Klaus-Dieter Schult (Hrsg.): Die skeptische Landschaft

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Klaus-Dieter Schult (Hrsg.): Die skeptische Landschaft

Schult (Hrsg.)-Die skeptische Landschaft

VALSE TRISTE

Die Sonne, hochgelobt in Wolkenwürfen,
sie ruft den Schatten auch −: Melancholie;
die Einzige, mit der wir schlafen dürfen,
wenn uns der Tag entfloh, der nicht verzieh −

Uns schlägt der Stern dann und die Fabel
vom längst Verlornen, das uns jäh verließ −
So schlägt der späten Stunde Adlerschnabel:
Nur Ethik, Leere −, selbst das Paradies!

Wir wandern weiter, wandern aus in Öden,
in denen alles Frage wird zuletzt −
Als Maskenträger, Spieler nur, Tragödien
umgibt der letzte Schatten uns schon jetzt.

Alexander Xaver Gwerder

 

 

 

Vorwort

Über ein Jahrhundert hinweg ist es der Lyrik innerhalb der deutschsprachigen Literatur der Schweiz nicht mehr gelungen, die Dominanz der Epik nur annähernd in Frage zu stellen oder sich zumindest für einige Zeit ins öffentliche, auch außerhalb der Landesgrenzen geführte literarische Gespräch zu bringen, wie es die Dramatik in den fünfziger und sechziger Jahren mit Stücken von Frisch und Dürrenmatt vermochte. Bei der Suche nach möglichen Gründen für dieses Spezifikum stößt man recht schnell auf das Problem Sprache, das gerade in der deutschsprachigen Schweiz einen besonderen Stellenwert besitzt.
Friedrich Dürrenmatt hat dieses Problem einmal mit folgenden Worten umrissen:

In vielem ist das Verhältnis des Schweizerdeutschen zum Deutschen ähnlich wie dasjenige des Holländischen zum Deutschen. Nur wurde das Holländische zu einer Schriftsprache, das Schweizerdeutsche nicht. Auf den Schriftsteller bezogen: der deutschschweizerische Schriftsteller bleibt in der Spannung dessen, der anders redet, als er schreibt.

Ein Abstand tut sich auf; seine Dimension wird erahnbar, überdenkt man Dürrenmatts weiterführende Bemerkung, daß dem Autor seines Landes die Mundart. die „Sprache seines Gefühls“, das Deutsche dagegen die „Sprache seines Verstandes, seines Willens, seines Abenteuers“ sei. Diesen Gegensatz im künstlerischen Schaffensprozeß zu überwinden, das ist eine besondere Aufgabe des Schriftstellers in der Schweiz. Sie verlangt nach intensiver Arbeit mit dem Material Sprache.
In ganz besonderem Maße, so ließe sich schlußfolgern, wird diese Arbeit dem Lyriker abverlangt, denn mehr noch als das epische oder dramatische Kunstwerk lebt das Gedicht von der Fähigkeit seines Schöpfers, Gedanken, Gefühle, subjektive Seinserfahrung und Seinsbeurteilung derart ins sprachliche Bild setzen zu können, daß im lyrischen Text die Momente von Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit bewahrt bleiben, die sich mit dem Erlebnis verbanden, das die Anregung zum künstlerischen Gestaltungsprozeß gab. Die Annahme, daß für den schweizerischen Schriftsteller zu diesen Momenten der Gebrauch der Mundart gehört, ist sicher berechtigt. Nach wie vor jedoch wird das Gros lyrischer Dichtungen nicht in der Mundart, sondern in Hochdeutsch geschrieben, womit sich dem Lyriker die besondere Aufgabe stellt, Unmittelbarkeit auch auf sprachlicher Ebene, bei der Übertragung des Gedankens aus, der „Sprache seines Gefühls“ in die „Sprache seines Verstandes“ zu gewährleisten.
Die Gefahr von Verlusten ist in diesem Arbeitsprozeß immer gegeben, nicht wenige Gedichte aus der deutschsprachigen Schweiz sind dafür Dokument. Es ist eine Gefahr, die ins Extrem wachsen kann, bis zu dem Punkt, wo sich das lyrische Werk als solches aufzuheben beginnt, wo es sich nicht mehr als lebendiger Ausdruck künstlerischer Subjektivität zu legitimieren vermag.
Denkbar ist andererseits jedoch auch, daß dem Gedicht aus dem Spannungsfeld zwischen Mundart und Literatursprache besonders belebende Ströme zufließen könnten, Ströme, die zu einem zusätzlichen Qualitätsgewinn führen. Auf lyrische Arbeiten, wo dies der Fall ist, konzentriert sich die vorliegende Anthologie. Sie möchte dem interessierten Leser einiges von dem vorstellen, was seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Schweiz an guter und sehr guter Lyrik geschrieben wurde. Zugleich verfolgt sie damit die Absicht, das eingangs vermittelte Bild anscheinender Zweitrangigkeit dieser literarischen Gattung im Ensemble schweizerischer Literatur zumindest zu relativieren, denn, so scheint es uns; das eine oder andere Gedicht verdient es durchaus – sofern sich Werke verschiedener Genres und Gattungen mit der ihnen jeweils eigenen Art der Weltaneignung und -widerspiegelung überhaupt vergleichen lassen −, den Höhepunkten epischen Schaffens gleichwertig an die Seite gestellt zu werden. Oftmals ist es weit weniger die Qualität des Gedichtes als vielmehr die Zurückhaltung des Lesers in der Rezeption, die zu Anerkennungsverlusten führt. Die durchschnittliche Auflagenhöhe von Lyrikbänden belegt jedenfalls, daß auch in der Schweiz nur ein begrenztes Interesse am Gedicht besteht.
Diese Anthologie bemüht sich um Qualität, jedoch ist einschränkend zu bemerken, daß ausgehend von der Motivation, acht Jahrzehnte Lyrikentwicklung in der deutschsprachigen Schweiz in einem möglichst weiten Überblick kenntlich machen zu wollen, das Auswahlverfahren nicht nur von ästhetischen Maßstäben determiniert sein konnte. Um die Eigenarten dieser Literatur und die Spannweiten kenntlich machen zu können, die es zwischen verschiedenen literaturgeschichtlichen Phasen, zwischen den Gedichten von Autoren einer Generation und nicht selten im Gesamtwerk einzelner Lyriker gib, war hin und wieder auf Texte zurückzugreifen, die vielleicht nicht immer höchsten Ansprüchen genügen werden, die als Gegenstand des Vergleichs jedoch unerläßlich erschienen. Um dem Leser diese Möglichkeit des vergleichenden Wertens zu erleichtern, wurde auf ein chronologisches Ordnungsprinzip zurückgegriffen; es wurde weitestgehend auch bei der Anordnung der Texte eines jeden Autors eingehalten.
Die nachfolgenden Bemerkungen zur Lyrikentwicklung in der deutschsprachigen Schweiz seit 1900 verstehen sich als Angebot zu weiteren Vergleichen.

