Luis Cernuda: Das Wirkliche und das Verlangen

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Luis Cernuda: Das Wirkliche und das Verlangen

Cernuda-Das Wirkliche und das Verlangen

GÓNGORA

Alt geworden der Andalusier, der allen Grund hat,
aaaaastolz zu sein,
Dichter, dessen hellsichtiges Wort wie Diamant,
Überdrüssig, seine Hoffnungen bei Hof zu
aaaaastrapazieren,
Überdrüssig seiner würdevollen Armut, die ihn
aaaaazwingt,
Das Haus bei Tag nicht zu verlassen, nur im
aaaaaAbenddämmer, wenn die Schatten,
Großmütiger als die Menschen,
Im üblichen fahlen Dunkel der Straßen
Den abgeschabten Flanell seiner Kutsche und seines Kleides fadenscheinigen Taft bereits verhehlen;
Überdrüssig, nach des Hochadels Gunstbezeigungen zu trachten,
Sein Stolz, gedemütigt vom beharrlichen Bitten,
Überdrüssig der so vielen auf der Jagd nach Reichtum
Vertanen Jahre fern von Córdoba, der flachen, und ihrer stolzen Mauer,
Kehrt er zurück zum heimatlichen Winkel, ruhig und schweigsam dort zu sterben.

Endlich schöpft die Seele in der Einsamkeit wieder Kraft, ohne etwas von irgendeinem zu erhoffen
Wenn nicht vom eigenen Gewissen, und nicht
Von jener winterlichen Sonne gar, der Macht,
Die nicht des Unglücklichen Kälte mildert,
Und er lernt, auf Nimmerwiedersehen gute Reise wünschen allen:
Prinzen, Vizekönigen, hochtrabenden Herzögen,
Pöbel, genauso dumm in seinem Glanz wie jener andere;
Schon schickt er sich drein, das Leben als unbeständgen Traum vorüberziehn zu sehn,
Den in Nichts zerfließen läßt die Frühe, den einsamen Winkel liebzuhaben,
Seine Armut dort geduldig zu ertragen,
Vergessend, daß so viele, weniger würdig da als er, dem gierigen Tiere gleich,
Bis zur Übersättigung den besseren Teil von allem sich erraffen,
Ihm die Bitternis belassend, des Parias Abfall.

Jedoch, in der Dichtung fand er von je nicht Schönheit nur, auch Zuversicht und Geist,
Die Lebenskraft, die freieste und höchste,
Dem Edelfalken gleich, der die harte Faust verläßt, zu suchen
Die golddurchglänzten Wolken dort am Himmel oben.
Nun, hinter seines Hauses letztem Schutzwall und seines Gartens, dennoch erreichen ihn
Die Steine der andern, traurige Spritzflecke
Billigsten Tresterweins, den Leuten teuer,
Die die große Gemeinde bilden und als Publikum Schiedsrichter des Ruhmes sind.
Nicht einmal dies verzieh ihm Gott in der Stunde seines Todes.
Am Ende wird verfügt, daß Góngora niemals Dichter gewesen,
Weil er das Dunkel liebte, und Eitelkeit allein ihm seine Verse diktiert.
Menández y Pelayo, der mit seinen Dogmen vollgestopfte Hinterwäldler,
Fand ihn nicht nach seinem Geschmack und verurteilte ihn mit unfehlbarem Richterspruch.

Allein, Góngora lebt, wenn auch die andern ihn
Voll Verachtung ignorieren, Geringschätzung,
Hinter der sein glühendes Wort aufscheint,
Verlorener Stern in der Tiefe der Nacht,
Schlafloses Erz im Eingeweid der Erde.
Von großem Vorteil ist, daß er bereits gestorben
Und als Toter drei Jahrhunderte vollendet hat, so daß selbst

Die Nachkommen derer, die ihn schimpflich einst behandelt.
Sich vor seinem Namen verneigen können, dem Gelehrten Preis verleihn,
Dem Abkömmling der Made, die an seinem Gedächtnis nagt.
Er aber suchte keinen Vergleich, im Leben nicht noch im Tode,
Und wohlbehalten hielt er seine unbeugsame Seele,
Ein unbändiger Dämon, der in aller Nächte schwärzesten noch lacht.

Gelobt sei Gott für den Frieden Góngoras, des besiegten;
Gelobt sei Gott für den Frieden Góngoras, des erhöhten;
Gelobt sei Gott, der es vermochte, ihn uns zurückzugeben (wie er es machen möge mit uns),
Nichtig am End, friedlich nun, in seinem Nichts.

 

 

 

Nachwort

Am Vorabend der Parlamentswahlen vom 15. Juni 1977, als die Meinungsforschungsinstitute ihre Berechnungen und Vermutungen anstellten, startete eine der großen Tageszeitungen von Barcelona eine Umfrage üben die spanischen Dichter unseres Jahrhunderts. An den Universitäten von Madrid und der Hauptstadt Kataloniens wurden Studenten aller Fachrichtungen, nicht etwa nur Literaturstudenten, befragt. Das Resultat, das man zwar irgendwie erhofft hatte, war dennoch ganz erstaunlich. Der größte lebende spanische Dichter? Ein in Cádiz geborener Poet, der im franquistischen Spanien als Kommunist und im Exil Lebender verboten war, der eines Tages im März 1939 Spanien mit dem Ziel Oran, Paris und schließlich Buenos Aires verlassen hatte, wo er zwischen 1940 und 1963 lebte, dann bis Mai 1977 in Rom. Ein Dichter mit Namen Rafael Alberti, der, als er nach achtunddreißig Jahren Abwesenheit heimkehrte, wie das Magazin Triunfo berichtet, von einem Journalisten mit den Worten empfangen wurde: „Du bist gekommen, du bist einfach da, weil du nie fortgegangen warst.“ Die größten spanischen Dichter unseres Jahrhunderts (immer noch dieser Umfrage nach)? Miguel Hernández, der Hirt und Soldat, der im Kerker starb; Federico García Lorca, der in Fuente Grande erschossen wurde; Luis Cernuda, der im mexikanischen Exil starb; Antonio Machado, der starb, als er völlig erschöpft auf dem Weg ins Exil in Frankreich ankam. Dann, nach den Namen dieser großen Verstorbenen, zwei lebende Dichter: der eine, Gefährte Lorcas und Albertis, Jorgé GuiIlén; der andere der Baske Gabriel Celaya.
Dem Problem der Autonomie der spanischen Regionen Rechnung tragend, bemerkten die Kommentatoren dieser Umfrage, daß Andalusien im 20. Jahrhundert die Wiege der spanischen Poesie war. Drei Andalusier – García Lorca, Alberti und Cernuda – stehen mit an der Spitze. Während aber die beiden ersten Andalusien leidenschaftlich als Mittelpunkt der Welt hinstellten, sei der Sevillaner Cernuda der „erste moderne spanische Dichter mit völlig europäischem lyrischem Bewußtsein“ gewesen. Das sei einer der Gründe, weshalb seit Mitte der sechziger Jahre, nach dem Bruch mit jener Dichtung, die in der Situation, in der Spanien war, nach einer direkten Einmischung in die Politik strebte, dieser einsame, asketische, immer romantische Dichter für die spanische Jugend zu einem Modell geworden ist. 1961 hatte er geschrieben: „Welches Land schätzt seine Dichter? Seine lebenden Dichter, meine ich, denn seine toten, das wissen wir, werden in jedem Land verehrt.“
Bei der späten Wiederentdeckung des großen Dichters, der Luis Cernuda gewesen ist, war in den erwähnten Jahren ein Charakteristikum seiner Lyrikerpersönlichkeit ausschlaggebend: die Identität eines Strebens nach ethischer Strenge mit einem ausgeprägten poetischen Bewußtsein.
Man konnte damals Leben und Werk dieses Dichters, der Jura studiert hatte, um niemals diesen Beruf auszuüben („Welt von Codices und Ratten“), der 1927 bis 1928 Spanischlektor in Toulouse war und seit 1939, Lektor und Dozent in Glasgow, London, den USA und Mexiko, als Verkörperung des Mythos vom „modernen Dichter“ betrachten. Man konnte ihn als Wiederentdecker der unterschwelligen Welt des Traums und der Inspiration feiern, der ohne Eden und Utopie war, von allen verstoßen, immer in derselben Behausung lebend, sich demoralisiert fühlend, aber mit der Gewißheit, daß sein Wort unentwegt die Normen der gesellschaftlichen Moral in Frage stellt, wie es in „Birds in the night“ geschieht:

Die französische Regierung, oder war es die englische?, brachte eine Erinnerungstafel
An jenem Haus in der Great College Street 8 an, in Camden Town, London,
Wo in einem Zimmer Rimbaud und Verlaine, dieses seltsame Paar,
Lebten, soffen, arbeiteten, hurten
Während ein paar kurzer stürmischer Wochen.
Dem Einweihungsakt wohnten höchstwahrscheinlich der Gesandte und der Bürgermeister bei,
Alle diejenigen, die zu Lebzeiten Verlaines und Rimbauds deren Feinde gewesen wären.

Der spanischen Dichterpléiade der zwanziger Jahre zugehörig, wuchs Luis Cernuda in Sevilla auf und studierte dort. Einer seiner damaligen Professoren, der Dichter Pedro Salinas, hinterließ dieses Porträt des Studenten:

Sensibel, zurückhaltend, sein Innenleben für sich behaltend und für die Bienen seiner Poesie, die kommen und gehen, um in jenes einzudringen – ohne andere Gärten zu wollen – und ihren Honig daraus zu machen. Sein Gehabe, sein elegantes Äußere, sein tadellos geschneiderter Anzug, sein pomadisiertes Haar, seine vollendeten Krawattenknoten sind nichts anderes als der Wunsch sich zu verbergen, eine Wand für den Schüchternen, eine Barriere, ein Schutz für den schlechten Stier vor der Aufmerksamkeit des Publikums.

Die erste Gedichtsammlung Perfil del aire (Profil der Luft) erschien 1927, dem Jahr der neuen Aneignung und Auferstehung der Dichtung Góngoras innerhalb der modernen spanischen Lyrik. Jedoch beginnt für Cernuda selber seine Dichtung erst wirklich mit den Bänden, die heute als seine aktuellsten betrachtet werden: Un río, un amor, (1929; Ein Fluß, eine Liebe) und Los placeres prohibidos (1931; Die verbotenen Lüste), nicht ihrer Vollkommenheit wegen, auch nicht, weil sie Meisterwerke eines jungen Dichters sind, sondern weil sie den Beginn eines radikalen Versuchs markieren, die Poesie im Leben anzusiedeln und sie zu einer Moral und einer Leidenschaft werden zu lassen, zum organisierenden Mittelpunkt der Existenz des Dichters. Deshalb ist der Durchgang Cernudas durch den Surrealismus anders als in García Lorcas Poeta en Nueva York (Dichter in New York), in Albertis Sobre los ángeles (Von den Engeln) oder in einigen Schöpfungen Pablo Nerudas aus dieser Zeit. Nicht die metrischen und melodischen Schemata, auch nicht die illuminierten Bilder werden von allen Fesseln befreit. Zugegeben: das Gedicht hat die Tendenz, sich in Übereinstimmung mit dem maßlosen Anspruch Lautréamonts und seiner Definition des surrealistischen Urbilds – schön wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch – in ein vieldeutiges Feld von offenen Möglichkeiten zu verwandeIn, in ein Feld, auf dem die verschiedenartigsten Wörter und Materialien aufeinanderprallen :

Schließen meine Augen sich, so nur um dich anzutreffen im Traum,
Jenseits des Verstandes,
Jenseits der unterjochten Welt,
In diesem verlorenen Land,
Das wir eines Tages verlassen, ohne es zu wissen.

Doch ist es nicht in erster Linie der Vers, der sich wandelt, noch die Auffassung von der Dichtung, noch die Sensibilität des Lyrikers, sondern es ist sein Bewußtsein, das schon für immer mit der „Musik des Schattens“ verbunden ist, der Romantik nahe, von García Lorca 1936 so charakterisiert:

mit seinen Traurigkeiten, mit seiner Traurigkeit eines tiefgründigen Sevillaners, einem sehr eleganten Schmerz, mit einem Degen aus Gold und einer Maske von Narziß, aber voller Angst, ohne Hoffnung, denn der Dichter glaubt an den vollkommenen Tod.

