Leonard Cohen: Buch der Sehnsüchte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Leonard Cohen: Buch der Sehnsüchte

Cohen/Cohen-Buch der Sehnsüchte

ZUTRAUEN

Das Meer, so tief versenkt,
Die Sonne, durchgedrehte Sühne,
Der Stab, das Rad, das Hirn
O Liebe, bist du noch nicht müde?

Das Blut, die Erde, das Vertrauen,
Die tiefen Worte von Gertrude,
Dein Schwur, deine heiligen Auen
O Liebe, bist du noch nicht müde?

Ein roter Stern, ein Minarett,
Ein Kreuz auf jedem Hügel,
Für alle ein Grab oder ein Bett
O Liebe, bist du noch nicht müde?

Das Meer, sichtlos und trübe,
Wo immer noch die Sonne versickert
Und die Zeit sich auswickelt
O Liebe, bist du noch nicht müde?

Übersetzung: Ann Cotten

 

 

 

Das Buch

Das Buch der Sehnsüchte entstand größtenteils während eines fünfjährigen Aufenthalts von Leonard Cohen in einem zen-buddhistischen Kloster auf dem Mount Baldy im Süden Kaliforniens. Dort wurde er 1996 unter dem ironischen Namen Jikan – der Stille – zum Mönch ernannt. Die erstmals auf Deutsch veröffentlichte Sammlung von Gedichten, Epigrammen, Zen-Sprüchen, Songs und Essays wird ergänzt durch Zeichnungen und handschriftliche Texte eines der größten Singer/Songwriter der Gegenwart.

Blumenbar Verlag, Klappentext 2008

 

Ich stehe immer noch drauf

– Leonard Cohen bedichtet das Frauenheldentum. –

Schuster, bleib bei deinem Leisten? Dieser bauernschlaue Einwand erübrigt sich von vornherein, schließlich begann der Sänger Leonard Cohen seine künstlerische Karriere 1956 mit einem Gedichtband, bevor er – weitaus erfolgreicher – zur Gitarre griff. Erst elf Jahre später erschien sein inzwischen legendäres Debütalbum Songs Of Leonard Cohen. Zudem liegen seit je Lyrik und Lyrics dicht beieinander. Jetzt ist Cohen als Autor zurückgekehrt: Das Buch der Sehnsüchte knüpft direkt an seine Sammlung von Poemen namens Book Of Mercy an, die Mitte der Achtziger erschien. Im Zentrum steht die Sehnsucht in ihrer ambivalentesten Form: als Verlangen nach Erleuchtung und Erlösung, nach Frauen und Zigaretten, wobei die spirituellen Wünsche oft durch irdische Genüsse erfüllt werden:

das Versprechen, die Schönheit,
die Möglichkeit der Errettung,
die von Zigaretten ausgeht

Ein Loblied des Tabakkonsums, lakonisch vorgetragen von einem ironischen Schwerenöter, der die meisten Texte dieses Bandes während eines fünfjährigen Aufenthalts in einem zenbuddhistischen Kloster auf dem Mount Baldy im Süden Kaliforniens verfasste. Während jener inneren Einkehr veruntreute seine Managerin sein Vermögen, weswegen der Eremit derzeit wieder auf Konzerttournee geht, übrigens als geläuterter Nichtraucher.
Im Kloster, unter der Anleitung seines Lehrers Roshi, erhielt Cohen im Zuge seiner Mönch-Werdung den Namen Jikan, der Stille, den er sogleich seinem lyrischen Ich verleiht, wenn er es nicht beim bürgerlichen Vornamen nennt. Diese Aufspaltung der Persönlichkeit dient jedoch nicht etwa einer scharfen Abgrenzung von geistlichen und weltlichen Daseinsformen; jene gehen vielmehr ineinander über, sind nicht ohne das jeweils andere zu denken, kennzeichnen den zweifelnden Gottsucher wie den glaubensstarken Hedonisten, der mit dem nächtlichen Anlegen des traditionellen Mönchsgewands, nicht ohne Stolz, seine jäh erwachende Manneskraft verdeckt und bekennt, als „nutzloser Mönch“ in spirituellen Dingen unbegabt zu sein. Selbstredend kann der „Ladies’ Man“, der seine Reputation als Frauenheld für einen Witz hält, nicht vom weiblichen Geschlecht lassen, obwohl er zwischenzeitlich dachte, „über all diesen Dingen“ zu stehen; das Verlangen meldet sich jedoch unwiderstehlich zurück, zu stark für einen Mann, der in einem seiner Lieder bekannte, dass gegen die Liebe kein Kraut gewachsen sei. „Ich bin alt, aber ich stehe immer noch drauf“ heißt es in dem süßlich betitelten „Tausend Küsse Tief“, das unglücklicherweise im Refrain metaphorisch dem Kitsch allzu nahe kommt:

Du kamst meiner Liebe entgegen
Wie eine Lilie dem Licht

Kein Wunder, dass es diese Zeilen nicht in Cohens gleichnamigen Song „A Thousand Kisses Deep“ vom Album Ten New Songs schafften. Immerhin behauptet er selbst nicht – aber wer würde das schon freimütig tun? –, ein großer Poet zu sein, obgleich sich seine Bescheidenheit als altersweises Augenzwinkern deuten lässt. Denn unter den Tausenden bekannter Dichter seien nur ein oder zwei echt. Der Rest bestehe aus Blendern, die sich in den heiligen Hallen herumtrieben und heuchelten, dazuzugehören:

Ich bin, versteht sich, einer
von den Blendern, und
dies ist meine Geschichte.

Aber ist der genügsame Eleve, den seine Anspruchslosigkeit von den Uneinsichtigen abhebt, tatsächlich frei von Hochmut? Dient diese Pose nicht darüber hinaus dem Schutz vor Kritik, da sich die Poesie des 1934 geborenen Kanadiers auf alles beziehe, was schön und würdevoll sei, „aber / selbst keines von beiden ist“?
Das Buch der Sehnsüchte versammelt neben Gedichten, die bis in die siebziger Jahre zurückreichen, Epigramme, Zen-Sprüche, Song-Skizzen und Kurzprosa. Sie werden begleitet von handschriftlichen Texten und Zeichnungen Cohens, die zumeist linkische, spöttische Selbstporträts zeigen oder beispielsweise den zerbrochenen Füller von Jikan, der – schon wieder – „vorgab, ein Dichter zu sein“: ein simples Bild, das die zuvor mehrfach geäußerten Selbstzweifel illustriert. Doch Cohen schrieb weiter. Zum Glück! Denn seinem Wankelmut verdanken wir immerhin einige zärtliche und zornige Verse über Liebe und Sex, über seine Zuneigung zu „G-tt“, der wie der Teufel eine Lücke lässt, zu Frankreich und zur stets lockenden Attraktivität der Frauen. Ganz nebenbei gewährt Cohen einen zwiespältigen Einblick in das beharrliche, altersresistente Aufflammen des Verlangens, in die Zerrissenheit eines Menschen, der Askese und Einsamkeit sucht, nur um zu erkennen, wie übermächtig es in ihm lodert und brennt. Nicht zuletzt wird hier Cohens Schreibprozess transparent, schimmert in ungewöhnlichen Formulierungen die Kunst seines melancholischen und doch so heiteren Songwritings durch, unter anderem von dem Pop-Musiker Jens Friebe leichthändig und meist rhythmisch treffend ins Deutsche übertragen. Die melodiöse Qualität von Cohens literarischen Texten wurde indes längst vom Prinzipal der amerikanischen Minimal Music geadelt. Philipp Glass veröffentlichte im vergangenen Jahr nämlich das Doppelalbum Book of Longing. A Song Cycle Based on the Poetry and Images by Leonard Cohen. Ob man auf ein neues Album des stoischen Meisters der leisen erotischen Töne selbst noch eine Weile sehnlich warten muss? Zumindest kann man in der Zwischenzeit von ihm lernen, wie man seine Affekte, die quälende Ungeduld, unter Kontrolle bringt – und immer wieder allzu menschlich daran scheitert.

Alexander Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.10.2008

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

André Schwarz: Der Zauber des Hedonismus
literaturkritik.de, Februar 2010

 

So long, Leonard

– Seine melancholischen, warm-düsteren Songs prägten Generationen. In Montreal, wo er geboren wurde, scheint er vier Jahre nach seinem Tod präsenter als je zuvor: Eine Erinnerung an meinen Nachbarn Leonard Cohen. –