Die Jahre von 1890, dem Todesjahr Gottfried Kellers, bis zur Hälfte der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts waren für die deutschsprachige Literatur der Schweiz, eine Zeit weitgehender Stagnation. Das künstlerische Erbe, das Gotthelf, Keller und Meyer hinterlassen hatten, wirkte auf die nachfolgende Generation Schreibender eher bedrückend, denn Neues befördernd. Weit verbreitet war die Neigung zur Nachahmung. „Eine biedermeierliche Feierabendkunst“ (Hans Bänziger) mit viel Seldwylageist, flatternden Kantonsfähnlein und Alpenglühn beherrschte die literarische Szenerie, die vor dem Hintergrund einer rapiden kapitalistischen Veränderung der schweizerischen Gesellschaft in diesen Jahren zunehmend als Anachronismus erscheinen mußte.
1906 veröffentlichte Carl Spitteler dann seinen Roman Imago, der zusammen mit Werken von Heinrich Federer, Paul Ilg, Felix Moeschlin oder Jakob Schaffner, davon Kunde gab, daß sich neben der weiterhin dominierenden Heimatkunst eine Literatur zu entwickeln begann, die bereit war, der Realität in ihrer Widersprüchlichkeit wieder größeren Stellenwert einzuräumen, die gewillt war, nach den veränderten Lebensmöglichkeiten des Menschen in dieser neuen Realität zu fragen.
Ohne Zweifel trifft dies auch auf die originärste literarische Leistung dieser Jahre, auf das Werk Robert Walsers, zu. 1904 erschien im Insel-Verlag sein Debütband unter dem Titel Fritz Kochers Aufsätze, jedoch war die Reaktion der Leser mehr als zurückhaltend – in einem halben Jahr wurden gerade 47 Exemplare verkauft, der Rest der Auflage wurde in einem Berliner Kaufhaus schließlich verramscht. Auf mehr Interesse stießen dann zwar die nachfolgenden Romane Geschwister Tanner (1907) und Der Gehülfe (1908), umfassende Anerkennung aber; so wie sie Robert Walser recht früh schon von einem kleinen Kreis aufgeschlossener Schriftsteller, Kritiker und Verleger (u.a. Kafka, Hesse, Widmann, Cassirer, Fischer) zuteil geworden war, fand sein Werk erst bei späteren Generationen. In den fünfziger Jahren, inzwischen nahezu vergessen, vergessen wie der Autor selbst, der seit 1919 in einer schweizerischen Heil- und Pflegeanstalt lebte und dort 1956 starb, gelangte Walsers Werk im Kontext der Kafka-Rezeption dieser Jahre wieder ins öffentliche Bewußtsein. Bei Autoren wie Peter Bichsel, Paul Nizon, E.Y. Meyer, Urs Widmer oder Gertrud Leutenegger fand es eine für die schweizerische Gegenwartsliteratur produktive Aufnahme. Wiederentdeckt wurden vor allem Walsers epische Arbeiten, seine Erzählungen und Romane. An ihnen begann man das Vermögen des Autors zu schätzen, den kleinen Dingen, den scheinbaren Nebensächlichkeiten des Alltags, Bedeutsamkeit abzugewinnen. Walser lehrte das „Erstaunen vor dem Selbstverständlichen.“ (Hermann Hesse). Und es war der unverwechselbare Ton Walserschen Erzählens, der Bewunderung hervorrief, die anregende Spannung der Sprache zwischen fester Bindung des Wortes auf der einen, Lockerheit, Absichtslosigkeit und Naivität auf der anderen Seite. Daß sich diese beiden Seiten oftmals durchdringen, verleiht dem künstlerischen Stil Walsers etwas Unbestimmtes; rational kaum faßbare Eigentümlichkeiten machen viele seiner Texte zu romantischen Träumereien. Doch immer wieder finden sich in den gleichen Texten Momente, die davon künden, daß es Träume sind, die aus Angst geboren wurden. „Der Motor für Robert Walsers rastloses Schreiben“ – so hat Urs Widmer einmal vermerkt –

muß eine gewaltige Angst gewesen sein, seine Arbeiten sind sein Versuch, den manchmal bedrohlich nahen Furien für eine Weile zu entkommen, und sei es nur für die Zeitspanne des Schreibens. Robert Walser schrieb nicht von der heilen Welt, weil er glaubte; es gäbe sie, sondern weil er sich – in einer unheilvollen Welt lebend – nach ihr sehnte: Seine Idyllen sind so zitternd, weil sie in einem gelebten Konflikt mit der Wirklichkeit stehen. Walser ist ironisch, oft, aber seine Ironie ist todtraurig. Es ist nicht die arrogante Ironie derer, die sich im Besitz der Wahrheit glauben.

Diese Charakterisierung aus dem Nachdenken über Walsers Prosa gewonnen, trifft in gleichem Maße auf die Lyrik des Autors zu. Mit Gedichten war Walser zuerst an die Öffentlichkeit getreten, 1898 hatte der Berner Bund einige seiner frühsten Gedichte abgedruckt. Gedichte hat Walser bis zu seinem Verstummen als Künstler geschrieben. 1909 erschien eine Auswahl seiner frühen lyrischen Arbeiten in einer bibliophilen Ausgabe, versehen mit Illustrationen seines Bruders Karl Walser bei Cassirer. Aus diesem Band wurden die ersten fünf Gedichte unserer Auswahl entnommen, die anderen entstanden in den Jahren von 1925 bis 1930, gehören also zum Spätwerk Walsers.
Als Bürger wie als Künstler hat sich Robert Walser stets in einer Außenseiterposition befunden – sie führte ihn zu Ahnungen gefährdeter Menschlichkeit, zu Einsichten in Gesellschaftsprozesse, für die andere Autoren seiner und der nachfolgenden Generation größerer Erschütterung, der Erfahrung des Weltkrieges, bedurften.
Die Schweiz hat in diesen Jahren des Krieges von 1914 bis 1918 den Frieden für sich bewahren können; den geistigen Umbrüchen, die von dieser Menschheitskatastrophe ausgelöst wurden, hat auch sie sich nicht entziehen können.