Der Durchgang Cernudas durch den Surrealismus prägte sein ganzes Werk. Nur so erklärt sich wieso das Buch, in dem er die ganze Dichtung, die er im Laufe der Jahre geschaffen hat, La realidad y el deseo (1936; 1946; 1958; Das Wirkliche und das Verlangen), auf seine Art eine dichterische Autobiographie ist und wieso trotz des Wechsels der ästhetischen Verfahren seine Sicht dennoch stets dieselbe bleibt, eine Sicht der Rebellion, die vom Surrealismus geprägt ist. Diese Sicht macht ihrerseits den Weg frei für das Verständnis einiger Veränderungen in seiner Ästhetik, die durch den Kontakt mit der poetischen Tradition bedingt waren, einer Tradition, die dazu beitrug, den Surrealismus wieder neu zu entdecken. In den dreißiger Jahren wurden Nerval, Jean Paul, Novalis, Blake und Hölderlin zu seinen Freunden und beeinflußten seine Entwicklung nachhaltig. Zu Beginn der vierziger Jahre versuchte Cernuda unter dem Einfluß der englischen Dichtung – Wordsworth, Yeats, Eliot – zum erstenmal, die literarische mit der gesprochenen Sprache zu verschmelzen, was in seinem späteren Werk zu erheblichen Schwierigkeiten führte. Später dann, als dieser Prosaismus bewußt und gewollt ist, war Cernuda – wie der Kubaner José Lezama Lima – einer der letzten Dichter spanischer Sprache, der versuchte, sich Goethes Ideal der PersönIichkeit und der Befreiung des Menschen künstlerisch anzueignen, ein Ideal; das im Einklang stand mit einem harmonisierenden Bild von der Weimarer Klassik. Das Wiederaufleben der Antike und nicht die Französische Revolution gibt im Verhältnis Cernudas zu Goethe die Richtung an auf der Suche nach einem „heroischen Pessimismus“, der imstande ist, sich die Sicht der Schönheit als die Fülle der Mittelmeerlandschaft zu eigen zu machen.
In einem Versuch einer Poetik mit dem Titel Historial de un libro (1959; Geschichte eines Buches) charakterisierte Cernuda das Band, das für ihn zwischen Leben und Literatur, zwischen gelebter und geschriebener Poesie besteht, wie folgt:

Ich wollte in der Poesie das „korrelative Äquivalent“ dessen finden, was ich fühlte, wenn im zum Beispiel ein schönes Wesen sah oder ein Jazzmotiv hörte. Beide Eindrücke, der bildhafte und der klangliche, drangen mit ihrer Intensität schmerzhaft in mich, und ich begann zu begreifen, daß eine Form, sie zu bewältigen, zu beherrschen, darin bestehen könnte, ihnen Ausdruck zu verleihen; unfähig jedoch, dies zu tun, verfolgte mich ihr Echo mit einer dramatischen Mahnung: die Zeit, die ich zu leben hatte, war mein, das einzige, was mir gehörte, und ich vermochte sie nicht zu genießen, ja nicht einmal jenes Drängen meines ganzen Wesens in der Poesie auszudrücken. Dem Leser, dem diese emotionale Wirkung unangemessen und in diesem Fall auch nichtssagend vorkommt, da es sich ja, zumindest in einem der geschilderten Fälle, um ein einfaches Jazzmotiv handelte, rufe ich jenen Satz von Rimbaud ins Gedächtnis, dessen Sinn man, glaube ich, mit dem vergleichen kann, was ich verspürte: „Eine Vaudevillemelodie erregt in mir Schauder.“

Unter diesen Umständen bilden sich die beiden Pole von Cernudas Dichtung, la realidad (das Wirkliche) und el deseo (das Verlangen), ganz unterschiedlich im Laufe seiner poetischen Biographie heraus, aus der die Kindheit verbannt ist. Während das erste, wie Vittorio Bodini bemerkt hat, „in seiner ganzen Skala von quälender Atonalität bis zu GleichgüItigkeit und Vergessen konstant bleibt“, verändert sich das zweite ungeheuer. Wenn jedoch seit Baudelaire in der Poesie französischer und spanischer Sprache das Schicksal des zweiten mit dem des Wortes Verlangen zusammenzufallen scheint, – Verlangen als Impuls, der in der Zeit Gestalt annimmt, der Zeit, die das Imaginäre real macht −, ist die Liebe, und zwar das allgemeine Gefühl, nicht das geliebte Objekt, der Punkt, an dem sich das Wirkliche und das Verlangen vereinigen. Gleichzeitig erprobt die poetische Imagination, „das Verlangen in Aktion“, verschiedene Formen, um in die reine Wirklichkeit der Zeit über das Gedicht einzudringen. Als ersten und traditionellsten Weg hat die Kritik die Übereinstimmung, die Verschmelzung mit dem Augenblick angeführt, das Paradox, „die Zeit stillstehen zu sehen, ohne daß sie aufhört weiterzugehen“. Genau das meinte Cernuda, wenn er von dem „zeitlosen Augenblick“ sprach, „der Erfüllung, die, so oft sie sich auch im Laufe des Lebens wiederholt, stets dieselbe bleibt; ihr am nächsten kommt jene Vereinigung zweier Körper im Augenblick der Ekstase“. Der andere Weg, romantisch bei Cernuda, ist die Kontemplation. Gärten und Weißdornbäume werden nicht wie in Lorcas „Somnambuler Romanze“ betrachtet, in der die Dinge die Zigeunerin ansehn, „welche sie nicht ansehn kann“. Bei Cernuda sind die Dinge geronnene Zeit, sie halten die Zeit für einen Augenblick an, dann fließt sie wieder weiter wie ein Fluß. Der dritte Weg, um die Zeit festzuhalten, den Augenblick zu fassen, ist die Meditation des Dichters über die Reife. Das eigene Werk und die menschlichen Werke werden einer Prüfung unterzogen. Ersteres geschieht in verschiedenen Spielereien mit dem Ich, in Dialogen mit mythischen Figuren, mit Figuren aus der Geschichte und der Dichtung. Hinzu kommt die Meditation über das Festhalten der Zeit und des immerwährenden menschlichen Treibens, das sich der Dauer im Werk – in der Malerei, in der Musik, bei Tizian, bei Mozart – entzieht. Und in demselben Augenblick, in dem er die Zeit festzuhalten glaubt, gelangt das Gedicht zu einer Dimension, die weder auf dem ersten Weg – der Übereinstimmung mit dem Augenblick – noch auf dem zweiten – der Kontemplation – zu erreichen ist: die Zeit, die Dimension der Geschichte. Auf diesem Weg sagt Cernudas Dichtung aus – entgegen der Ironie eines seiner eigenen Verse −, daß „die Freiheit, wenn sie von dieser Welt ist, auch im Bruch mit allem, mit einem hohen Preis bezahlt werden soll“.

Carlos Rincón, 1977, Nachwort
(Aus dem Spanischen von Helga Bergmann)

 

Luis Cernuda (1902–1963)

stammt aus einer Region, die als die Wiege der modernen spanischen Poesie gerühmt wird: Andalusien, die Heimat auch García Lorcas und Albertis. Gemeinsamkeiten im Werk dieser drei Dichter beruhen allerdings nicht nur auf dem Erlebnis derselben Landschaft, sondern vor allem auf den Erfahrungen ihrer Generation. Ihr persönliches Schicksal wird bestimmt vom Faschismus, ihr frühes Schaffen steht unter dem Eindruck des Surrealismus. Unter diesen Vorzeichen entsteht zunächst in Spanien, später im Exil in England, den USA und Mexiko Cernudas lyrisches Werk, das er selbst unter den Titel La realidad y el deseo gestellt hat, einen Titel, der die beiden Pole seiner Dichtung kennzeichnet: das Wirkliche und das Verlangen, Erlebte und das Ersehnte, das Reale und das Imaginäre, das Gelebte und das Gedachte; das Realistische und das Surrealistische; die Wirklichkeit des Einsamen und die unerfüllte Sehnsucht des Liebenden, die Wirklichkeit des Alternden und der Wunschtraum von der Jugend, die Wirklichkeit Spaniens und die Hoffnung auf die Zeit, die das Erstrebte zum Erlebten werden läßt.

Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1978

 

Luis Cernuda – Die Wirklichkeit und das Verlangen

Im Jahre 1961 widmete der Mercure de France Pierre Reverdy, der vor kurzem gestorben war, eine Sondernummer. Luis Cernuda steuerte ein paar Seiten bei, doch nicht so sehr das, was sie uns über Reverdy sagen, macht sie für uns wertvoll, sondern das, was sie indirekt über Cernuda selbst aussagen: seine Identifizierung poetischer Gewissenhaftigkeit mit ethischer Reinheit, seine Vorliebe für das wesentliche Wort, das er, nicht immer zu Recht, dem entgegensetzte, was er die Prunksucht der spanischen und französischen Tradition nannte. Doch ich erinnere an diesen Artikel nicht wegen der Affinität zwischen dem französischen und dem spanischen Dichter – obgleich der Einfluß des ersteren auf den letzteren einen Kommentar wert wäre –, sondern weil sich das, was Cernuda vor drei Jahren über das Schicksal der toten Dichter schrieb, heute liest, als wäre es über seinen eigenen Tod gedacht und geschrieben worden:

Welches Land nimmt seine Dichter gern auf sich? Ich meine die lebenden Dichter, denn was die toten betrifft, gibt es bekanntlich kein Land, das die seinen nicht verehrt.

Spanien ist da keine Ausnahme. Nichts natürlicher, als daß die literarischen Zeitschriften in Spanien Hommages auf den Dichter veröffentlichen:

Nun Cernuda tot ist, wollen wir ihn hochleben lassen!

nichts natürlicher auch, als daß Dichter und Kritiker, in schöner Eintracht, mit derselben grauen Schicht von Lobeshymnen das Werk eines Geistes überziehen, der mit bewundernswerter, unbeugsamer Hartnäckigkeit nie aufgehört hat, uns seine Abtrünnigkeit zu versichern. Nun der Dichter begraben ist, können wir ohne Gefahr über sein Werk sprechen und es das sagen lassen, was der Dichter unserer Meinung nach gesagt haben sollte: wo er Trennung schrieb, werden wir Vereinigung lesen; Gott, wo er Dämon sagte; Vaterland statt ungastliches Land; Seele statt Körper. Und wenn die „Interpretation“ unmöglich ist, werden wir die verbotenen Worte – Zorn, Lust, Ekel, Knabe, Alptraum, Einsamkeit… eben streichen. Ich will damit nicht sagen, daß alle seine Lobredner aus Schwarz Weiß machen wollen, noch daß sie das ganz wider besseres Wissen tun. Es handelt sich nicht um vorsätzliche Lüge, sondern um barmherzige Beschönigung. Vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, getrieben von dem aufrichtigen Wunsch, ihre Bewunderung für ein Werk zu rechtfertigen, das ihr Gewissen mißbilligt, machen sie aus einer besonderen und einzigen Wahrheit – die bisweilen unerträglich und abstoßend ist, wie alles, was wirklich faszinierend ist – eine allgemeine, harmlose Wahrheit, die für alle annehmbar ist. Ein großer Teil dessen, was in den letzten Monaten über Cernuda geschrieben wurde, könnte über jeden anderen Dichter geschrieben worden sein. Einer hat sogar behauptet, daß der Tod ihn seinem Vaterland zurückgegeben habe („ein toter Hund beißt nicht mehr“). Ein Kritiker, der behauptet, sein Werk gut zu kennen und es zu bewundern, wagt zu schreiben:

Dem Dichter gebrach es an etwas, das ich als tragisch empfinde: er war nicht fähig, eine andere Art von Liebe anzuerkennen als die romantische Liebe; offenbar blieben ihm die eheliche Liebe, die Elternliebe und die Kindesliebe verschlossen.

Ein anderer wünscht dem Dichter, er möge eine Welt gefunden haben, wo zwischen Wirklichkeit und Verlangen Harmonie besteht. Hat dieser Skribent sich gefragt, wie dieses Paradies aussehen mag und welches seine Engel und Götter sind?
Das Werk Cernudas ist eine Erforschung seiner selbst; eine stolze Bejahung, letztlich nicht ohne Bescheidenheit, seiner unabänderlichen Andersartigkeit. Er selbst sagte es:

Ich habe nur wie jeder Mensch versucht, meine Wahrheit zu finden, die meine, die sicher weder besser noch schlechter ist als die der anderen, sondern nur eine andere.