Als ich Leonard Cohen zum ersten Mal traf, wusste ich nicht, dass er es ist. Ich wusste nicht, wie er aussah, ich kannte nur seine Stimme. Ich hörte seine Musik sehr oft im Gebäude der Studentenvereinigung der McGill University in Montreal spielen, die Lieder, die ihn als Poeten unter den Singer-Songwritern berühmt gemacht hatten – „So long, Marianne“ und „Bird on a wire“, „Seems so long ago, Nancy“ und „Suzanne“, allesamt eindringliche Oden an Liebe, Schmerz, Einsamkeit und Sehnsucht, die die Phantasie zahlloser Menschen anregten. Cohens Songs hatten etwas zutiefst Berührendes und gleichzeitig Beunruhigendes. Wer sie hörte, verfiel sofort in eine nachdenkliche Stimmung und entwickelte eine leise, dann immer bohrendere Sehnsucht nach einem Leben, das noch keine Form angenommen hatte, aber im Nebel seiner hallenden Stimme erkennbar wurde.
In diesen Tagen arbeitete ich abends immer bei Metropolitan News, einem Zeitschriftenladen an der Ecke von Peel Street und St. Catherine Street. Es war der einzige Ort in der Stadt, an dem man Zeitschriften oder Zeitungen aus allen Teilen der Welt finden konnte. Ich erinnere mich, dass ein gut gekleideter Herr hereinkam, um ein Exemplar der New York Times zu kaufen. Er sah sehr vornehm aus und sprach elegant über etwas, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Nachdem er gegangen war, sah mich meine ältere und aufgeklärtere Mitarbeiterin, die neben mir an der Theke arbeitete, fragend und leicht enttäuscht an und sagte dann nach einer Pause, von der man nicht wusste, ob sie der Empörung oder dem Unglauben geschuldet war:

Du weißt nicht, wer das war, oder? Das war Leonard Cohen! Du solltest dich geehrt fühlen!

Ich fühlte mich geehrt. Aber das nächste Mal traf ich ihn erst viel später wieder, nicht in der Stadt Montreal, die uns verband, sondern in Los Angeles. Dort führte Cohen Mitte der neunziger Jahre das Leben eines buddhistischen Mönchs auf dem Mount Baldy. Als ich die Gelegenheit hatte, ihn für die Veröffentlichung seines Albums Ten New Songs zu interviewen, trafen wir uns, und ich fragte ihn, welche Art von Weisheit er an der Seite seines Zen-Meisters Roshi suchte. Cohen antwortete:

Ich habe versucht zu lernen, wie man durch den Tag kommt.

Nachdem Cohen einen Großteil seines Lebens unter starken Depressionen gelitten hatte, fand er während seines Aufenthalts im Kloster Ruhe, so dass er „nach dem Aufziehen der Wolken“ wieder vom Berg herunterkommen konnte. Sechs Jahre nach unserem Treffen sahen wir uns in Montreal wieder. Ich hatte eine Wohnung in Montreal gemietet, die nur wenige Blocks von Cohens bescheidenem Greystone-Haus im Mile End lag. Wie Cohen war ich in Montreal aufgewachsen, und es war ein reiner Zufall, der mich dazu brachte, sein Nachbar zu werden.
Cohen war berühmt für seine Spaziergänge entlang des Boulevard St. Laurent, der Hauptstraße, die parallel zu St. Dominique verlief, einer engen Seitenstraße, die an meinem postmodernen Loft vorbeiführte und an seinem sehr einfachen, schmucklosen Haus, das er 1973 gekauft hatte. Dort lebte er jedes Jahr mehrere Monate, wenn er nicht auf Tour war oder Zeit in seinem Haus in Los Angeles verbrachte, das er sich mit seinen Kindern Lorca und Adam teilte.
So war es vielleicht unvermeidlich, dass ich ihn eines Tages wiedertraf. Zu meiner Überraschung erinnerte er sich an mich oder tat zumindest so. Er war in vielerlei Hinsicht ein Gentleman der alten Schule, freundlich, respektvoll und auf eine Weise schuldbewusst; an diesem kühlen Oktobernachmittag war er wahrscheinlich auf dem Weg zu Moishes Steakhaus – einem Restaurant, das vom gebildeten Bürgertum der Stadt frequentiert wird und insbesondere in der jüdischen Gemeinde von Montreal beliebt ist. Vielleicht wollte er auch zu Schwartz’s, dem sagenumwobenen Montreal Diner, das, wie wir in Montreal finden, die besten Sandwiches der Welt serviert. „Hallo Sir“, winkte ich ehrerbietig. „Hallo“, antwortete er und hob seinen Fedora-Hut. Seine Stimme war einladend und warm. Jeder war von seiner samtigen Stimme beeindruckt, die im Laufe der Jahre von den „mehreren zigtausend Zigaretten“ vertieft wurde, wie er gern scherzte, die er seit seiner Jugend geraucht hatte. Seine Stimme fügte den Worten, die oft eine orakelhafte Qualität hatten, eine Schwere hinzu. Cohen sprach in einem anmutigen und hypnotischen Bariton, der selbst gewöhnlichen Beobachtungen zusätzliche Autorität und Bedeutung verlieh. Es gab eine Weisheit in seinem Denken, eine Weltanschauung, die durch das Studium biblischer und jüdischer Texte verfeinert und dann durch die buddhistischen Prinzipien gefiltert wurde. „Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas kontrollieren“, sagte Cohen einmal, als wir sprachen.