Wir fühlten uns als Nation von außen durch Gefahr und von innen durch Uneinigkeit bedroht; Bangnis und Selbsterhaltungstrieb weckten die geistigen Potenzen und lenkten sie in einem vorerst gesunden Egoismus nationalen Aufgaben zu. Man kehrte die Kräfte nach ihnen und erkannte immer deutlicher, welche Berge da zu bewältigen waren

resümierte Robert Faesi rückblickend aus dem Jahre 1922 die Situation der Schweiz im europäischen Krieg. Ein Resultat einsetzender Selbstbesinnung war Leonhard Ragaz’ Buch Die neue Schweiz. Ein Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen. Ein Jahr später, 1918, erschienen Eduard Korrodis Schweizerische Literaturbriefe mit ihrer dringlichen Mahnung an die schreibenden Eidgenossen, endlich damit aufzuhören, sich immer und immer erneut auf Seldwyla als Ort und Stoff der Dichtung zurückzuziehen. Eine schweizerische Literatur sei nötig, die „auf die weiße Fläche der Zukunft ein schöpferisches Wort der Hoffnung und des Glaubens an eine Weltänderung“ mitschreibe.
Dieser Forderung hat sich die deutschsprachige Literatur der Schweiz – und in nicht unerheblichem Maße die Lyrik – an der Wende zu den zwanziger Jahren gestellt. Ein Jahrzehnt später konnte Nadler in seiner Literaturgeschichte der deutschsprachigen Schweiz nicht unberechtigt vermerken, daß die literarische Landschaft nach Korrodis mahnenden Worten eine andere geworden war. Unübersehbar war der Versuch, sich der Welt zu öffnen, Anschluß an die europäische Literaturentwicklung zu gewinnen. Einige Gedichtbände dieses Zeitraumes kündeten bereits mit ihren Titeln von diesem Aufbruch – Konrad Bänningers Weltgarten (1918), Max Geilingers Der Weg ins Weite (1919) oder Karl Stamms Aufbruch des Herzens (1919) beispielsweise. Zugleich offenbarten nicht wenige Gedichte dieser oder anderer Bände, daß sich der Aufbruch in die Weite der Gegenwart nicht aus dem Nichts heraus realisieren ließ. Man suchte nach festen Ausgangspunkten und fand sie zum einen in der Lyrikgeschichte des eigenen Landes, die, einer kritischen Durchsicht unterzogen, durchaus manches Bewahrenswerte zu offenbaren vermochte. Ganz diesem Ziel der Bestandsaufnahme verpflichtet war die 1921 im Insel-Verlag von Robert Faesi herausgegebene Gedichtsammlung Anthologia Helvetica, die zugleich die anregende Konfrontation zeitgenössischen Dichtens mit den bedeutenden Werken vergangener Literaturepochen in der Schweiz suchte.
Neben der kritischen Sichtung eigener Leistungen sollte jedoch in erster Linie die Beschäftigung mit der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt einer neuen schweizerischen Literatur werden. In der französischen Lyrik, mehr noch in der deutschen und österreichischen Dichtung suchte man nach Möglichkeiten eines den veränderten Zeiten angemessenen lyrischen Sprechens. George, Hofmannsthal, Rilke wurden intensiv rezipiert, und nicht immer gelang es den Rezipienten, im eigenen Schaffensprozeß mit den künstlerischen Vorbildern souverän umzugehen. Bisweilen hatte das derart in der Tradition der europäischen Moderne fundierte Gedicht schweizerischer Autoren „nicht viel mehr als epigonale Fertigkeit“ (Werner Weber) aufzuweisen. Daneben aber fanden sich immer wieder auch lyrische Arbeiten, in denen „weite stoff- und formgeschichtliche Erfahrungen nicht einfach glatt verwahrt; sondern unter dem Anspruch der Gegenwart auch neu belebt“ (Werner Weber) werden konnten. Derartige Gedichte von Rang finden sich bei Konrad Bänninger und Max Geilinger, bei Max Pulver, Albert Steffen und Robert Faesi. Sie finden sich besonders bei Karl Stamm und Siegfried Lang, dem sicherlich bemerkenswertesten Naturlyriker dieses Zeitraums in der Schweiz. Für nicht wenige Autoren gehörte zu den künstlerischen Erfahrungen in diesen Jahren die Begegnung mit dem deutschen literarischen Expressionismus. Einige Beispiele, wie schweizerische Lyriker die von dieser Bewegung ausgehende Sprachgewalt nachempfindend zu nutzen suchten, haben wir in Max Pulvers Gedicht „Aufruf“, in den sozialkritisch angelegten Dichtungen Leo von Meyenburgs, die mit ihrer Zuwendung zum Leben des Proletariats eine auffällige Ausnahme in der Schweizer Literatur jener Jahre darstellten, und in den Gedichten Karl Stamms, die, im Tonfall verhalten, durch ihre ausgewiesene Subjektivität zu überzeugen wissen. Ganz anders im Sprachstil das Gedicht Max Pulvers, radikal, mit Bildern des Aufruhrs, der Zertrümmerung des Alten. Auffällig dabei, daß diese Bilder weitgehend wohl deutscher Wirklichkeit entstammen. Auch die Expressivität der Sprache scheint mehr nachempfunden als wirklich gefühlt zu sein. Ganz sicher ist Pulvers „Aufruf“ kein typisches Beispiel für die schweizerische Literatur um 1920, denn den extremen Sprach- und Formversuchen des Expressionismus, wie sie hier anklingen, hat sich die Schweiz kaum geöffnet. Dafür fehlte einfach ein entsprechender gesellschaftspolitischer Nährboden im Lande. Expressionismus in der Schweiz, das war vor allem eine von außen inspirierte Erscheinung. Gleiches gilt für den Dadaismus, der zwar in Zürich seine Geburtsstunde erlebte, aber mehr von europäischen Emigranten als von Schweizern ans Licht der Welt gebracht wurde. Für die Literaturentwicklung in der Schweiz ist Dada ohne nennenswerte Konsequenzen geblieben.
Bilanzierend ließe sich sagen, daß die deutschsprachige Literatur der Schweiz nach dem ersten Weltkrieg in ihren Inhalten und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten Anschluß an die zeitgenössischen Tendenzen europäischer Literaturentwicklung gewonnen hatte. Eine „gesteigerte Energie des Denkens und Fühlens, erweiterte Erfahrung in Fragen der Form“ (Werner Weber) und ein ausgeprägteres Verantwortungsgefühl gegenüber den sozialen und politischen Belangen der bürgerlichen Gesellschaft waren wichtige Resultate des durch die weltgeschichtlichen Ereignisse ausgelösten Neuformierungsprozesses in der schweizerischen Literatur.
Der Prozeß der Öffnung geistiger Grenzen setzte sich in den beginnenden zwanziger Jahren fort. Der Gedanke, die Schweiz als Modell eines künftigen, friedvollen Zusammenlebens der Völker Europas zu sehen, war in dieser Zeit für viele Schweizer die Grundlage eines neuen Weltgefühls. Nicht wenige Schriftsteller leiteten daraus den verpflichtenden Auftrag für sich selbst ab, mit ihrer Literatur beizutragen, die Schweiz auf der Höhe der Zeit zu halten. So wandte man sich weiterhin mit Aufmerksamkeit der nationalen Wirklichkeit zu, brachte sie kritisch befragt ins literarische Werk. Es war eine Kritik, die zumindest bis Mitte der zwanziger Jahre getragen wurde von einem kaum gebrochenen Vertrauen in die Erneuerungskraft des Vaterlandes, eine Kritik, die auf Veränderung, nicht Überwindung zielte. Angesichts eines forciert aufsteigenden Imperialismus mußte sich diese Art literarisch-kritischen Herangehens an die gesellschaftliche Wirklichkeit zunehmend selbst in Frage stellen. Gegen Ende der zwanziger Jahre wird denn auch ein wachsendes Unbehagen bei vielen Autoren spürbar, vergleichbar dem, wie es bereits in Karl Stamms Gedicht „Rutschbahn“ um 1919 ahnungsweise anklang, wie es sich finden läßt in den Gedichten Hans Morgenthalers.