Sein Andenken zu ehren kann nicht darin bestehen, ihm Denkmäler zu setzen, die, wie alle Denkmäler, den Toten verbergen, sondern diese andere Wahrheit zu ergründen und sie der unseren entgegenzuhalten. Nur so kann seine Wahrheit, gerade weil sie eine andere und unversöhnliche ist, uns unserer eigenen Wahrheit näherbringen, die weder besser noch schlechter ist als die seine, sondern nur die unsrige ist. Das Werk Cernudas ist ein Weg zu uns selbst. Darin besteht sein moralischer Wert. Denn abgesehen davon, daß Cernuda ein großer Dichter ist – oder vielmehr, weil er es ist –, ist er einer der ganz wenigen Moralisten, die Spanien hervorgebracht hat, in dem Sinne, wie Nietzsche der große Moralist des modernen Europas ist und, wie er selbst sagte, „sein erster Psychologe“. Die Poesie Cernudas ist eine Kritik unserer Werte und Glaubensanschauungen; in ihr sind Zerstörung und Schöpfung untrennbar miteinander verbunden, denn das, was sie bejaht, impliziert die Auflösung dessen, was die Gesellschaft für richtig, heilig oder unveränderlich hält. Wie das Werk Pessoas, ist das seine subversiv, und seine geistige Fruchtbarkeit besteht eben darin, daß es die Systeme der allgemeinen Moral, sowohl diejenigen, die sich auf die Autorität der Tradition gründen, als auch diejenigen, die uns die Sozialreformer bieten, auf eine harte Probe stellt. Ich meine nicht, daß man mit ihm übereinstimmen muß, sondern daß wir, wenn wir seine Poesie wirklich lieben, hören müssen, was sie uns sagt. Sie fordert von uns keine barmherzige Versöhnung; sie erwartet von uns das Schwierigste: ihre Anerkennung.

I
Ich beabsichtige nicht, mich im folgenden mit Cernudas Werk in seiner Gesamtheit zu befassen. Ich schreibe, ohne seine bedeutendsten Bücher zur Hand zu haben, und außer dem, was mir nach jahrelangem Umgang mit seinen Schriften im Gedächtnis geblieben ist, besitze ich nur ein paar Gedichte in einer Anthologie, der dritten Auflage von Ocnos und Desolación de la Quimera (Trauer der Schimäre). Einmal habe ich geschrieben, daß sein Werk, im Gegensatz zu den verbalen Konstruktionen anderer Dichter, dem langsamen Wachsen eines Baums vergleichbar ist. Dieses Bild war nur zur Hälfte richtig: die Bäume wachsen spontan und naturgemäß, doch sie haben kein Bewußtsein. Ein Dichter ist der, der sich seines Schicksals bewußt ist, das heißt: der, der schreibt, weil ihm gar nichts anderes übrigbleibt – und der das weiß. Der, der Komplize seines Schicksals ist – und sein Richter. Bei Cernuda sind Spontaneität und Reflexion unlösbar miteinander verbunden, und jede Etappe seines Werks ist ein neuer Versuch des Ausdrucks und eine Meditation über das, was es ausdrückt. Er hört nicht auf, immer tiefer in sich selbst einzudringen, und er fragt sich unablässig, ob er auch wirklich Fortschritte macht. So kann man La realidad y el deseo (Die Wirklichkeit und das Verlangen) als eine geistige Biographie lesen, als eine Folge gelebter Augenblicke und als Reflexion über diese Lebenserfahrungen. Daher ihr moralischer Charakter.
Kann eine Biographie poetisch sein? Nur unter der Voraussetzung, daß die Anekdoten sich in Gedichte verwandeln, das heißt, nur wenn die Ereignisse und die Daten aufhören, geschichtlich zu sein, und beispielhaft werden. Doch beispielhaft nicht in der didaktischen Bedeutung des Wortes, sondern in der von „bemerkenswerte Tat“, wie wenn wir sagen: ein einzigartiges Beispiel. Oder auch: Mythos, ideale Handlung und wirkliche Fabel. Die Dichter bedienen sich der Legenden, um uns wirkliche Begebenheiten zu erzählen; und mit den wirklichen Begebenheiten schaffen sie Fabeln, Beispiele. Die Gefahren einer poetischen Biographie sind doppelte: das nicht verlangte Bekenntnis und der nicht erbetene Rat. Cernuda vermeidet diese Extreme nicht immer, und nicht selten läßt er sich zu Vertraulichkeiten hinreißen oder zu einer „Moral von der Geschichte“. Gleichviel: das Beste in seinem Werk lebt in diesem wirklichen und imaginären Raum des Mythos. Ein Raum, der so vieldeutig ist wie die Gestalt in ihm. Als wirkliche Fabel und ideale Geschichte ist La realidad y el deseo der Mythos vom modernen Dichter. Von einem Menschen, der sich vom poète maudit unterscheidet, mag er auch von ihm abstammen. Die Tore des Inferno haben sich geschlossen, und dem Dichter bleibt nicht einmal mehr die Zuflucht Aden oder Äthiopien; auf den fünf Kontinenten umherirrend, lebt er immer in demselben Zimmer, spricht mit denselben Leuten und sein Exil ist das aller. Das wußte Cernuda nicht – er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu vertieft in seine eigene Besonderheit –, doch sein Werk ist eins der beeindruckendsten Zeugnisse dieser wirklich einzigartigen Situation des modernen Menschen: wir sind zur Einsamkeit der Promiskuität verdammt, und unser Gefängnis ist so groß wie die Erde. Es gibt weder einen Ausgang noch einen Eingang. Wir wandern vom Gleichen zum Gleichen. Sevilla, Madrid, Toulouse, Glasgow, London, New York, México, San Francisco: war Cernuda wirklich in diesen Städten? Wo liegen diese Orte eigentlich?
In La realidad y el deseo kommen alle Lebensalter des Menschen vor. Alle, außer der Kindheit, die nur heraufbeschworen wird als eine versunkene Welt, deren Geheimnis man vergessen hat. (Welcher Dichter wird uns, nicht die Vision der Kindheit oder die Nostalgie nach ihr, sondern die Kindheit selbst schenken: wer wird den Mut und die Gabe haben, wie die Kinder zu sprechen?) Man könnte diesen Gedichtband in vier Teile teilen: das Knabenalter, die Lehrjahre, in denen er uns mit seiner vorzüglichen Meisterschaft in Erstaunen setzt; die Jugend, der große Augenblick, in dem er die Leidenschaft und sich selbst entdeckt, eine Periode, der wir seine schönsten Blasphemien und seine besten Liebesgedichte verdanken – Liebe zur Zeit; die Zeit der Reife, die als Kontemplation der irdischen Mächte beginnt und in einer Meditation über die menschlichen Werke endet; und schließlich, schon an der Grenze des Alters, der schärfere und nachdenklichere Blick, die sachlichere und bittere Stimme. Verschiedene Zeiten ein und desselben Wortes. In jeder Periode gibt es wunderbare Gedichte, doch ich will mich mit der Jugenddichtung befassen Un río un amor (Ein Strom, eine Liebe), Los placeres prohibidos (Die verbotenen Lüste), Donde habite el olvido (Wo das Vergessen wohnt), Invocaciones (Anrufungen), nicht weil in diesen Büchern der Dichter völlig Herr seiner selbst ist, sondern gerade weil er es noch nicht ist: es ist der Augenblick, da die Ahnung noch nicht zur Gewißheit geworden ist, noch die Gewißheit zur Formel. Seine ersten Gedichte scheinen mir eine Übung, deren Vollkommenheit Affektiertheit nicht ausschließt, eine gewisse Künstelei, von der er sich nie ganz befreit hat. Die Bücher aus seiner Reifezeit kommen einer gipsernen Klassik, das heißt, einem Klassizismus gefährlich nahe: da sind zu viele Götter und Gärten; da ist die Neigung, Eloquenz mit Diktion zu verwechseln, und es ist sonderbar, daß Cernuda, ständiger Kritiker dieses unseres Hangs zur „Getragenheit“, ihn nicht bei sich selbst bemerkt hat. Schließlich, in seinen letzten Gedichten, nehmen die Reflexion, die Explikation und auch die Schmähung zuviel Raum ein und verdrängen den Gesang; die Sprache hat nicht den Fluß der Rede, sondern die Trockenheit der Abhandlung. Und trotzdem gibt es in allen diesen Perioden Gedichte, die mich erleuchtet haben und von denen ich mich habe leiten lassen, Gedichte, zu denen ich immer wieder zurückkehre und die mir immer etwas Wesentliches enthüllen. Das Geheimnis dieser Faszination ist ein doppeltes. Wir haben es mit einem Menschen zu tun, der in jedem Wort, das er schreibt, sich ganz gibt, und dessen Stimme untrennbar ist von seinem Leben und seinem Tod; dabei erreicht uns dieses Wort nie unmittelbar: zwischen ihm und uns ist der Blick des Dichters, die Reflexion, die Distanz schafft und so die wahre Kommunikation ermöglicht. Das Bewußtsein gibt dem, was das Wort sagt, Tiefe, geistige Resonanz; das Denken entfaltet einen geistigen Raum, der dem Wort Bedeutsamkeit gibt. Das Bewußtsein gibt diesem so umfangreichen und mannigfaltigen Werk die Einheit. Als schicksalhafter Dichter ist er dazu verurteilt zu sprechen und zu bedenken, was er sagt. Deshalb sind seine besten Gedichte, wenigstens für mich, die jener Jahre, in denen spontane Diktion und Denken eins werden; oder die jener Augenblicke der Reife, in denen die Passion, der Zorn oder die Liebe ihm die alte Begeisterung zurückgeben, jetzt in einer härteren und klareren Sprache.
Als Biographie eines modernen Dichters Spaniens, ist La realidad y el deseo auch die Biographie eines europäischen poetischen Bewußtseins. Denn Cernuda ist in eben dem Sinn ein europäischer Dichter, in dem Lorca oder Machado, Neruda oder Borges keine Europäer sind. (Das Europäertum dieses letzteren ist sehr amerikanisch: es ist eine der Möglichkeiten, die wir Hispanoamerikaner haben, wir selbst zu sein, oder vielmehr, uns zu erfinden. Unser Europäertum bedeutet weder Entwurzelung noch Rückwendung zur Vergangenheit: es ist ein Versuch, angesichts eines Raumes ohne Zeit einen zeitlichen Raum zu schaffen und uns so zu verkörpern.) Natürlich sind die Spanier Europäer, doch der Geist Spaniens ist polemisch: er liegt mit sich im Streit, und jedes Mal, wenn er einen Teil seiner selbst angreift, greift er einen Teil Europas an. Vielleicht ist der einzige spanische Dichter, der sich ganz selbstverständlich als Europäer fühlt, Jorge Guillén; deshalb fühlt er sich, ebenso selbstverständlich, in Spanien völlig heimisch. Cernuda dagegen wollte mit aller Macht Europäer sein, so wie andere seiner Zeitgenossen unbedingt Andalusier, Madrider oder Katalanen sein wollten. Sein Europäertum ist polemisch und geprägt von Antispaniertum. Doch Widerwillen gegen das Heimatland haben nicht nur die Spanier; er ist in der modernen Poesie Europas und Amerikas häufig zu finden. (Ich denke an Pound und Michaux, an Joyce und Breton, an cummings… Die Liste wäre endlos.) So ist Cernuda antispanisch gesinnt aus zwei Gründen: wegen seines polemischen Spaniertums und wegen seiner Modernität. Einerseits gehört er dadurch zu den heterodoxen Spaniern; andererseits ist sein Werk eine allmähliche Zurückgewinnung des europäischen Erbes, eine Suche nach dieser Hauptströmung, von der Spanien sich seit langem entfernt hat. Es handelt sich nicht um Einflüsse – obgleich er, wie jeder Dichter, verschiedenen ausgesetzt war, fast ausnahmslos ihm förderlichen –, sondern um eine Erforschung seiner selbst, nicht seiner Psyche, sondern seiner Geschichte.
Cernuda entdeckt den modernen Geist durch den Surrealismus. Er selbst hat wiederholt von dem verführerischen Reiz gesprochen, den die Poesie von Reverdy, Lehrmeister der Surrealisten und auch sein eigener, auf ihn ausgeübt hat. Er bewunderte an Reverdy die „poetische Askese“ – vergleichbar, wie er sagt, der von Bracque –, die es ihm ermöglicht, ein Gedicht mit einem Minimum an Wortmaterial zu schaffen; doch noch mehr als die Sparsamkeit der Mittel bewundert er seine Verhaltenheit. Dieses Wort ist einer der Schlüssel zu Cernudas Stil. Selten haben ein so kühnes Denken und eine so starke Leidenschaft sich derart züchtiger Ausdrücke bedient. Reverdy war nicht der einzige Franzose, für den er Sympathie hegte. In einem Brief aus dem Jahre 1929, in Madrid geschrieben, bittet er einen Freund in Sevilla, ihm mehrere Bücher zurückzuschicken (Les pas perdus von André Breton, Le Libertinage und Le paysan de Paris von Louis Aragon) und fügt hinzu:

Azorín, Valle-Inclán, Baroja: was geht mich all diese stupide, unmenschliche, verkommene spanische Literatur an!

