las ich bei Cabrera Infante, daß der unangreifbare Meister sich mit einem Riesencognac Mut angetrunken hatte. Wir durften Fragen stellen, schriftlich. Ich fragte, weil mich das damals sehr beschäftigte, was er von Gombrowicz halte, der ja bereits seit vielen Jahren als freiwilliger Exilant im selben Buenos Aires lebte. Darauf gab er keine Antwort. Gombrowicz’ Philosophie des Unfertigen, Unvollendeten, Unausgereiften als höchstem Zustand kann ihn auch nicht sehr angesprochen haben. Ich saß da als Leser, und Leser wollen immer, daß Schriftsteller, die sie bewundern, sich auch gegenseitig bewundern, daß Nabokov Dostojewski liebt und Krol Slauerhof. Aber so läuft es nicht.
Gut. Ende. Es ist dem Spinner so vieler Mythen gelungen, er, wie er wußte, hat uns eingesponnen, er ist selbst ein Mythos geworden. Leb wohl, alter Fächer. Das sagte Bashô auf seiner letzten Wanderung zu einem alten Dichter, den er, wie er wußte, nie mehr wiedersehen sollte. Wo ich jetzt bin, ist es Nacht, der galicische Himmel voller Sterne. Dort irgendwo muß er sein, denke ich, denn magisches Denken ist ganz primitiv. Den Nobelpreis hat er nie erhalten, und das ist schade für diesen Preis, doch er verdient etwas Besseres. Jemand muß einen Stern nach ihm benennen. Er ist der einzige Schriftsteller, zu dem das wirklich passen würde, und dann gibt es doch noch etwas, das Borges heißt.

*

ÜBER BORGES

A una moneda

Rio de la Plata, der Sturm schlägt
das Wasser. Du, der Du noch sehen kannst,
schreibst die verschwindende Stadt in den Namen
ihrer Buchstaben, die Mündung,
den Ozean. Winterreise des Dichters.

Doch was treibt dich?
Welche deiner vielen Seelen
nimmt die Münze aus deiner Tasche
und wirft sie vom höchsten Deck,
ein Lichtblitz
in das Schwarz der Wellen?

Oder warst Du es doch wieder nicht selbst,
sondern der andere, der auch Borges hieß,
der Spiegelgänger aus dem geträumten
Gedicht?

Zweimal, sagst du, hast du der Geschichte
des Planeten etwas hinzugefügt,
zwei unaufhörliche Reihen, parallel,
und wer weiß unendlich,
deine Existenz, und die deiner armseligen Münze,
die jetzt in tiefster Finsternis
die Zauberreihe beginnt
des Vergehens, und das nicht weiß.

Du aber doch, daher bist du neidisch
und glücklich. Deine geheime Lust war
Einsicht in was uns bedingt. Wiederkehr,
Unendlichkeit, Fantasien zum Spielen.

So warfst du dein Werk
in die Zeit,
Worte, einmal begonnen als Nichts,
als Gedanke, als Satz, als Gedicht,
Skriptur, verwandelt in Bücher
aus Marmor, und dann wandernd
und sinkend, von tausend ungeborenen Augen
berührt, wieder zurück zu Worten ohne Dichter,
und darüber hinaus,
Inschrift in Stein, allmählich unlesbar,
Gelispel von Fragmenten,
das Rätselecho
einer Vorzeit,

bis die eine, letzte
Erlösung,

Abwesenheit
geglückt.

Cees Nooteboom, in Cees Nooteboom: Gesammelte Werke Band 9, Suhrkamp Verlag, 2008

BLIND PEW

Weit vom Meer und von der Herrlichkeit des Krieges,
Liebe rühmt sich nie nicht ihrer eigenen Verluste,
Zog ein Pirat, auf beiden Augen blind, fern von der Küste
Schräg durch England auf dem Pfad jenseits des Sieges.

Scharfe Köter jagten ihn von allen Höfen
Unter Schimpf und Hohn der Kinderhorden,
Schlafen musste er an Strassenborden
Im schwarzen Staub von fremden Dörfern.

Dies im Wissen, dass an einem goldenen Gestade
Ein für ihn bestimmter Schatz noch warte,
Was sein widriges Geschick erträglich machte.

So wartet auch auf dich an einem goldenen Gestade
Solch ein Schatz als unveräusserliche Gnade:
Ja, es ist der Tod, der dir – wie allen – zugedachte.

Jorge Luis Borges
deutsch von Felix Philipp Ingold

 

 

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Zum 100. Geburtstag des Autors:

Christina Nord: Von Jorge Luis Borges’ Verschwinden
taz, 24.8.1999

Antje Schmelcher: „Das Ziel ist das Vergessen“
Die Welt, 21.8.1999

Hero Buss: Der konservative Anarchist
Die Welt, 20.8.1999

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Nachruf auf Jorge Luis Borges: Tumba

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 1/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 2/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 3/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 4/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 5/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 6/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 7/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 8/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 9/10.

 

Jorge Luis Borges – Interview im spanischen Fernsehen 10/10.

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