Morgenthaler war eine der außergewöhnlichsten Gestalten schweizerischer Literatur der zwanziger Jahre. Wie Robert Walser auch er ein Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft, wie Walser auch er erst in der Gegenwart als literarisches Talent eigentlich entdeckt. Seine Gedichte handeln vom Leben am Rande des Bürgerlichen, des Todes, ehrlich, rigoros in der Bereitschaft, subjektive Befindlichkeit mitzuteilen. Ein zwiespältiges Lebensgefühl spiegelt sich in ihnen; sie sind geprägt von der Spannung zwischen Ausgestoßensein und Sehnsucht nach der Normalität eines gutbürgerlichen Lebens. Jedoch ist da zugleich das Wissen um die Fragwürdigkeit eines derartigen Lebens, um seine lebensbehindernden Dimensionen. So bleibt dem Ich in Morgenthalers Gedichten nur das Herausstellen seiner Andersartigkeit; dadurch allein kann es sich Freiräume schaffen, in denen Leben noch möglich scheint. In diesem Sinne sind Hans Morgenthalers Gedichte Ausdruck eines Anschreibens gegen Erstarrung und Stagnation.
Weltbürgerliches Denken, wie es nach dem ersten Weltkrieg das Bewußtsein vieler Schweizer bestimmte, wurde mit dem Beginn der dreißiger Jahre rasch und nahezu vollständig zurückgenommen. An die Steile der Idee des Kosmopolitismus trat angesichts der nach dem Machtantritt des Faschismus in Italien und Deutschland wachsenden Gefahr für den Fortbestand der nationalen Eigenständigkeit der Schweiz eine intensive Besinnung auf das Eigene, auf die schweizerischen kulturellen Errungenschaften und Werte. So wurde die Zeit nach 1933 zu einer Periode umfassender kulturell-ästhetischer Emanzipation für die Schweiz, dies besonders für den deutschsprachigen Landesteil. Aber es war kein problemloser Selbstbehauptungsprozeß, es war eine „Emanzipation, die in Inzucht umschlagen konnte, zum Kult des einheimischen Gedankens und zu einer Kultur der Folklore“ (Hugo Loetscher). Diese Gefahr wurde heraufbeschworen durch die – besonders nach 1939 – gegebene Isolation des Landes, stärker aber noch durch die Absolutheit und Ausschließlichkeit, mit der man sich auf das Schweizerische zurückzog.
In der Lyrik dokumentierte sich dieser geistig kulturelle Rückzug unter anderem in einer auffälligen Hinwendung zum Mundartgedicht, wobei Autoren wie Rudolf von Tavel, Meinrad Lienert, Josef Reinhart oder Simon Gfeller es durchaus verstanden, die Unmittelbarkeit der Mundart als Ausdruck des Zeitgefühls zu nutzen. „Im Windschatten dieser bedeutungsvollen Autoren errangen aber“, – wie Dieter Fringeli bemerkte – „auch zahlreiche zweit- und drittrangige Poeten (unverdiente) Triumphe.“ Das diesen Gedichten eigene „Behagen im beschränkten Stoff- und Motivkreis von Heimatfeier und häuslichem Herd“, das „Wohlsein in alterprobten Vers- und Strophenmodellen“ (Werner Weber) brachte die gesamte Mundartlyrik der Schweiz für lange Zeit in Mißkredit. Erst in den letzten Jahren haben es einzelne Autoren vermocht, dem entgegenzuarbeiten. In Korrespondenz mit einer Entwicklung der Schweizer Gegenwartsliteratur hin zu größerer sozialer Verbindlichkeit kam es ab Ende der sechziger Jahre auch in der Mundartlyrik zu einem Neuansatz. Autoren wie der Liedermacher Mani Matter, Kurt Marti, Ernst Eggimann oder Ernst Burren nutzten in ihren Liedern und Gedichten die Alltagssprache ihrer Landsleute, um Kommunikation zu befördern. Dabei sind beachtenswerte Ergebnisse erreicht worden.
Als Dokument des Rückzugs aus gesellschaftlichen Verbindlichkeiten in private Lebensräume, als elegische Verweigerung, so ließe sich manches Gedicht charakterisieren, das in den dreißiger und vierziger Jahren in der Schweiz geschrieben worden ist. Gegen die Wirrnis der Zeit setzte die Lyrik ihre Bilder der Ruhe und Harmonie, ihre Bilder hoher Ideale und zeitloser Werte. Der Mensch in diesen Gedichten begegnet uns als Einsamer, als jemand, der Trost und Halt sucht in der inneren Welt seines Ichs, im Glauben an Höheres, häufig in der Bezugsetzung zur Natur mit ihren ewigen Schönheiten. Robert Faesis „Unterm Dach der Welt“ ist dafür ebenso ein Beispiel wie Max Geilingers „Entschluß“, ein Gedicht, das vielleicht die ganze Problematik verdeutlichen kann, die der Rückzug von einer „Weiten Sicht“ auf den eigenen „Rosengarten“ mit sich bringen konnte. Verlust an gesellschaftlicher Relevanz ist in diesem Fall geradeso spürbar wie eine weitgehende Reduktion ästhetischen Wertes.
Andere Gedichte dieses Zeitabschnittes, etwa diejenigen Hans Schumachers, Max Rychners oder Werner Zemps, unterliegen gleichfalls dieser Gefährdung, der allerdings durch das künstlerische Vermögen ihrer Autoren weitgehend begegnet worden ist. Der Rückgriff auf die Tradition, auf klassisches Maß und ein gesichertes Formenmaterial sichert diesen Gedichten ästhetischen Gehalt, die Ahnung eines unwiederbringlichen Verlustes bestimmt ihren Ton von Trauer und verhaltener Klage, der sie zu Dokumenten ihrer Zeit werden läßt.
Das Ringen um die Bewahrung einer Welt des Schönen und Harmonischen durchzieht auch das bedeutendste lyrische Werk der dreißiger Jahre, die Gedichte Albin Zollingers. In einer Zeit, die ihn als Schriftsteller – in seiner Prosa und Publizistik – und als Staatsbürger immer intensiver in die Politik führte, hielt Zollinger, wie in Gegenwehr fest an einer Konzeption von Lyrik, in welcher das unmittelbare politische Geschehen keinen Stellenwert besaß. In seinem lyrischen Gesamtwerk, von 1933 bis 1939 erschienen vier Gedichtbände, finden sich lediglich vier bis fünf Gedichte, in denen Zeitgeschichte direkt verarbeitet worden ist. So reagierte Zollinger auf den Überfall Italiens auf Abessinien mit einer lyrischen Warnung vor einem denkbaren Krieg auf dem europäischen Kontinent („Granatenplantage 1935“); dem faschistischen Deutschland hielt er nach dem Anschluß Österreichs sein „Lied von Morgarten“ entgegen. Ansonsten aber sah Albin Zollinger in der lyrischen Dichtung ein „autochthones Reich, menschlichen Erlebens“ (Richard Pietraß), aus dem alles herauszuhalten war, das keine tiefe „Verbindung mit dem Nährgrund des Unendlichen“ aufweisen konnte. „In Sommerstille, in Herbstdunst oder in abgerückten Räumen“ der Natur, im Erinnern eigener Kindheit oder in der Besinnung auf Geschichte abseits der großen Ereignisse erfährt das lyrische Ich seiner Gedichte „eine tiefe, alle Verkrampfung lösende Ruhe“ (Beatrice Albrecht), die es ihm erlaubt, erahnend hinter den äußeren Erscheinungsbildern eine „höhere Wirklichkeit“ der Dinge zu erfahren, sich einem „fernen Zuhause“ menschlichen Daseins, zu nähern. Somit fragen Zollingers Poesien immer nach einem tieferen Sinn allen Seins. Daß ihm dabei nicht an vorschnellen Antworten gelegen ist, widerspiegelt auch die Sprache seiner Gedichte, die Neigung zu ungewohnten Wendungen, ein oftmaliger Verzicht auf Anschaulichkeit zugunsten des Rätselhaften. Max Frischs Charakterisierung der Prosa Zollingers trifft durchaus auch die Lyrik:

ZolIingers eigentliche Art der Erfindung aber, unverwechselbar, seine Art von Verdichtung verlagert sich immer wieder ins Wort, das zum herrschenden und erregenden Ereignis wird, Visionen, die unerhört sind. Es sind Funde im Kleinen, Blumen in den Ritzen einer steinernen Alltäglichkeit, dann wieder sind es Visionen einer ganzen Erde, die mitten aus seinem Erzählten heraufschwebt, Ozeane, Gebirge, Wolken, Ländereien ihrer zerfransten Kontinente!

Albin Zollingers Lyrik markierte innerhalb der deutschsprachigen Schweizer Literatur nicht nur einen Höhepunkt, in vielen war sie auch ein Endpunkt. Diese Dichtung wurde getragen vom Glauben an die humanisierenden Kräfte ewiger kultureller Wahrheiten und Werte, sie kenntlich zu machen, sie in steter Erneuerung zu bewahren, war Zollingers Anliegen. Daß diese Werte in der Barbarei des Krieges, in „Schrei und Rauch und Sümpfe Gas / Und langen Fall der Kathedralen“ untergehen könnten, hat Zollinger geahnt. Sein Gedicht „Europäische Dämmerung“ ist dafür beredtes Zeugnis. Und Zollinger verstand, was dieser Untergang für, ihn persönlich bedeuten würde; in einem Brief an seine zweite Frau lesen wir:

Auch wenn wir nicht in den Krieg hinein kämen, scheint die Welt jetzt ganz anders, die Luft für Menschen meiner Art nicht mehr atembar zu werden.

Es gehört zu den entscheidenden Voraussetzungen des künstlerischen Werdegangs von Max Frisch – auch von Friedrich Dürrenmatt, der sich jedoch stärker in Auseinandersetzung mit dem Religionsbegriff der Problematik näherte −, diese Ahnungen Zollingers vom Ende einer Kultur, von ihrer generellen Infragestellung durch Krieg und faschistische Unmenschlichkeit, mit Konsequenz weiterverfolgt zu haben. 1948 notiert Frisch im Tagebuch:

Der Begriff der Kultur – (eine der großen, dringenden Fragen, die mich immer wieder beschäftigt, obschon sie meine Denkkraft immer sehr bald übersteigt) – Kultur, Kunst, Politik… Zu den entscheidenden Erfahrungen, die unsere Generation, geboren in diesem Jahrhundert, aber erzogen noch im Geiste des vorigen, besonders während des zweiten Weltkrieges hat machen können, gehört wohl die, daß Menschen, die voll sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person… Es ist eine Geistesart, die das Höchste denken kann… und die das Niederste nicht verhindert, eine Kultur die sich strengstens über die Forderung des Tages, erhebt, ganz und gar der Ewigkeit zu Diensten.