Die „Casticistas“ brauchen daran keinen Anstoß zu nehmen. In denselben Jahren fanden Breton und Aragon, daß die französische Literatur geradeso unmenschlich und stupide sei. Wir haben diese schöne Ungezwungenheit verloren; wie schwer ist es heute, unverschämt, in ungerechter Weise gerecht zu sein, wie man das 1920 sein konnte.
Was verdankt Cernuda den Surrealisten? Die Brücke zwischen der französischen Avantgarde und der Poesie unserer Sprache war bekanntlich Vicente Huidobro. Nach dem chilenischen Dichter vervielfachten sich die Kontakte, und Cernuda war weder der erste noch der einzige, der die Faszination des Surrealismus gespürt hat. Es wäre ein Leichtes, die Spuren aufzuzeigen, die manche Surrealisten in seiner Poesie und selbst in seiner Prosa hinterlassen haben: Paul Eluard, René Crevel und, obgleich es sich um einen Schriftsteller handelt, der sein Antipode ist, der brillante Louis Aragon (der Frühzeit). Doch im Unterschied zu Neruda, Lorca oder Villaurrutia war der Surrealismus für Cernuda mehr als nur eine Stillehre, mehr als eine Poetik oder eine Schule für Wortassoziationen und Wortbilder: er war ein Versuch, die Poesie im Leben zu verkörpern, eine Subversion, die sowohl die Sprache als auch die Institutionen betraf. Eine Moral und eine Leidenschaft. Cernuda war der erste, und fast der einzige, der die wahre Bedeutung des Surrealismus als einer Bewegung der Befreiung erfaßte und sich zu eigen machte – Befreiung nicht der Poesie, sondern des Bewußtseins: die letzte große geistige Erschütterung des Westens. Zur psychischen Erschütterung durch den Surrealismus kommt die Entdeckung von Andre Gide hinzu. Dank dem französischen Moralisten akzeptiert er sich selbst; fortan wird seine Homosexualität weder Krankheit noch Sünde sein, sondern frei auf sich genommenes und gelebtes Schicksal. Wenn Gide ihn mit sich selbst versöhnt, wird der Surrealismus ihm dazu dienen, seine psychische und vitale Rebellion in den Dienst einer umfassenderen und totaleren Subversion zu stellen. Die „verbotenen Lüste“ schlagen eine Brücke zwischen dieser Welt von „Gesetzen und Ratten“ und der untergründigen Welt des Traums und der Inspiration: sie sind das irdische Leben in all seiner stillen Pracht („Glieder aus Marmor“, „Blumen aus Eisen“, „irdische Planeten“) und sie sind auch das höchste geistige Leben („stolze Einsamkeiten“, „denkwürdige Freiheiten“). Die Frucht, die uns diese schwer zu erringenden Freiheiten bieten, ist die des Geheimnisses, „dessen Geschmack keinerlei Bitterkeit verdirbt“. Die Poesie wird aktiv; der Traum und das Wort stürzen die „anonymen Statuen“: in der großen „Stunde der Rache kann ihr Glanz eure Welt zerstören“. Später gab Cernuda die surrealistische Schreibweise und ihre Ticks auf, doch seine Grundanschauung blieb, obgleich seine Ästhetik eine andere war, die seiner Jugendjahre.
Der Surrealismus ist eine Tradition. Mit dem kritischen Instinkt, der die großen Dichter auszeichnet, verfolgte Cernuda die Strömung zurück: Mallarmé. Baudelaire, Nerval. Obgleich er diesen drei Dichtern stets treu war, blieb er bei ihnen nicht stehen. Er ging bis zur Quelle, dem Ursprung der modernen westlichen Poesie: der deutschen Romantik. Eines der Themen Cernudas ist der Dichter gegenüber der feindlichen oder indifferenten Welt der Menschen. Er wird bereits in seinen ersten Gedichten angeschnitten und entfaltet sich von Invocaciones an mit immer düsterer Intensität. Hölderlin und seine Gestalten sind ihm Vorbild; schon bald verwandeln sich diese Bilder in ein anderes, das ebenso bezaubernd ist wie furchtbar: in das des Dämons. Kein christlicher Teufel, abstoßend oder schreckenerregend, sondern ein Heide, fast ein Knabe. Er ist sein Doppelgänger. Dieser wird stets gegenwärtig bleiben in seinem Werk, obgleich er sich mit den Jahren verändert und sein Wort immer bitterer und hoffnungsloser wird. In dem Bild des Doppelgängers, einem nie greifbaren Ab-bild, sucht Cernuda sich selbst, aber er sucht auch die Welt: er will sich vergewissern, daß er existiert und daß die anderen existieren. Die anderen: eine Menschenrasse, die sich von den Menschen unterscheidet.
Neben dem Teufel, die Gesellschaft der toten Dichter. Die Lektüre Hölderlins, Jean Pauls und Novalis’, die Blakes und Coleridges bedeutet mehr als nur eine Entdeckung: ein Wiedererkennen. Cernuda kehrt zu den Seinen zurück. Diese großen Namen sind für ihn lebendige Personen, unsichtbare, aber verläßliche Fürsprecher. Er spricht mit ihnen, als spräche er mit sich selbst. Sie sind seine wahre Familie und seine heimlichen Götter. Sein Werk ist in Gedanken an sie geschrieben. Sie sind mehr als nur ein Modell, ein Vorbild oder eine Quelle der Inspiration: sie sind ein Blick, der über ihn urteilt. Er muß sich ihrer würdig erweisen. Und er kann dies nur, indem er seine Wahrheit bejaht, indem er er selbst ist. Erneut taucht das Thema Moral auf. Doch nicht Gide mit seiner psychologischen Moral, sondern Goethe ist es, der ihn in dieser neuen Etappe leitet. Er sucht keine Rechtfertigung, sondern ein Gleichgewicht; das, was der junge Nietzsche „Genesung“ nannte, das vergessene Geheimnis des griechischen Heidentums: den heroischen Pessimismus, Schöpfer der Tragödie und der Komödie. Oft sprach er von Griechenland, von seinen Dichtern und Philosophen, von seinen Mythen und vor allem von seiner Idee des Schönen: etwas, das weder physisch noch körperlich ist, das vielleicht nur ein Gleichklang ist, ein Maß. In Ocnos, wo er von der „schönen Erkenntnis“ spricht – weil er die Schönheit erkennt oder weil alles Erkennen Schönheit ist? – sagt er, daß Schönheit Maß ist. Und so, auf einem Weg, der von der surrealistischen Rebellion zur deutschen und englischen Romantik führt und von dort zu den großen Mythen des Abendlandes, erlangt Cernuda sein doppeltes Erbe als Dichter und als Spanier wieder: die europäische Tradition, das Wissen und die Würze des mediterranen Mittags. Was als polemische Leidenschaft und Maßlosigkeit begonnen hatte, endete mit der Anerkennung des Maßes. Eines Maßes, freilich, in das andere Dinge, die auch abendländisch sind, nicht passen. Unter ihnen zwei der größten: das Christentum und die Frau. Das „Anderssein“ in seinen totalsten Manifestationen: die andere Welt und die andere Hälfte dieser Welt. Jedoch macht Cernuda aus der Not eine Tugend und schafft eine Welt, in der zwei wesentliche Elemente, eins des Christentums und eins der Frau, nicht fehlen: die Introspektion und das Mysterium der Liebe.
Ich habe noch nicht von einem anderen Einfluß gesprochen, der sich sowohl in seiner Poesie als auch in seiner Kritik ausprägte, insbesondere seit Las nubes (Die Wolken) (1940): von der modernen Poesie englischer Sprache. In seiner Jugend liebte er Keats und später fühlte er sich von Blake angezogen, doch diese beiden Namen, zumal der letztere, gehören zu dem, was man seine dämonische oder subversive Seite nennen könnte: sie schürten seine moralische Aufsässigkeit. Sein Interesse für Wordsworth, Browning, Yeats und Eliot ist von anderer Art: bei ihnen sucht er weniger eine Metaphysik als ein ästhetisches Bewußtsein. Das Geheimnis des literarischen Schaffens und das Thema der letzten Bedeutung der Poesie – ihr Verhältnis zur Wahrheit, zur Geschichte und zur Gesellschaft – haben ihn immer beschäftigt. In den Reflexionen der englischen Dichter fand er, auf andere oder der seinen ähnliche Art formuliert, Antworten auf diese Fragen. Ein Beweis für dieses Interesse ist das Buch, das er dem dichterischen Denken der englischen Lyriker widmete. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich meine, daß von den lebenden Schriftstellern T.S. Eliot derjenige war, der einen tieferen Einfluß auf den Cernuda der Reifezeit ausübte. Ich wiederhole: einen ästhetischen Einfluß, keinen moralischen oder metaphysischen: die Lektüre Eliots hatte nicht die befreiende Wirkung, die seine Entdeckung Gides hatte. Der englische Dichter läßt ihn die poetische Tradition mit neuen Augen sehen, und viele von Cernudas Studien über spanische Dichter sind mit der Genauigkeit und der Objektivität, aber auch den gelegentlichen Kaprizen geschrieben, die den Zauber, aber auch die Gefahr des kritischen Stils Eliots ausmachen. Doch das Vorbild dieses Dichters ist nicht nur in seinen kritischen Meinungen zu erkennen, sondern auch in seinem dichterischen Schaffen. Seine Begegnung mit Eliot fällt zusammen mit einem Wandel in seiner Ästhetik; nachdem er den Surrealismus durchgemacht hat, ist es ihm nicht darum zu tun, neue Formen zu suchen, sondern sich auszudrücken. Nicht eine Norm, sondern ein Maß, etwas, das ihm weder die modernen Franzosen noch die deutschen Romantiker geben konnten. Eliot hatte ein ähnliches Bedürfnis gespürt, und nach The waste land gießt er seine Poesie in immer traditionellere Formen. Ich wüßte nicht zu sagen, ob dieses regressive Verhalten bei Cernuda und bei Eliot ihrer Poesie zustatten kam oder ihr abträglich war; einerseits machte es sie ärmer, da Überraschung und Erfindung, diese Flügel des Gedichts, aus ihrem Werk der Reife zum Teil verschwinden; andererseits wären sie ohne diesen Wandel womöglich verstummt oder sie hätten sich in einer fruchtlosen Suche erschöpft, wie das selbst großen schöpferischen Menschen wie Pound und cummings widerfährt. Und bekanntlich gibt es nichts Eintönigeres als den professionellen Innovator. Kurz, die Poesie und die Kritik Eliots dienten ihm dazu, den Romantiker, der er immer war, zu zügeln.
Seit er zu schreiben begann, spürte Cernuda eine Vorliebe für das lange Gedicht. Für den modernen Geschmack ist Poesie vor allem verbale Verdichtung, weshalb das lange Gedicht sich einer fast unüberwindlichen Schwierigkeit gegenübersieht: Ausdehnung und Verdichtung, Entwicklung und Intensität, Einheit und Vielfalt zu verbinden, ohne aus dem Werk eine Sammlung von Bruchstücken zu machen und auch ohne zu dem plumpen Mittel der Erweiterung zu greifen. Un coup de dés, höchste verbale Verdichtung in etwas mehr als zweihundert Zeilen, von denen einige aus einem einzigen Wort bestehen, ist ein Beispiel, für mich das größte, für das, was ich meine. Nicht beim kurzen, sondern beim langen Gedicht muß man von der Schere Gebrauch machen; der Dichter muß ohne Skrupel von seiner Gabe des Weglassens Gebrauch machen, wenn er etwas schreiben will, das nicht weitschweifig, in sich zersplittert oder diffus ist. Die Verhaltenheit, die Kunst, das Verschwiegene zu sagen, ist das Geheimnis des kurzen Gedichts; im langen Gedicht wirken solche Aussparungen nicht suggestiv, sie sprechen nicht, sondern sie sind gleichsam die Zäsuren des musikalischen Raums. Mehr als eine Schrift, sind sie eine Architektur. Schon Mallarmé hatte Un coup de dés mit einer Partitur verglichen, und Eliot hat eine seiner großen Dichtungen Four Quartets genannt. Cernuda hielt dieses Gedicht für das beste, das Eliot geschrieben hatte, und wiederholt sprachen wir über die Gründe dieser Bevorzugung, denn ich neigte mehr zu The waste land – das übrigens auch als eine musikalische Konstruktion betrachtet werden muß.
Obgleich unser Dichter die Kunst des langen Gedichts nicht bei Eliot gelernt hat – er hatte schon früher lange Gedichte geschrieben und einige von ihnen zählen zum Vollkommensten, was er gemacht hat –, klärten die Ideen des englischen Schriftstellers die seinen und änderten zum Teil seine Auffassungen. Doch die Ideen sind eine Sache, eine andere Sache ist das Temperament. Man würde in seinem Werk umsonst nach den Prinzipien der Harmonie, des Kontrapunkts oder der Polyphonie suchen, von denen Eliot und Saint-John Perse sich leiten ließen; und nichts ist dem „Simultaneismus“ Pounds oder Apollinaires ferner als die lineare, der Vokalmusik ähnliche Entwicklung des Gedichts von Cernuda. Die Melodie ist lyrisch, und Cernuda ist lediglich, und das genügt, ein lyrischer Dichter. So war die Form, die seiner Natur am besten entsprach, der Monolog. Er schrieb immer Monologe, und man könnte sogar sagen, daß sein Werk ein langer Monolog ist. Die englische Poesie lehrte ihn zu sehen, wie der Sologesang zu sich selbst kommen, sich verdoppeln und sich befragen kann: sie lehrte ihn, daß der Monolog immer ein Dialog ist. In einer seiner Studien erwähnte er das Beispiel Robert Brownings; ich würde Pound, der sich des Monologs von Browning als erster bediente, hinzurechnen. (Man vergleiche zum Beispiel den Gebrauch der Frage in Near Perigord und in den langen Gedichten des späten Cernuda.) Und in diesem Zusammenhang sollte ich etwas über ein Thema sagen, das ihn stark beschäftigte und über das er Seiten schrieb, die von tiefer Einsicht zeugen: die Beziehungen zwischen der gesprochenen Sprache und dem Gedicht.
Cernuda weist darauf hin, daß der erste, der das Recht des Dichters proklamierte, „the language really used by man“ zu gebrauchen, Wordsworth war. Obgleich es nicht ganz stimmt, daß dieser Vorläufer der Urheber des sogenannten „Prosaismus“ der zeitgenössischen Poesie war, tut man gut daran, zwischen dieser Idee von Wordsworth und der Herders, der in der Poesie die „Stimme des Volkes“ sah, zu unterscheiden. Die Volkssprache, falls es sie wirklich gibt und sie keine Erfindung der deutschen Romantik ist, ist ein Erbe der Feudalzeit. Der Kult, der mit ihr getrieben wird, ist Nostalgie. Jiménez und Antonio Machado verwechselten die „Volkssprache“ immer mit der gesprochenen Sprache, und deshalb setzten sie diese mit dem traditionellen Gesang gleich. Jiménez meinte, die „Volkskunst“ sei nur die traditionelle Nachahmung der Kunst der Aristokratie; Machado glaubte, daß die wahre Aristokratie im Volke zu finden sei und daß die Folklore die am meisten verfeinerte Kunst wäre. So verschieden uns diese Gesichtspunkte erscheinen: beide verraten eine nostalgische Sicht der Vergangenheit. Die Sprache unserer Zeit ist eine andere: sie ist das in der Großstadt gesprochene Idiom, und die ganze moderne Poesie seit Baudelaire hat diese Sprache zum Ausgangspunkt einer neuen Lyrik gemacht. Wiewohl Reaktion auf die Ästhetik des Exquisiten und des Seltenen, welche die hispanischen Dichter in Mode gebracht hatten, ist die Schlichtheit der sogenannten spanischen Volksdichtungen nicht weniger artifiziell als die Kompliziertheit der Modernisten. Von Jiménez beeinflußt, bevorzugten die Dichter der Generation Cernudas die Romanze und das Lied. Cernuda verfiel nie der Unnatur des nachgeahmten Volkstümlichen (einer Unnatur, der wir allerdings einige der bezauberndsten Gedichte unserer modernen Lyrik verdanken) und versuchte, so zu schreiben, wie man spricht; oder besser gesagt: er wollte als materia prima der poetischen Umwandlung nicht die Sprache der Bücher, sondern die des Gesprächs benutzen. Er traf sie nicht immer. Häufig ist sein Vers prosaisch, in dem Sinne wie die geschriebene Prosa, nicht das lebendige Gespräch, prosaisch ist, mehr gedacht und konstruiert als gesprochen. Durch die Wahl seiner Worte, die fast alle der „gehobenen“ Sprache angehören, und durch die kunstvolle Syntax spricht Cernuda eher „wie ein Buch“, denn daß er schreibt, „wie man spricht“. Das Wunderbare ist, daß solches Schreiben sich plötzlich zu funkelnden Ausdrücken verdichtet.
Cernuda sah in Campoamor einen Vorläufer des poetischen Prosaismus; wenn er es wäre, wäre er ein kläglicher Vorläufer. Man darf das philosophische Tischgespräch nicht mit Poesie verwechseln. In Wirklichkeit ist der einzige moderne spanische Dichter, der die gesprochene Sprache ungezwungen benutzt hat, der heute vergessene José Moreno Villa. (Sein einziges Buch: Jacinta la pelirroja erschien 1929.) Die ersten, die die poetischen Möglichkeiten der prosaischen Sprache nutzten, waren, mag es auch sonderbar erscheinen, die hispanoamerikanischen Modernisten: Darío und vor allem Leopoldo Lugones. In Campoamors Gedichten verkommt die Rhetorik des fin de siècle zu Ausdrücken, die pseudophilosophische Gemeinplätze sind, und ist so ein Beispiel für das, was Breton „image descendante“ nannte. Die Modernisten stellen die Umgangssprache der Kunstsprache gegenüber, um im Innern des Gedichts einen Zusammenstoß zu bewirken, wie etwa in Augurios von Rubén Darío, oder sie machen, wie Lugones in Lunario sentimental, aus der Sprache der Großstadt die materia prima des Gedichts. Gegen 1915 machte sich der Mexikaner Lopez Velarde die Lehre des argentinischen Dichters zunutze, und es gelang ihm, die literarische Sprache mit der gesprochenen zu verschmelzen. Es wäre langweilig, alle hispanoamerikanischen Dichter anzuführen, die nach López Velarde aus dem Prosaismus eine poetische Sprache machten; sechs Namen mögen genügen: Borges, Vallejo, Pellicer, Novo, Lezama Lima, Sabines… Am merkwürdigsten ist, daß all dies nicht in der englischen Poesie seinen Ausgang nimmt, sondern bei Eliots und Pounds Lehrmeister: dem Symbolisten Jules Laforgue. Der Autor von Complaintes, nicht Wordsworth, ist für die Engländer wie für die Hispanoamerikaner der Urheber dieser Richtung.
Oft wird gesagt, daß Cernuda und, ganz allgemein, die Dichter seiner Generation eine Periode der spanischen Poesie „abschließen“. Ich gestehe, daß ich nicht verstehe, was man damit sagen will. Um etwas abzuschließen – falls es sich nicht um ein endgültiges Versiegen handelt –, ist es nötig, daß etwas oder jemand eine neue Periode einleitet. Ohne gehässige Vergleiche ziehen zu wollen, scheint mir, daß die heutigen spanischen Dichter keine neue Bewegung eingeleitet haben; ich würde sogar sagen, daß sie sich, wenigstens auf dem Gebiet der Sprache und der Vision – und das ist es, was in der Poesie zählt – erstaunlich zurückhaltend zeigten. Das ist kein Vorwurf: die zweite romantische Generation war nicht minder bedeutend als die erste, und sie verzeichnete einen großen Namen: Baudelaire. Neuheit ist nicht das einzige Kriterium der Dichtung. In Spanien hat es einen Stilwandel gegeben, keinen Bruch. Dieser Wandel ist natürlich, und man darf ihn nicht mit einer neuen Ära verwechseln. Cernuda schließt weder eine Epoche ab, noch leitet er eine neue ein. Seine Poesie, unverwechselbar und distinkt, ist Teil einer weltweiten Richtung, die in spanischer Sprache mit einiger Verspätung gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts beginnt und die nach wie vor besteht. Innerhalb dieser geschichtlichen Periode nimmt seine Generation in Hispanoamerika und in Spanien eine zentrale Stelle ein. Und eine der zentralen Gestalten dieser Generation ist er, Luis Cernuda. Er war nicht der Schöpfer einer gemeinsamen Sprache noch eines Stils, wie es zu ihrer Zeit Rubén Darío und Juan Ramón Jiménez waren, oder uns näher, Vicente Huidobro, Pablo Neruda und Federico García Lorca. Aber seine Bedeutung, und was ihm künftigen Einfluß sichern wird, liegt vielleicht darin, daß Cernuda ein einsamer Dichter und ein Dichter für Einsame ist.
In einer Tradition, die die Worte gebraucht und mißbraucht hat, doch die selten über sie nachgedacht hat, verkörpert Cernuda das Gewissen der Sprache. Ein ähnlicher Fall ist Jorge Guillén, doch während die Poesie dieses letzteren, um den Jargon der Philosophen zu gebrauchen, im Bereich des Seins lebt, ist die Cernudas eine zeitliche: ihr Reich ist das menschliche Dasein. Mehr denn Reflexion, gibt es bei beiden poetische Meditation. Die Poesie des ersteren ist ein extremer und totaler Vorgang: das Wort kommt zu sich selbst und negiert sich als Bezeichnung der Welt, um nur seine Eigenbedeutung zu sein und sich so selbst aufzuheben. Der poetischen Reflexion verdanken wir einige der Haupttexte der modernen Poesie des Westens, Gedichte, in denen unsere Geschichte zugleich akzeptiert und vernichtet wird: Negation ihrer selbst und der traditionellen Bedeutungen, der Versuch, eine andere Bedeutung zu schaffen. Die Spanier haben selten Mißtrauen gegenüber dem Wort empfunden, selten haben sie dieses Schwindelgefühl gehabt, das den ankommt, der die Sprache als Zeichen der Nichtigkeit sieht. Für Cernuda besteht die Meditation darin, sich – in der fast ärztlichen Bedeutung von Pflege – über ein anderes Geheimnis zu beugen: das unseres eigenen Vergehens. Das Leben, nicht die Sprache. Zwischen Leben und Denken ist das Wort nicht der Abgrund, sondern die Brücke. Meditation: Meditation. Das Wort ist Ausdruck der Distanz zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich eben jetzt bin; auch ist es die einzige Möglichkeit, diese Distanz zu überwinden. Durch das Wort hält mein Leben inne, ohne doch innezuhalten, und es sieht, wie es sich selbst sieht; durch das Wort gelange ich zu mir und überschreite mich, ich schaue mich und verwandle mich in einen anderen – in ein anderes Ich selbst, das sich über meine Misere lustig macht und in dessen Spott meine ganze Erlösung besteht.
Die Spannung zwischen dem seiner selbst nicht bewußten Leben und dem Selbstbewußtsein löst sich im transparenten Wort. Nicht in einem unmöglichen Jenseits, sondern hier, im Augenblick des Gedichts, vereinen sich Wirklichkeit und Verlangen. Und diese Umarmung ist derart innig, daß sie nicht nur das Bild der Liebe, sondern auch das des Todes heraufbeschwört: in der Brust des Dichters, „einer Laute gleich, kann nur der Tod, er allein, die verheißene Melodie zum Klingen bringen“. Wenige moderne Dichter, gleich welcher Sprache, geben uns dieses schaurige Gefühl, einem Menschen gegenüber zu stehen, der wahrspricht, wirklich besessen von der Unausweichlichkeit und der Luzidität der Passion. Wenn man in einem Satz den Platz bestimmen könnte, den Cernuda in der modernen Poesie unserer Sprache einnimmt, würde ich sagen, daß er der Dichter ist, der nicht für alle spricht, sondern für den Einzelnen, der wir alle sind. Und er trifft uns, den je Einzelnen, der wir sind, im Zentrum, das nicht „Ruhm, Glück oder Ehrgeiz heißt“, sondern die Wahrheit über uns selbst. Für Cernuda war Selbsterkenntnis der Zweck der Poesie, doch ebenso und mit der gleichen Intensität, war die Poesie für ihn ein Versuch, sein eigenes Bild zu schaffen. La realidad y el deseo ist mehr als eine poetische Biographie: die Geschichte eines Geistes, der, indem er sich erkennt, sich verwandelt.