Wenn ich auf mein eigenes Leben zurückblicke, kann ich nur sagen, dass ich nie eine Richtung gewählt habe, die ich eingeschlagen habe. Selbst wenn es Entscheidungen gab – in Wirklichkeit wurden mir diese Entscheidungen vorgeschlagen.

Sosehr er auch an der grimmigeren Realität der Welt verzweifelt sein mag, so sehr war er dem Leben zugewandt. Er wirkte immer wie jemand, der nur kurz da ist und bald wieder davonzieht.
Er hatte ein paar Jahre auf der griechischen Insel Hydra gelebt, wo er mit Mitte zwanzig ein bescheidenes Haus gekauft hatte, und hatte den größten Teil des Jahrzehnts in einer Beziehung mit Marianne Ihlen verbracht, der Norwegerin, die er in dem Song „So long, Marianne“ verewigte. Auch für seinen anderen großen Hit „Suzanne“ gab es ein reales Vorbild – in Montreal. „Das Lied ,Suzanne‘ ist eigentlich Journalismus“, hatte Cohen mir erzählt.

Alles darin stimmt. Also, der Tee hatte in Wirklichkeit kleine Orangenschalenstücke. Aber ,Tea and oranges‘ klingt besser, nicht wahr? Sie lebte in Montreal in der Nähe des Wassers. Und sie nahm einen mit zu ihrem Platz in der Nähe des Flusses. Sie könnten die Boote vorbeifahren hören, und Sie könnten die Nacht neben ihr verbringen. All diese Dinge… und ich berührte ihren perfekten Körper mit meinem Verstand – das stimmt auch, denn sie war mit einem Freund von mir verheiratet, und ich konnte sie mit nichts anderem berühren!

Meine Erinnerung an ihn beginnt mit seinem wohlwollenden Lächeln und mit seinen sarkastischen Kommentaren zum Zustand eines absurden Universums. Er starb vor vier Jahren, aber manchmal scheint es in den engen Straßen Montreals, als sei er, die Wärme seiner Stimme immer noch da. Montreal vermisst ihn wie einen guten Geist, der in all der Kälte und Absurdität Wärme versprach oder Trost über ihr Fehlen – oder wenigstens ein gesteigertes Bewusstsein für die flüchtigen Momente des Glücks und des Trosts, die niemals von Dauer zu sein schienen.

Harold von Kursk, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.9.2020
Aus dem Englischen von Niklas Maak

 

 

Ein rhythmisches Wetzen
ein kehlig kratzendes Schwätzen
ein heiseres Scheppern
ein kreischendes Schwirren
ein kurzes scharfes Klirren
ein trillerndes Gelächter
ein weich abfallendes Lachen
ein leises Kichern
ein tiefes seufzendes Stöhnen
ein klagendes Flöten
ein ansteigendes heulendes Jauchzen
ein rauhes Schluchzen

Nachdem Leonard Cohen gestorben ist, höre ich „Bird on the Wire“.

Margret Kreidl

 

JOAN OF ARC
In memory of Leonard Cohen

Now the flames they followed Joan of Arc
As she came riding through the dark
No moon to keep her Armour bright
Then no man to get her through this darkest
very smoky night

***

Ich sah das Licht in der Nacht
die tödlichen Flammen erloschen
die Liebe saß auf dem Pferd
die Liebe zu den Menschen

Der Rauch deiner Stimme
hüllte uns ein
als du Joan of Arc
intoniertest
damals in Westberlin
auch immer von den Flammen
der Weltpolitik bedroht

Deine Susanne
schaut nicht mehr aus dem Fenster
und auch Marianne
sehnt sich ins Nichts

Alles geht zu Ende
die Lebensenergie erlischt
doch dein Halleluja wird weiter jubeln
so long Leonard…

Jenny Schon

 

 

Blaubart & Ginster #6: Leonard Cohen und Nick Cave

Andres Wysling: Wie Leonard Cohen seine Stimme findet

Gert Heidenrich: Nächte mit Leonard

Detlef Kuhlbrodt: Seems so long ago

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Übersetzungen +
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Nachrufe auf Leonhard Cohen: Spiegel ✝ FAZ ✝ Die Zeit 1 + 2 ✝

 

 

Zum 1. Todestag des Autors:

Margret Kreidl: Krempelsatz
Fixpoetry.com, 11.11.2016

 

 

Leonhard Cohen-Porträt als 30jähriger beim Besuch seiner Heimatstadt Montreal.

 

Leonard Cohens Dankrede – How I Got My Song – zur Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises am 21.10.201 in Oviedo.

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