Die Lösung, die Frisch sieht und der er sich in den Folgejahren mit seinem Werk verpflichtet hat, deutet sich an: Hinwendung der Kunst, der Literatur, zu den Forderungen des Tages, Entwicklung einer politischen Kultur.
Von derartigen Überlegungen und Einsichten, wie wir sie bei Frisch finden, war das Selbstverständnis der Mehrheit schweizerischer Autoren nach 1945 kaum bestimmt. Allgemein sah man die Schweiz als Sonderfall europäischer Geschichte und Gegenwart, als Hort bürgerlicher Traditionen und Errungenschaften, und nicht wenig Anstrengung richtete man darauf, diese Werte dem übrigen Europa zu bewahren, bis der Kontinent aus Chaos und Zerstörung emporsteigen und sich dieser als lebensnotwendiger Voraussetzung wieder erinnern würde. So findet sich nach 1945 in der deutschsprachigen Schweiz eine fast ungebrochene Fortschreibung der Kunstauffassung, wie sie bereits in den dreißiger und beginnenden vierziger Jahren die Literatur des Landes prägte.
Früher jedoch als die Prosa, wo tiefgreifende Wandlungen erst in den sechziger Jahren einsetzten, reagierte die Lyrik auf die Veränderungen der Zeit. Bereits an der Wende zu den fünfziger Jahren fanden sich in diesem oder jenem Gedicht Zeichen der Veränderung, die sich kundtaten als Zweifel am Überlieferten. Suspekt wurde das grenzenlose Vertrauen in die Sicherheit traditioneller Formen des Gedichts.
Einer der Autoren, dessen lyrisches Werk den Zwiespalt zwischen Altem und Neuem in sich trägt: war Alexander Xaver Gwerder. Elsbeth Pulver schrieb über ihn:

Wenn je ein Autor, so hat Gwerder das „Unbehagen im Kleinstaat“, die „Engnis der Enge“ erlebt… Gerade aus der Erfahrung seiner „Gefangenschaft“ heraus hat er sich mit oft sinnloser Heftigkeit aufgelehnt. Man könnte ihn den ersten deutschschweizerischen Autor mit einem radikalen gesellschaftskritischen Engagement nennen… Die volle Entfaltung seiner lyrischen Fähigkeiten hat Gwerder sicher nicht finden können. Aber im Rahmen der damaligen Lyrik sticht schon sein schmales Bändchen Blauer Eisenhut (1951), das einzige, was von ihm zu seinen Lebzeiten in Buchform allgemein zugänglich war, durch sein „rauschhaftes Assoziieren“ heraus; von Anfang an ist eine Kraft wirksam, die das damals geltende schöne Maß zu zersprengen suchte… Was auffällt – als völlig ungewöhnlich in der damaligen, Lyrik −, ist die Spannweite seiner Themen und Formen; sie mußte ihn fast zersprengen. Da ist eine intensive, glühende Naturerfahrung und daneben eine für seine Zeit unerhörte Kühnheit, die Gegenwart nicht nur ins Gedicht hineinzunehmen, sondern darin auch zu bekämpfen.

Diesen Schritt gingen am Anfang der fünfziger Jahre nicht viele Autoren, aber auch bei anderen findet sich das Moment der Neuorientierung zwischen Altem und Neuem. Für die Lyriker der Vorkriegsgeneration wie Schumacher, Zemp oder Brenner war dies nicht selten ein schmerzhafter Prozeß; er war es in einem annähernd gleichen Maße wohl auch für die nachfolgende Generation, die, aufgewachsen mit einer bisher unangefochtenen Tradition und geprägt durch klassische Vorbilder, nunmehr in einer veränderten Gegenwart mit eigenen Gedichten an die Öffentlichkeit trat. Bewahrung und Wandlung prägen die Texte von Silja Walter und Walter G. Bischof, sie finden sich aufs eindringlichste im lyrischen Werk Erika Burkarts, das mit zum Besten gehört, was nach 1945 in der deutschsprachigen Literatur der Schweiz geschrieben worden ist.
Eine auffällige Konstanz in der Thematik charakterisiert Erika Burkarts Lyrik: die Selbstbegegnung des Menschen in der Natur als Lebens-, als Erlebensraum. Begonnen hatte die Autorin in den fünfziger Jahren mit Gedichten, die, in der Tradition deutscher Naturlyrik (Droste-Hülshoff, Lehmann, Loerke) stehend, noch ganz verwurzelt waren „im gesicherten Weltgefühl einer tragenden Naturinnigkeit und einer tragfähigen Sprache“ (F. Vogt-Baumann:). Dieses Weltgefühl war nicht zu bewahren. So offenbarten schon die Gedichte, die die Autorin wenige Jahre später vorlegte, den Beginn eines sich fortsetzenden. Prozesses des Verlustes gesicherter Werte. Eine ursprünglich, existente, glückhafte Identität von Ich und Natur, von Ich und Du, von Ich und Welt geht verloren, Disharmonien stellen sich ein, Zweifel an den Erfahrungsmöglichkeiten verbinden sich mit der Skepsis, Erfahrenes, Erlebtes mit Sprache benennen zu können. Immer größere Bedeutung gewinnt seit diesen Jahren das Andere, das Unsagbare, das Hinter-den-Dingen-Befindliche. Ihm nachfragend, sucht die Autorin nach dem tieferen Sinn menschlichen Daseins, nach seinen tragenden Werten, nach Werten, die sich einer Welt entgegenstellen lassen, die geprägt ist von „Erschöpfung, Entfremdung, Verletzung“. Sich dem Unsagbaren zu nähern – Erika Burkart versucht es, indem sie, nicht selten gegen den Hang zum Schweigen anschreibend, Märchenhaftes, Traumhaftes, Irrationales in ihre Gedichte einbezieht, indem sie Assoziationen ungewöhnlichster und oftmals schwer zu entschlüsselnder Art herstellt. Mitunter gelingen ihr dadurch lyrische Gebilde mythischer Dimension.
Totale Sprengung gewohnter Formen und rigoroser Bruch mit einem Verständnis, das Lyrik als Ausdruck des Subjekts faßt, das waren Ansätze, die Eugen Gomringer seinen 1953 erscheinenden konstellationen zugrunde legte. Mit ihnen und sie begleitenden theoretischen Aufsätzen (z.B. „vom vers zur konstellation“, 1954) wurde Gomringer zum Mitbegründer einer literarischen Strömung, die sich als „konkrete poesie“ in verschiedenen Ländern Westeuropas finden läßt und die in den sechziger Jahren in der BRD zu einer dominierenden literarischen Erscheinung avancierte. Anknüpfend an literarische Vorbilder wie Mallarmé, Apollinaire, Arno Holz oder die visuelle Dichtung des Dadaismus, ging es Gomringer vor allem um das Visualisieren von Sprache, um eine Freisetzung des Wortes.

das wort: es ist eine größe. es ist – wo immer es fällt und geschrieben wird. es ist weder gut noch böse, weder wahr noch falsch. es besteht aus lauten, aus buchstaben, von denen einzelne einen individuellen markanten ausdruck besitzen. es eignet dem wort die schönheit des materials und die abenteuerlichkeit des zeichens.