II
Es ist zur Gewohnheit geworden, zu sagen, daß Cernuda ein Dichter der Liebe sei. Das stimmt, und in diesem einen Thema haben alle anderen ihren Ursprung: Einsamkeit, Überdruß, Verherrlichung der natürlichen Welt, Kontemplation der menschlichen Werke… Doch man muß zunächst von dem sprechen, woraus er nie einen Hehl gemacht hat: seine Liebe ist uranisch, und er kannte keine andere, noch sprach er von einer anderen. Und das ohne jede Zweideutigkeit; mit bewundernswertem Mut, denkt man an die Prüderie der Öffentlichkeit und der literarischen Medien in Hispanoamerika, schrieb er Knabe, wo andere es vorziehen, vagere Substantive zu gebrauchen. „Die Wahrheit meiner selbst“, sagte er in einem Jugendgedicht, „ist die Wahrheit meiner wahren Liebe.“ Seine Aufrichtigkeit ist weder Lust am Skandal noch Herausforderung der Gesellschaft (seine Herausforderung ist eine andere): sie ist intellektuelle und moralische Ehrensache. Außerdem läuft man Gefahr, die Bedeutung seines Werkes nicht zu verstehen, wenn man über seine Homosexualität hinwegsieht oder sie abschwächt, nicht weil seine Poesie auf diese Leidenschaft reduziert werden kann – das wäre geradeso falsch, wie sie zu ignorieren –, sondern weil sie der Ausgangspunkt seines dichterischen Schaffens ist. Seine erotischen Neigungen erklären seine Poesie nicht, doch ohne sie wäre sein Werk ein anderes. Seine „andersgeartete Wahrheit“ trennt ihn von der Welt; und eben diese Wahrheit führt ihn in der Folge dazu, eine andere Wahrheit zu entdecken, die seine und die aller.
Gide ermutigte ihn, die Dinge bei ihren Namen zu nennen; das zweite Buch seiner surrealistischen Periode hat zum Titel: Los placeres prohibidos. Er nennt die „Lüste“ nicht, wie man hätte erwarten können, placeres malditos. Wenn es schon einer gewissen Forschheit bedarf, 1930 ein solches Buch in Spanien zu veröffentlichen, bedarf es in noch höherem Maße der Klarsicht, um der Versuchung zu widerstehen, die Rolle des zur Rebellion Verurteilten zu spielen. Diese Rebellion ist zweischneidig: derjenige, der sich als „maudit“ betrachtet, konsekriert die göttliche oder gesellschaftliche Autorität, die ihn verdammt: der Fluch schließt ihn in negativer Weise in die Ordnung, die er verletzt, mit ein. Cernuda fühlt sich nicht als maudit: er fühlt sich ausgeschlossen. Und er beklagt das nicht: er erwidert jeden Schlag mit einem Gegenschlag. Der Unterschied zu einem Schriftsteller wie Genet ist aufschlußreich. Genets Herausforderung der Gesellschaft ist eher symbolisch denn real, und deshalb, um seinem Verhalten die Gefährlichkeit zu geben, war er gezwungen, weiterzugehen: Lobpreis des Diebstahls und des Verrats, Verherrlichung der Verbrecher. In einer Gesellschaft dagegen, wo die Ehre der Ehemänner noch zwischen den Beinen der Frauen liegt und der „machismo“ eine kontinentale Krankheit ist, setzte die Offenheit Cernudas ihn jeder Art von realen, physischen und moralischen Gefahren aus. Andererseits ist Genet geprägt vom Christentum – einem negativen Christentum; das Zeichen der Erbsünde ist seine Homosexualität, oder genauer, durch sie und in ihr zeigt sich ihm der ererbte Makel; alle seine Handlungen und seine Werke sind Herausforderung und Huldigung des Nichts an das Sein. Bei Cernuda taucht das Schuldbewußtsein kaum auf, und den Werten des Christentums setzt er andere entgegen, die seinen, die er für die einzig wahren hält. Es würde schwerhalten, einen Schriftsteller spanischer Sprache zu finden, der weniger christlich ist. Genet mündet in die Negation der Negation: die Neger in seinem schönen Theaterstück, die Weiße sind, die Neger sind, die Weiße sind. Es ist das, was Nietzsche den „unvollständigen Nihilismus“ nannte, den man weder transzendiert noch auf sich nimmt, den an sich selbst zu erleiden man sich begnügt. Ein Christentum ohne Christus. Die Subversion Cernudas ist einfacher, radikaler und gesünder.
Sich als homosexuell bekennen heißt hinnehmen, daß man anders ist als die anderen. Doch wer sind die anderen? Die anderen sind die Welt – und die Welt gehört den anderen. In dieser Welt verfolgt man mit dem gleichen Ingrimm den Homosexuellen, den Revolutionär, den Schwarzen, den Proletarier, den enteigneten Bürger, den einsamen Dichter, den Bettler, den Exzentriker und den Heiligen. Die anderen verfolgen alle und niemanden. Sie sind alle und niemand. Das „Gesunde“ ist die durch Gesetzeskraft geheiligte Kollektivkrankheit. Sind sie wirklich, die anderen? Ob eine Mehrheit ohne Gesicht oder eine allmächtige Minderheit: sie sind eine Versammlung von Gespenstern. Mein Körper ist wirklich; ist die Sünde wirklich? Die Gefängnisse sind wirklich, sind es auch die Gesetze? Zwischen dem Menschen und dem, woran er rührt, gibt es einen Bereich der Irrealität: das Böse. Die Welt ist auf einer Negation errichtet, und die Institutionen – Religion, Familie, Besitz, Staat, Vaterland – sind grausame Verkörperungen dieser universalen Negation. Diese irreale Welt zerstören, auf daß am Ende die wahre Wirklichkeit sich zeige… Jeder Jugendliche – und nicht nur ein homosexueller Dichter – kann (und muß) solche Überlegungen anstellen. Cernuda akzeptiert sich als andersgeartet; das moderne Denken, insbesondere der Surrealismus, lehrt ihn, daß wir alle andersgeartet sind. Homosexualität wird zum Synonym für Freiheit; der Trieb ist kein blinder Impuls: er ist Tat gewordene Kritik. Alles, selbst der Körper, bekommt eine moralische Färbung. In diesen Jahren hängt er dem Kommunismus an (1930). Eine kurze Anhängerschaft, denn auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, sind die Trojaner so stumpf wie die Tyrer. Die Bejahung seiner eigenen Wahrheit läßt ihn die der anderen erkennen:

Durch meinen Schmerz verstehe ich, daß andere ungeheuer leiden…

wird er Jahre später sagen. Obgleich er unser gemeinsames Schicksal teilt, bietet er uns keine Allheilmittel. Er ist ein Dichter, kein Reformator. Er bietet uns seine „wahre Wahrheit“, diese Liebe, die die einzige Freiheit ist, die er verherrlicht, die einzige Freiheit, für die er stirbt.
Die wahre Wahrheit, die seine und die aller, heißt Verlangen. In einer Tradition, die mit ganz wenigen Ausnahmen – man kann sie an den Fingern einer Hand aufzählen, von La Celestina und La lozana andaluza (Die schöne Andalusierin) bis Rubén Darío, Valle-Inclán und García Lorca – „Lust“ gleichsetzt mit „angenehmem Gefühl, seelischem Behagen oder Vergnügen“, vertritt Cernuda leidenschaftlich den Primat der Erotik. Diese Leidenschaftlichkeit beruhigt sich mit den Jahren, doch die Lust wird in seinem Werk immer einen zentralen Platz einnehmen, neben ihrem komplementären Gegenteil: der Einsamkeit. Sie sind das Paar, das seine Welt regiert, diese „Landschaft aus verzücktem Staub“, die das Verlangen mit strahlenden Körpern, schönen und leuchtenden Raubtieren bevölkert. Das Schicksal des Wortes Verlangen (désir) verbindet sich, von Baudelaire bis Breton, mit dem der Poesie. Seine Bedeutung ist nicht psychologisch. Schillernd und sich selbst gleichbleibend, ist es Energie, Wille zur Verkörperung der Zeit, Lebenstrieb oder Todessehnsucht: es hat keinen Namen und es hat alle Namen. Was oder wer ist es, das nach dem verlangt, nach dem uns verlangt? Obgleich es die Form des Schicksals annimmt, erfüllt es sich nicht ohne unsere Freiheit, und unser ganzer freier Wille liegt in ihm beschlossen. Wir wissen nichts vom Verlangen, außer daß es sich in Bildern kristallisiert und daß diese Bilder nicht aufhören, uns zu quälen, bis sie Wirklichkeit werden. Kaum daß wir sie berühren, verschwinden sie. Oder sind wir es, die verschwinden? Die Imagination ist das Verlangen in Bewegung. Es ist das Bevorstehende, das, was die Erscheinung hervorruft; und es ist die Ferne, die sie auslöscht. Mit einer gewissen Trägheit neigt man dazu, in den Gedichten Cernudas reine Variationen über einen alten Gemeinplatz zu sehen: die Wirklichkeit zerstört das Verlangen zuletzt, unser Leben ist ein ständiges Oszillieren zwischen Entbehrung und Sättigung. Mir scheint, daß die Gedichte noch etwas anderes sagen, etwas, das gewisser und schrecklicher ist: wenn das Verlangen wirklich ist, ist die Wirklichkeit irreal. Das Verlangen macht das Imaginäre wirklich, die Wirklichkeit irreal. Das ganze Sein des Menschen ist der Schauplatz dieser ständigen Verwandlung; in seinem Körper und in seiner Seele durchdringen und verwandeln Verlangen und Wirklichkeit sich gegenseitig, vereinigen sich und trennen sich. Das Verlangen bevölkert die Welt mit Bildern, und zugleich entvölkert sie die Wirklichkeit. Nichts kann es befriedigen, denn es macht die lebendigen Wesen zu Phantasmen. Es nährt sich von Schattengebilden, oder vielmehr: unsere menschliche Wirklichkeit, unsere Substanz, Zeit und Blut, nährt seine Schattengebilde.
Zwischen Verlangen und Wirklichkeit gibt es einen Schnittpunkt: die Liebe. Das Verlangen ist umfassender als die Liebe, doch das Liebesverlangen ist das stärkste aller Verlangen. Allein in diesem Verlangen nach einem Wesen unter allen Wesen entfaltet sich das Verlangen voll und ganz. Derjenige, der die Liebe kennt, wünscht sich nichts anderes mehr. Die Liebe enthüllt dem Verlangen die Wirklichkeit: dieses ersehnte Bild ist mehr als ein Körper, der sich auflöst: es ist Seele, Bewußtsein. Übergang vom erotischen Objekt zur geliebten Person. Durch die Liebe berührt das Verlangen schließlich die Wirklichkeit: der andere existiert. Diese Entdeckung ist fast immer schmerzlich, da sich uns die Existenz des anderen zugleich als ein Körper, der durchdrungen wird, und als undurchdringliches Bewußtsein darstellt. Die Liebe ist die Entdeckung der fremden Freiheit, und nichts ist schwieriger, als die Freiheit der anderen anzuerkennen, zumal die eines Menschen, den man liebt und nach dem einen verlangt. Und darin besteht der Widerspruch der Liebe: das Verlangen trachtet danach, sich durch die Zerstörung des ersehnten Objekts zu vollenden; die Liebe entdeckt, daß dieses Objekt unzerstörbar ist – und unersetzlich. Bleibt das Verlangen ohne Liebe oder die Liebe ohne Verlangen. Ersteres verurteilt uns zur Einsamkeit: diese austauschbaren Körper sind irreal; letzteres ist nicht menschlich: kann man das lieben, nach dem einen nicht verlangt?
Cernuda war sehr empfindlich für diese wahrhaft tragische Natur der Liebe, jeder Liebe. In seinen Jugendgedichten stößt das Ungetüm seiner Leidenschaft blindlings mit der unerwarteten Existenz eines unabänderlichen fremden Bewußtseins zusammen, und diese Entdeckung erfüllt ihn mit Zorn und Leid. (Später, in einem Prosatext, spielt er auf den „Egoismus“ der Jugendlieben an.) In den Büchern der Reifezeit findet sich häufig das Thema der abendländischen mystischen Liebespoesie : La amada en el amado transformada (Die Geliebte, in den Geliebten verwandelt). Doch die Vereinigung, das letzte Ziel der Liebe, kann nur gelingen, wenn man erkennt, daß der andere ein von mir verschiedenes und freies Wesen ist: wenn unsere Liebe, anstatt zu versuchen, diese Verschiedenheit aufzuheben, zu einem Raum wird, darin sie sich entfalten kann. Die Liebesvereinigung bedeutet nicht Übereinstimmung (wäre sie es, wären wir mehr als Menschen), sondern sie ist ein Zustand ständiger Beweglichkeit, wie das Spiel, oder, wie die Musik, ständigen Harmonierens. Cernuda hat seine andersgeartete Wahrheit immer bejaht: sah er oder erkannte er die der anderen? Sein Werk gibt eine doppelte Antwort. Wie fast alle Menschen – zumindest wie all jene, die wirklich lieben, und das sind nicht viele – ist er in dem Augenblick der Leidenschaft abwechselnd Anbeter und Widersacher seiner Liebe; danach, in der Stunde der Besinnung, kommt er zu der bitteren Einsicht, daß, wenn er nicht so geliebt wurde, wie er sich das gewünscht hatte, es vielleicht daran lag, daß er selbst nicht mit völliger Selbstlosigkeit zu lieben verstand. Um zu lieben, sollten wir uns selbst besiegen, den Konflikt zwischen Verlangen und Liebe aufheben – ohne weder das eine noch das andere zu unterdrücken. Eine schwierige Verbindung von kontemplativer Liebe und tätiger Liebe. Nicht ohne Kämpfe und Bedenken trachtete Cernuda nach dieser höchsten Vereinigung; und dieses Trachten bestimmt die Richtung, in die sich seine Poesie entwickelt: die Heftigkeit des Verlangens, ohne je aufzuhören, Verlangen zu sein, neigt dazu, sich in Kontemplation der geliebten Person zu verwandeln. Doch beim Schreiben dieses Satzes kommen mir Zweifel: kann man im Falle Cernuda von geliebter Person sprechen? Ich denke nicht nur an die besondere Art der homosexuellen Liebe mit dem ihr eigenen Narzißmus und ihrer Abhängigkeit von der kindlichen Welt, was sie launenhaft, tyrannisch und anfällig macht für die Krankheit der Eifersucht – sondern auch an die beunruhigende Insistenz des Dichters, die Liebe als eine fast unpersönliche Fatalität zu betrachten.
In einem Gedicht in Como quien espera el alba (Wie einer den Morgen erwartet) (1947) sagt er:

El amor es lo eterno y no lo amado (Die Liebe ist das Ewige und nicht das Geliebte).

Fünfzehn oder zwanzig Jahre vorher hatte er das gleiche gesagt, mit größerer Erbitterung:

No es el amor quien muere, somos nosotros mismos (Nicht die Liebe stirbt, wir selber sterben).

In dem einen wie in dem anderen Fall bejaht er den Primat der Liebe über die Liebenden, doch in dem Jugendgedicht liegt der Akzent auf der Sterblichkeit des Menschen und nicht auf der Unsterblichkeit der Liebe. Der Unterschied im Ton zeigt die Richtung seiner geistigen Entwicklung: in dem zweiten Text ist die Liebe nicht mehr unsterblich, sondern ewig, und aus dem „Wir“ wird „das Geliebte“. Der Dichter ist nicht beteiligt: er schaut zu. Er geht von der tätigen Liebe zur kontemplativen Liebe über. Bemerkenswert ist, daß diese Wandlung nicht seine Grundanschauung ändert: nicht die Menschen sind es, die sich in der Liebe verwirklichen, sondern die Liebe ist es, die sich der Menschen bedient, um sich zu verwirklichen. Die Idee vom Menschen als „Spielzeug der Leidenschaft“ ist ein konstantes Thema seiner Poesie. Erhebung der Liebe und Erniedrigung der Menschen. Unsere Geringwertigkeit kommt von unserer Sterblichkeit: wir sind Wandlung und halten den Wandlungen der Leidenschaft nicht stand; wir trachten nach Ewigkeit und ein Augenblick der Liebe vernichtet uns. Seines spirituellen Halts beraubt – der Seele, wie Platoniker und Christen ihn nannten –, ist das Geschöpf nicht eine Person, sondern eine momentane Verdichtung der nicht-menschlichen Kräfte: Jugend, Schönheit und anderer magnetisch anziehender Formen, in denen die Zeit oder die Energie sich manifestieren. Das Geschöpf ist reine Erscheinung, ohne etwas dahinter. Cernuda gebraucht selten die Worte Seele oder Bewußtsein, wenn er von seinen Lieben spricht; auch erwähnt er nicht einmal ihre besonderen Kennzeichen noch jene Eigenschaften, die, wie man gemeinhin sagt, den Menschen Persönlichkeit verleihen. In seiner Welt herrscht nicht das Antlitz als Spiegel der Seele, sondern der Körper. Man wird nicht verstehen, was dieses Wort für den spanischen Dichter bedeutet, wenn man nicht gewahr wird, daß er im menschlichen Körper die Chiffre des Universums sieht. Ein junger Körper ist ein Sonnensystem, ein Kern physischer und psychischer Strahlungen. Der Körper ist ein Springquell von Energie, ein Quell „psychischer Materie“ oder mana, eine Substanz, die weder geistig noch physisch ist, eine Kraft, die den Primitiven zufolge die Welt bewegt. Wenn wir einen Körper lieben, vergöttern wir nicht eine Person, sondern eine Verkörperung dieser kosmischen Kraft. Die Liebesdichtung Cernudas geht von der Vergötterung über zur Verehrung, vom Sadismus zum Masochismus; er leidet und genießt in der Begierde, das, was wir lieben, zu bewahren und zu zerstören (worin der Konflikt zwischen Verlangen und Liebe besteht), doch den anderen ignoriert er. Es ist eine Betrachtung des rein Geliebten, nicht des Geliebten als Person. So sieht er in dem fremden Bewußtsein nur sein eigenes fragendes Gesicht. Dies war seine „wahre Wahrheit, die Wahrheit seiner selbst“. Und da ist noch eine andere Wahrheit: jedesmal, wenn wir lieben, verlieren wir uns: sind wir andere. Die Liebe verwirklicht nicht das Ich: sie eröffnet dem Ich eine Möglichkeit, sich zu ändern, sich zu verwandeln. In der Liebe erfüllt sich nicht das Ich, sondern die Person: das Verlangen, ein anderer zu sein. Das Verlangen nach dem Sein.
Wenn Lieben Verlangen ist, vermag kein Gesetz außer dem des Verlangens selbst es zu bändigen. Für Cernuda ist die Liebe Bruch mit der Gesellschaftsordnung und Vereinigung mit der natürlichen Welt. Und sie ist Bruch nicht nur, weil seine Liebe verschieden ist von jener der Mehrheit, sondern auch, weil jede Liebe die menschlichen Gesetze bricht. Die Homosexualität ist keine Ausnahme; die wahre Ausnahme ist die Liebe. Die Leidenschaft Cernudas – und auch sein Zorn, seine Blasphemien und Sarkasmen – hat einen uns allen gemeinsamen Ursprung: seit ihren Anfängen hat die Poesie des Abendlandes nicht aufgehört zu verkünden, daß die Liebesleidenschaft, die für unsere Kultur tiefste Erfahrung, ein übertreten der Gesetze, ein gesellschaftliches Verbrechen ist. Die Worte Melibeas in La Celestina, einen Augenblick bevor sie sich vom Turm stürzt, Worte des Falls und des Verderbens, aber auch der Anklage gegen ihren Vater, können alle Liebespaare wiederholen. Selbst in einer Gesellschaft wie der der Hindu, die aus der Liebe nicht die Leidenschaft par excellence gemacht hat, verliebt sich der Gott Krishna, wenn er sich verkörpert und Mensch wird; und seine Liebschaften sind ehebrecherisch. Man muß es wieder und wieder sagen: die Liebe, jede Liebe, ist unmoralisch. Stellen wir uns eine Gesellschaft vor, die sich von der unsrigen und von all jenen, die die Geschichte gekannt hat, unterscheidet, eine Gesellschaft, in der die größte erotische Freiheit herrscht, die infernalische Welt Sades oder die paradiesische, die uns die modernen Sexologen verheißen: in ihr würde die Liebe ein größerer Skandal sein als bei uns. Natürliche Leidenschaft, Enthüllung des Seins in der geliebten Person, Brücke zwischen dieser und der anderen Welt, Schau des Lebens oder des Todes: die Liebe öffnet uns die Tore eines Zustands, der sich den Gesetzen der gewöhnlichen Vernunft und der gängigen Moral entzieht. Nein, Cernuda verteidigte nicht das Recht der Homosexuellen auf ihr eigenes Leben (dies ist die Aufgabe der Gesetzgebung), sondern er verherrlichte als die äußerste Erfahrung des Menschen die Liebesleidenschaft. Eine Leidenschaft, die diese oder jene Form annimmt, immer eine andere und trotzdem immer die gleiche. Eine einzigartige Liebe zu einer einzigartigen Person – obgleich diese der Veränderung, der Krankheit, dem Verrat und dem Tode unterworfen ist. Dies war die einzige Ewigkeit, nach der er sich sehnte, und die einzige Wahrheit, die er für gewiß hielt. Nicht die Wahrheit des Menschen: die Wahrheit der Liebe.
In einer von der Kritik der Vernunft und dem Sturm der Leidenschaft verheerten Welt werden die sogenannten Werte zu Asche. Was überlebt? Cernuda kehrt zur Natur der Antike zurück, und in ihr entdeckt er nicht Gott, sondern die Gottheit selbst, die Mutter der Götter und Mythen. Die Macht der Liebe kommt nicht von den Menschen, diesen schwachen Wesen, sondern von der Energie, die alle Dinge bewegt. Die Natur ist für Cernuda weder Materie noch Geist: sie ist Bewegung und Form, bloße Erscheinung und unsichtbarer Hauch, Wort und Schweigen. Sie ist eine Sprache, und noch mehr: eine Musik. Ihr Wandel verfolgt keinerlei Zweck; sie ignoriert die Moral, den Fortschritt und die Geschichte: wie Gott genügt es ihr, zu sein. Und so wie Gott kann sie sich nicht überschreiten, da sie keine Grenzen hat, ihre ganze Transzendenz besteht darin, sich fortwährend zu kontemplieren und zu reflektieren, sie ist ein unablässiger Wechsel von Erscheinungen und ein sich immer Gleichbleibendes. Ein Spiel ohne Ende, das nichts bedeutet und in dem wir keinerlei Erlösung oder Verdammung finden können. Zuzusehen, wie sie mit uns spielt, mit ihr zu spielen, mit ihr und in ihr zugrunde zu gehen – das ist unser Schicksal. In dieser Sicht der Welt haben die Fröhliche Wissenschaft und vor allem Leopardis Pessimismus Spuren hinterlassen. Eine Welt ohne Schöpfer, obgleich von einem dichterischen Hauch beseelt, etwas, das man vielleicht religiösen Atheismus nennen könnte. Gewiß, manchmal erscheint auch Gott: er ist das Wesen, mit dem Cernuda spricht, wenn er mit niemandem spricht, und das lautlos verschwindet wie eine sich auflösende Wolke. Man möchte meinen, eine Verkörperung des Nichts, die wieder zu Nichts wird. Dagegen ist die Verehrung (in der Bedeutung von Ehrfurcht vor dem Heiligen und dem Göttlichen), die Himmel und Berge, ein Baum, ein Vogel oder das Meer, immer wieder das Meer, ihm einflößen, von seinem ersten bis zu seinem letzten Buch eine Konstante. Er ist ein Dichter der Liebe, aber auch der natürlichen Welt. Ihr Geheimnis faszinierte ihn. Er geht von der Verschmelzung mit den Elementen zu ihrer Betrachtung über, eine Entwicklung, die parallel zu der seiner Liebesdichtung verläuft. Manchmal sind seine Landschaften angehaltene Zeit, und in ihnen denkt das Licht wie in einigen Bildern von Turner; andere sind angelegt mit der Geometrie von Poussin, einem Maler, den er als einer der ersten wiederentdeckte. Auch vor der Natur macht der Mensch keine gute Figur: Jugend und Schönheit bewahren ihn nicht vor seiner Unbedeutendheit. Cernuda sieht in unserer Geringwertigkeit kein Zeichen des Sündenfalls und noch weniger das Anzeichen für eine künftige Erlösung. Die Nichtigkeit des Menschen ist endgültig. Er ist eine Luftblase des Seins.
Cernudas Negation führt zur Verherrlichung von Wirklichkeiten und Werten, die von unserer Welt herabgesetzt werden. Seine Zerstörung ist Schöpfung, oder genauer, Wiedererweckung verborgener Mächte. Gegenüber der traditionellen Religion und Moral und den Surrogaten, die uns die Industriegesellschaft bietet, vertritt er das widersprüchliche Paar Verlangen-Liebe; angesichts der einsamen Promiskuität der Städte die einsame Natur . Wo hat der Mensch seinen Ort? Er ist zu schwach, um die Spannung zwischen Liebe und Verlangen auszuhalten; auch ist er kein Baum noch Wolke oder Fluß. Zwischen der Natur und der Leidenschaft, die beide nicht menschlich sind, gibt es unser Bewußtsein. Unser Elend besteht darin, daß wir Zeit sind; und zwar Zeit, die endet. Dieser Mangel ist Reichtum: da wir endlich sind, sind wir Erinnerung, Verstand, Wille. Der Mensch erinnert sich, erkennt und wirkt: er dringt ein in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. In seinen Händen ist die Zeit ein knetbarer Stoff; indem er aus ihr die materia prima seines Denkens, seiner Taten und Werke macht, rächt sich der Mensch an der Zeit.
In Cernudas Dichtung gibt es drei Zugänge zur Zeit. Der erste ist das, was er acorde nennt: plötzliches Innewerden (durch eine Landschaft, einen Körper oder ein Musikstück) eines Paradoxes: sehen, wie die Zeit stillsteht, ohne daß sie aufhörte zu fließen:

Zeitloser Augenblick (…) Fülle, die, im Laufe des Lebens immer wiederkehrend, stets die gleiche ist (…) Ihr am ähnlichsten ist das Durchdringen eines anderen Körpers im Augenblick der Ekstase.