Dieser selbstgesetzten Konzeption entsprechend findet sich in Gomringers konstellationen („eine gruppe von worten – wie sie eine gruppe von sternen umfaßt und zum sternbild wird“ – so die Beschreibung Gomringers) der einzelne sprachliche Ausdruck. Dem Wort gilt alle Aufmerksamkeit. Damit einher geht ein bewußt geleisteter Verzicht auf jegliche soziale Problernstellung im künstlerischen Werk. Probleme, so der Autor, seien im Leben zu lösen, notfalls in entsprechender Fachliteratur zu verhandeln. Aufgrund dieser Zurückhaltung der konkreten Poesie jegliche gesellschaftliche Verbindlichkeit abzsprechen, wäre jedoch verfehlt. Zumindest dort muß soziales Engagement konstatiert werden, wo sich das visuelle Gedicht als Beitrag zur Bewußtmachung ästhetischer und sprachlicher Werte, als Beitrag zur Umweltgestaltung definiert und artikuliert.
Eugen Gomringer hat in der deutschsprachigen Schweiz „keine eigentliche ,Schule‘ der konkreten Poesie“ (Elsbeth Pulver) begründen können – die allgemein feststellbare Zurückhaltung Schweizer Autoren gegenüber dem künstlerischen Extrem dominierte auch in diesem Fall. Dennoch ist diese Art von Poesie nicht ohne Bedeutung für die Lyrikentwicklung im Land geblieben. Produktive Aufnahme erfuhr die in konkreter Dichtung geäußerte Sensibilität für das sprachliche Material und der Gedanke, geformte Sprache als Mittel zur Umweltgestaltung (was ja auch in einem weiten, Sinne interpretierbar ist) einzusetzen. So finden sich in der Folgezeit bei einer Reihe von Autoren Elemente lyrischen Sprechens, die an Gomringers Dichtungen erinnern.
Das ist beispielsweise der Fall bei Kurt Marti, für den die von der konkreten-Poesie, praktizierte „Loslösung des Wortes aus verfälschenden Zusammenhängen“ (Elsbeth Pulver) ein anregendes Moment auf dem Weg in die Literatur war. Als protestantischer Pfarrer in seiner beruflichen Tätigkeit an eine durch die Kirche vorgeprägte Sprache gebunden, nutzt Marti die Lyrik als Möglichkeit des Gesprächs und Selbstgesprächs über den Rahmen seiner Predigten hinaus. Das Gedicht ist ihm, wie er selber sagt, „arbeitende Meditation, meditierende Artikulation“. Dabei ist ihm christliches Engagement stets auch politisches Engagement, seine lyrischen Äußerungen verraten den aufmerksamen und kritischen Zeitgenossen, der mit einer herbem, mitunter zum Lakonismus neigenden Sprache Befindlichkeiten des heutigen Menschen ins Bild zu setzen sucht. Aus seinen mit lyrischen Formen und Sprache spielerisch umgehenden Texten spricht nicht selten das Unbehagen eines Christen in einer Welt, die sich selbst christlich zu geben sucht, aber nicht über die Unmenschlichkeit von Profitstreben und Besitzdenken hinwegzutäuschen vermag. Martis Unbehagen führt ihn folgerichtig zu einer Haltung des Aufbegehrens gegen die Besitzenden, läßt ihn zum Mahner werden, diese Welt nicht in falsche Hände zu geben, damit nicht wir einst „die apokalypse unserer selbst“ werden.
Auf Beziehungen zur konkreten Poesie verweisen ebenfalls die Texte Peter Lehners und Dieter Fringelis, in denen sich ein – auch bei anderen Autoren beobachtbarer – Abbau von Redseligkeit mit der Neigung verbindet, das Wort beim Wort zu nehmen. Anders als konkrete Dichtung leisten Lehner und Fringeli dies mit einer klaren politischen Zielstellung. Ihnen geht es darum, „den geflügelten worten die federn (zu) stutzen“. So verbindet sich in ihren Arbeiten das Spiel mit überlieferten lyrischen Mustern und das Spiel mit Sprache derart, daß sie zu einem Ort werden, „wo Redensartliches buchstäblich genommen, in überraschendem Kontext gewitzt ausmanövriert und für weitere unbedachte Verwendung unbrauchbar gemacht wird“ (Werner Weber).
Ohne Zweifel ordnet sich diese lyrische Konzeption – von einer kritischen Befragung alltäglich gebrauchter Sprache zur Anmeldung von Zweifeln an gesellschaftlichen Seins-Zuständen zu gelangen – einem Anliegen zu, das seit zweieinhalb Jahrzehnten bei nahezu allen Lyrikern der deutschsprachigen Schweiz zu bemerken ist: dem Anliegen, einen weiten Kreis von Lesern anzusprechen, dem Gedicht einen Gebrauchswert zu verleihen. Wen man dabei als Kommunikationspartner zu gewinnen sucht, wird deutlich durch den auffälligen Einzug von „Alltäglichkeit“ ins Gedicht. Walter Gross hat am Beginn der sechziger Jahre dieses neuentstehende Anliegen der Lyrik einmal mit folgenden Worten umrissen:

Von mir sind keine Manifeste zu erwarten (…) Sie sind in genügender Zahl vorhanden. Es ist Zeit, sie zu erfüllen mit dem, was man schreibt, sie im Geschriebenen zu verstecken. Anklage und Trost sind zwischen den Zeilen stark. Nicht anderswo (…) ich bin achtunddreißig Jahre alt und kann, wo ich auch Unheil und Unrecht miterlebe (…) nicht gelassen bleiben. Auch das Älterwerden hilft offenbar wenig. Sohn eines Arbeiters, eines Kesselschmieds, möchte ich immer so schreiben, daß mein Vater mich versteht und jeder, den ich mit dem Werkzeug in der Hand antreffe.

Von ähnlicher Haltung künden in der Gegenwart die lyrischen Auskünfte einer ganzen Reihe schweizerischer Autoren; sie begegnet einem bei Marti, Lehner und Fringeli, bei Hans Werthmüller und Gerhard Meier, bei Rainer Brambach, Beat Brechbühl, bei Jörg Steiner oder Frank Geerk.
So unternimmt Gerhard Meier beispielsweise in seinen Gedichten den (gelungenen) Versuch, die Welt seines Heimatdorfes Niederbipp; der er seit seiner Kindheit verbunden ist, wo er jahrzehntelang als Arbeiter, später als Angestellter tätig war, in stillen, nuancenreichen Bildern festzuhalten. Das Dorf als Lebensraum wird ihm zu einem welthaltigen Ort, auch zu einem gefährdeten Raum, ist ihm „Umgebung vieler Versuche, tapfer zu sein“. Meier geht es nicht um Spektakuläres, auch nicht um eine Verklärung des Landlebens in wirklichkeitsfremde IdylIe. Ihn interessieren die angeblichen Randerscheinungen, ihn beschäftigt das anscheinend Unscheinbare. Im gemeinhin Unveränderlichen zeigt er den Wechsel und die Wandelbarkeit, in den Nebensächlichkeiten findet er Bedeutsames.
Mit Beat Brechbühl, der nach einer Lehre und Tätigkeit als Schriftsetzer Anfang der sechziger Jahre seine ersten Gedichtbände dem Leser vorlegte und heute auf ein überaus umfangreiches lyrisches Werk verweisen kann, haben wir unbestreitbar einen der talentiertesten Lyriker deutschsprachiger Gegenwartsliteratur vor uns. Auffällig an seinen Texten: die Vorliebe für das nichtlakonische Gedicht. Brechbühls Gedichte tendieren zur Fülle, eine variationsreiche Rhetorik zeichnet sie aus. Mit einem Vielfältigen, schillernden Vokabular wird, teilweise spielerisch, Wirklichkeit in ihren Gegensätzlichkeiten ins lyrische Kunstwerk geholt. Es sind die großen Fragen menschlichen Lebens, denen der Autor nachgeht. Seine Antworten sucht er nicht selten im Alltäglichen, in den Details gewohnter Umgebung, und er sucht sie in der Konfrontation von Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Der Alltag als konstituierendes Element von Geschichte – mit Deutlichkeit prägt diese Konzeption die überaus gelungenen Texte des 1968 erschienenen Bandes Die Bilder und ich, sie bestimmt zugleich auch andere Gedichte Beat Brechbühls und ist ein wesentlicher Grund ihrer Qualität.
Ebenfalls proletarischer Herkunft – und von dieser als Schriftsteller durchaus geprägt – ist Rainer Brambach, der sich nahezu mit Ausschließlichkeit der Lyrik bedient hat, um seinem künstlerischen Anliegen Ausdruck zu verleihen. Auch in Brambachs Gedichten dominiert der Alltag. Es ist der Alltag eines lyrischen Ichs, das mit Sorgsamkeit Erscheinungen seiner Umwelt registriert, Zwischenmenschliches bedenkt und Bedachtes und Registriertes in einer nüchternen, gelassenen, nicht selten humorvollen, mitunter aber auch von Sorge getragenen Sprache mitteilt. Rainer Brambach als Naturlyriker zu charakterisieren; das wäre sicher nicht legitim. Dennoch verdienen die in vielen seiner Texte enthaltenen Naturbilder eine besondere Erwähnung, denn der Autor sieht Natur „keineswegs im Zustand ästhetischer Verzauberung, sie ist ihm nicht einfach lyrischer Gegenstand, gar Metapher – er sieht sie realistischer mehr aus der Nähe, ein Arbeitsgebiet, das man mit Händen anrührt und nicht nur als Betrachter kennt“ (Elsbeth Pulver). So gelingt es ihm, einem eigentlich „klassischen“ Themenbereich deutschsprachiger Lyrik neue Seiten abzugewinnen, vielleicht auch neue Wege zu öffnen für die Beschäftigung mit dem Gegenstand „Natur“.
In den letzten Schaffensjahren sind in Brambachs Gedichten immer häufiger Gedanken der Sorge, der Angst eingeflossen. Lyrische Bilder finden sich, die nicht allein aus persönlichen Lebensumständen erklärt werden sollten, sondern gewertet werden dürfen als Reaktion eines Künstlers auf die wachsende Gefährdung allen Lebens in unseren Tagen. Mit seiner Sorge, seinen Ängsten stand und steht Rainer Brambach nicht allein, sein Zeitgefühl und die Bereitschaft, Verantwortung für das Leben zu übernehmen, teilt er mit vielen anderen Schriftstellern seiner Generation, mit jüngeren und älteren Autoren, mit Kurt Marti, Peter Lehner, mit Walter Vogt oder auch mit dem 1908 geborenen Albert Ehrismann, der mit einem sehr umfangreichen und beachtenswerten Werk die Geschichte der deutschsprachigen Lyrik der Schweiz im 20. Jahrhundert mitgeschrieben hat. In den dreißiger Jahren, als eine Vielzahl schweizerischer Dichter den Weg ins Private antrat, bekannte Ehrismann sich mit seinen ersten Lyrikbänden, mit Sprechchören und Stücken für Arbeitertheater zu einer sozialen Verbindlichkeit der Literatur. Deutlich sein Plädoyer für eine Einbeziehung der Politik in die Poesie. An „Welt- und Menschenbezogenheit“ war ihm gelegen, davon künden seine Texte bis in die Gegenwart – heute im Tonfall mitunter härter als in den Jahrzehnten vorher, stärker einem prosaischen Sprechen zugewandt, dringlicher in den Fragen. Nicht zu überhören sind die Töne des Pessimismus, nicht zu übersehen die Zweifel am Fortbestand menschlichen Lebens auf unserem Planeten. Nicht zu übersehen aber auch das Dennoch, das Sichklammern an das Prinzip Hoffnung. Daß der Hoffnung wieder ein Boden wird, auf dem sie wachsen kann, dafür schreibt Ehrismann seine Gedichte, dafür schreiben all die andern Autoren seines Landes, wissend, daß Hoffnung vor allem dort wächst, wo man miteinander redet. Ihre Gedichte sind Angebote zum Dialog.

Klaus-Dieter Schult, April 1987, Vorwort

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