Wir alle, Kinder oder Verliebte, haben Ähnliches gefühlt; was den Dichter von den anderen unterscheidet, ist die Häufigkeit dieser Zustände und vor allem das Bewußtsein von ihnen und das Bedürfnis, sie zum Ausdruck zu bringen. Ein anderer Weg, verschieden von dem der Verschmelzung mit dem Augenblick, ist der der Kontemplation. Wir sehen irgendeine Wirklichkeit – eine Baumgruppe, das Dunkel, mit dem sich in der Abenddämmerung ein Zimmer füllt, einen Steinhaufen am Wegrand –, wir sehen, ohne uns dessen bewußt zu sein, bis das, was wir sehen, sich langsam als das nie Gesehene enthüllt und zugleich als das schon immer Gesehene:

Schauen, schauen (…) die Natur verbirgt sich gern und man muß sie überraschen, indem man sie lange, leidenschaftlich anschaut (…) Blick und Wort machen den Dichter aus.

Sehen wir die Dinge oder sehen sie uns an? Und sind das, was wir sehen, die Dinge oder ist es die Zeit, die sich in einer Erscheinung verdichtet und diese dann auflöst? Bei dieser Erfahrung vermittelt der Abstand; der Mensch verschmilzt nicht mit der äußeren Wirklichkeit, doch sein Blick schafft zwischen ihr und seinem Bewußtsein einen Raum, der der Enthüllung Vorschub leistet. Das, was Pierre Schneider die Vermittlung nennt. Der dritte Weg ist das Sehen der menschlichen Werke und des eigenen Werks. Von Las Nubes (Die Wolken) an ist es eines seiner Hauptthemen und kommt im wesentlichen in zwei Richtungen zum Ausdruck: im Doppelgänger (Gestalten des Mythos, der Dichtung oder der Geschichte) und in der Meditation über die Werke der Kunst. Durch sie findet er Zugang zur geschichtlichen, menschlichen Zeit.
In einer Bemerkung zu einer von Gerardo Diego herausgegebenen Anthologie seiner Gedichte sagt er, daß das Leben von Gestalten des Mythos oder der Dichtung, wie des Hyperion von Hölderlin, das einzige sei, das ihm lebenswert erscheine. Man darf das nicht als Herausforderung oder schroffe Bemerkung verstehen; er war immer der Meinung gewesen, daß die Wirklichkeit des Alltags an Irrealität krankt und daß die wahre Wirklichkeit die der Imagination ist. Was das tägliche Leben irreal macht, ist der trügerische Charakter der Kommunikation zwischen den Menschen. Ihr Umgang miteinander ist Betrug oder zumindest eine unfreiwillige Lüge. In der Welt der Imagination sind Dinge und Menschen integrer; das Wort verhehlt nicht, sondern enthüllt. In Dístico español (Spanisches Distichon), einem seiner letzten Gedichte, wird die wahre Wirklichkeit Spaniens für ihn ein „hartnäckiger Alptraum: es ist das Land der Toten und alles in ihm wird tot geboren“; diesem Spanien hält er ein anderes gegenüber, ein imaginäres und trotzdem wirklicheres, bevölkert von „geliebten Helden in einer heroischen Welt“, weder engstirnig noch rachsüchtig, sondern, in Cervantes Tradition des Großmuts, „duldend die ihnen zuwiderlaufende Treue“. Das Spanien der Romane von Galdós führt ihm vor Augen, daß das tägliche Leben dramatisch ist und daß das Paradox, lebendig zu sein, auch im obskursten Dasein pocht“. Es ist nicht verwunderlich, daß er sich unter all diesen Romanfiguren in Salvador Monsalud wiedererkennt, dem „französisierten“ Revolutionär und absonderlichen Liebhaber, der sich nie dem Widersinn ergibt, den wir Wirklichkeit nennen. Und welcher hispanoamerikanische Junge wollte nicht irgendwann einmal Salvador Monsalud sein wollen: sich in Genara und Adriana verlieben; gegen die „Ultras“ kämpfen und auch gegen den „Scharlatan, der mit seinem argentinischen Gesabber das Volk tauscht“; wollte sich nicht zwischen Abscheu und Mitleid hin- und hergerissen fühlen angesichts des verrückten, in dieselbe Frau verliebten Bruders, des somnambulen karlistischen Guerrilleros, des Brudermörders Carlos Garrote; wer wollte am Ende nicht Soledad begegnen, dieser Wirklichkeit, die wirklicher und stärker ist als alle Leidenschaften?
Mit wem spricht der Dichter, wenn er sich mit einem Helden des Mythos oder der Literatur unterhält? Jeder von uns hat einen geheimen Gesprächspartner in sich. Er ist unser Doppelgänger und noch etwas mehr: der, der uns widerspricht, unser Vertrauter, unser Richter und unser einziger Freund. Wer nicht mit sich selbst spricht, wird nicht fähig sein, mit den anderen wirklich zu sprechen. Wenn Cernuda mit den Geschöpfen des Mythos spricht, spricht er mit sich selbst, doch auf diese Weise spricht er mit uns. Es ist ein Zwiegespräch, das indirekt unsere Antwort erheischt. Der Augenblick des Lesens ist ein Jetzt, in dem, wie in einem Spiegel, der Dialog zwischen dem Dichter und seinem imaginären Besucher sich verdoppelt in dem Dialog zwischen dem Leser und dem Dichter. Der Leser sieht sich in Cernuda, der sich seinerseits in einem Phantasma sieht. Und jeder sucht in der imaginären Person seine eigene Wirklichkeit, seine Wahrheit. Neben den Gestalten des Mythos und der Dichtung die historischen Gestalten: Góngora, Larra, Tiberius, Rebellen, Randfiguren, Verbannte. Durch die Dummheit ihrer Zeitgenossen oder durch das Verhängnis ihrer Leidenschaften, sind sie auch Masken, personae. Cernuda verbirgt sich nicht hinter ihnen; im Gegenteil, durch sie erkennt er sich und ergründet sich selbst. Die alte literarische Verstellung hört auf, wenn sie zur Introspektion wird. In dem Ludwig von Bayern gewidmeten Gedicht, ebenfalls eines seiner letzten Werke, ist der König allein im Theater und lauscht der Musik, „eins mit dem Mythos, dem er nachsinnt: die Melodie hilft ihm, sich selbst zu erkennen, sich in das zu verlieben, was er selbst ist“. Indem er vom König spricht, spricht Cernuda von sich, doch nicht zu sich; er lädt uns ein, seinem Mythos nachzusinnen und den Akt, den er vollzogen hat, zu wiederholen: die Selbsterkenntnis durch das fremde Werk.
Angesichts des Escorial, eines Gemäldes von Tizian oder in der Musik Mozarts wird er einer größeren Wahrheit inne als der seinen, obgleich sie dieser nicht widerspricht noch sie ausschließt. In den Kunstwerken bedient sich die Zeit der Menschen, um sich zu erfüllen. Nur daß es eine konkrete, vermenschlichte Zeit ist: eine Epoche. Das Verschmelzen mit dem Augenblick oder die Kontemplation des Zeitablaufs sind Erfahrungen in der Zeit und der Zeit, doch gewissermaßen außerhalb der Geschichte; die Betrachtung des Kunstwerks ist Erfahrung der geschichtlichen Zeit. Einerseits ist das Werk das, was man gemeinhin eine geschichtliche Manifestation nennt, es ist eine bestimmte Zeit; andererseits ist es ein Archetyp dessen, was der Mensch mit seiner Zeit machen kann: sie in Stein, Musik oder Wort verwandeln, ihr Form geben und Sinn einflößen. Sie dem Verständnis der anderen öffnen: sie gegenwärtig machen. Die Betrachtung des Kunstwerks impliziert ein Zwiegespräch: das Anerkennen einer Wahrheit, die eine andere ist als die unsere, und die uns trotzdem direkt betrifft. Das Kunstwerk ist eine Präsenz der ständig gegenwärtigen Vergangenheit. So unvollkommen und dürftig unsere Erfahrung sein mag, wir wiederholen den Akt des Schöpfers und durchlaufen den Prozeß in der dem Künstler entgegengesetzten Richtung; wir kommen über die Betrachtung des Werks zum Verständnis dessen, was es entstehen ließ: eine Situation, eine konkrete Zeit. Das Zwiegespräch mit den Kunstwerken besteht nicht nur darin, zu hören, was sie sagen, sondern auch darin, sie neu zu schaffen, sie als Gegenwärtigkeiten wiederzuerleben: ihre Gegenwart zu erwecken. Es ist dies eine schöpferische Wiederholung. Im Falle Cernuda dient ihm die Erfahrung außerdem dazu, besser zu verstehen, was seine Mission als Dichter ist. Auf den anfänglichen Bruch mit der Gesellschaftsordnung folgt, ohne Widerruf der rebellischen Haltung, die bis zu seinem Tode im wesentlichen die gleiche bleiben wird, die Teilnahme an der Geschichte. Durch die fremden Werke wird er sich seiner Aufgabe bewußt: die Geschichte ist nicht nur Zeit, in der man lebt und stirbt, sondern auch Zeit, die sich in Werk und Tat verwandelt.
Wenn Cernuda dieses oder jenes Werk betrachtet, ahnt er diese Verschmelzung des individuellen Willens des Künstlers mit dem fast immer unbewußten Willen seiner Zeit und seiner Welt. Er entdeckt, daß er nicht nur schreibt, um die „Wahrheit seiner selbst“ zu sagen; seine wahre Wahrheit ist auch die seiner Sprache und die seiner Umwelt. Der Dichter gibt „den stummen Mündern der Seinen“ Stimme und befreit sie so. Die „Anderen“ sind die „Seinen“ geworden. Doch diese Wahrheit zu sagen besteht nicht darin, die Gemeinplätze der Kanzel, der Rednerbühne, des Ministerrats oder des Radios zu wiederholen. Die Wahrheit aller ist nicht unvereinbar mit dem Bewußtsein des einsamen Menschen, noch ist sie weniger subversiv als die individuelle Wahrheit. Diese Wahrheit, die man nicht verwechseln darf mit den Meinungen der Mehrheit oder der Minderheit, ist verborgen, und es ist Aufgabe des Dichters, sie zu entdecken, sie zutage zu fördern. Der mit den Jugendgedichten begonnene Kreis schließt sich: Negation der Welt, die wir wirklich nennen, und Bejahung jener wirklichen Wirklichkeit, die das Verlangen und die schöpferische Imagination enthüllen; Verherrlichung der Mächte der Natur und Erkennen der Aufgabe des Menschen auf Erden: Werke schaffen, aus der toten Zeit Leben schaffen, dem blinden Zeitablauf Bedeutung verleihen; Ablehnung einer falschen Tradition und Entdeckung einer Geschichte, die noch nicht aufgehört hat und in die sein Leben und sein Werk als ein neuer Akkord sich einfügen. Am Ende seines Lebens schwankt Cernuda zwischen der Wirklichkeit seines Werkes und der Irrealität seines Lebens. Sein Buch war sein wahres Leben, und an ihm hat er Stunde um Stunde gearbeitet, so wie jemand, der einen Bau aufführt. Er baute mit lebendiger Zeit und sein Wort war der Stein des Anstoßes. Er hat uns ein in jeder Hinsicht erhebendes Werk hinterlassen.

Octavio Paz, 24.5.1964, aus Octavio Paz: Essays 2, Suhrkamp Verlag, 1984

Die Jagd nach der Metapher

– Federico García Lorca und die Generation von 27. –

(…)

Luis Cernuda wird sowohl der poésie pure als auch dem spanischen Surrealismus zugeordnet. Dem „Lobgesang“ eines Guillén stellt Cernuda eine unendlich varierte Negation gegenüber, ein von Melancholie bestimmtes Sehnsuchtsverlangen nach Wirklichkeit. „Diese Unmöglichkeit eines absoluten und besitzergreifenden Kontaktes mit der Wirklichkeit gibt der Vision des Dichters ihre wesentliche Eigenart“, sagt Salinas. „La realidad y el deseo“ (Das Wirkliche und das Verlangen) nennt Cernuda schließlich auch die Gesamtausgabe seiner Gedichte.
Sein Leben steht, wie sein lyrisches Werk, zwischen Realität und Imagination, zwischen Realem und Surrealem, zwischen bedrückender Einsamkeit und unerfüllter Sehnsucht. Im Gedicht „Déjame esta voz“ (Laß mir diese Stimme) schreibt Cernuda:

Laß mir diese Stimme, die ich habe,
So wie der Steppe man
Ihr Gestrüpp aus Verlangen beläßt,
Ihre trockenen, an Steinen hängenden Flüsse.

Laß mich leben wie griffloser rostiger
Stahl, weggeworfen in die Wolken;
Vom abgünstigen Ruhm will ich nichts wissen
Mit seinem Schweif und Gehörn aus Asche.

Cernuda nimmt bewußt europäische Lyriktraditionen auf; neben Nerval, Blake und Novalis auch Hölderlin, den er ins Spanische überträgt.

Axel Helbig, Ostragehege, Heft 13, 1998

 

 

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Luis Cernuda – Verbannter von sich selbst.

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