Leung Ping-kwan: Von Politik und den Früchten des Feldes

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Leung Ping-kwan: Von Politik und den Früchten des Feldes

Leung-Von Politik und den Früchten des Feldes

FREMDES BLATT*

Wir teilen dieselbe Adresse
zu je anderer Zeit dasselbe Haus im Garten der
aaaaaFremde
zu guter Letzt mit je anderer Frucht
Wie deuten wir Tragödien?
Ich wähle den Scherz zum Gericht über mich, du
aaaaawähltest die Waffe
Du gabst die Welt auf, doch ich, manchmal unter
aaaaaMenschen
sehe deinen Schatten, nicht ausgeschlossen, daß auch wir werden wie du
mit demselben hohen Hut, innerlich verklebt und
sprachlos, jener Garten wird vielleicht nie
unserem Blick sich entfalten, wie eine Wahl treffen?
Flatternd als Günstling des Windes oder
als verworfener Hauch einer verlorenen Seele?

Ich höre dich die Treppe hinabsteigen, du hörst
mich nicht heraufkommen, eine gestaltlose Person, anders als
dein tönender, seltsamer Weg, ich versuche im Lärm
mich vergeblich zu benennen, nur schmerzhafter
bewußt, wie längst die Gemeinschaft der Ideen nicht besteht
Nachts beim Schreiben allein vor dem Licht
weiß ich, auch du hattest, in einen Winkel vergraben
Wörter vergeblich zerteilt, nie wirst du
mich sehen mit Blick auf dich
Beim Eintritt in ein anderes Wortgeflecht, in ein weiteres
fremdes Zimmer, trägst du dieses ins Monströse verlockte Selbst
deine Augen im Gesicht

Du bist nicht märchenhaft, wir sind auch keine Buchhalter
Ich meide heiße Kommentare, Blendwörter
Ich weiß, niemals können wir der Sprecher
eines anderen sein, auch wenn wir hoffen, durch dich
das andere zu finden, entdecken wir um so mehr verschiedene Blattadern
Keine Not, unser Reifen zu verspotten, es fehlten Blutopfer und Kampf
Zu einfach, mit solch einem Lebenslauf zu prahlen, ein schwacher Ast unter Druck
könne todbringender Höllenfürst werden! Am Rand sehe ich Frauen
ohne Geschichte, gestorben ein ums andere Mal, wenn die Sache von Mythen
Geschäft mit dem Grauen ist, Sensationsgier und Lügen einen Einzelnen
von Haus zu Haus zwingen, braucht ein fremdes Blatt unterwegs Kraft zum Widerstand
Fremdes eingegliedert würde sonst ein akzeptables Blatt Geschichte

* Während seines jüngsten, vom DAAD ermöglichten Aufenthaltes in Berlin wohnte der Autor in Haiensee, Storkwinkel 12, wo 1992/93 der chinesische Dichter Gu Cheng (1956-1993) – der sogenannte Märchendichter mit dem hohen Hut – in derselben Wohnung gelebt hatte.

 

 

 

Der Dichter der Welt. Nachwort

Nein, diese Stadt, in der hundert Blumen verblühen,
kann es nicht geben. Das ist ein Hirngespinst,
eine Halluzination ist es, eine Fälschung,
eine Science-Fiction-Oper, ein wackliges Wunder.

(Hans Magnus Enzensberger: „Hong Kong“ 1997)

Schreiben und Übersetzen in der Ära der Kommunikationstechnologie erlauben die Reduzierung von Raum und Zeit in ungeahntem Maße. Als Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD hatte der Hongkonger Schriftsteller Leung Ping-kwan in Berlin 1998/99 an einem neuen Werk zu arbeiten begonnen, das unter dem Titel Dinge aus Ost und West (Dongxi Ji) Deutschland und China zusammenbringen sollte. Eine Publikation ist von der Oxford-Press in der ehemaligen Kronkolonie für das Jahr 2000 vorgesehen. Und dennoch erscheint das Werk, zumindest in komprimierter Auswahl des Dichters, zuerst auf Deutsch. Wie ist das möglich?
Übersetzen aus den Manuskripten von Autoren, die sich für die endgültige Drucklegung dann möglicherweise anders entscheiden, ist für mich in den letzten Jahren zu einer Lebensform geworden. Ich pflücke gleichsam von chinesischen Schriftstellern die kaum gereiften Schreibfrüchte, um sie sogleich ins Deutsche zu übertragen. Dabei stehen die Urheber oft mehr schlecht als recht Pate. Sie sind nicht immer so auskunftswillig, wie ein Übersetzer sich das wünschen würde. Vieles bleibt weiterhin seiner eigenen Intuition überlassen bzw. der Interpretationskunst von Muttersprachlern, die bei fraglichen Stellen nicht unbedingt mehr verstehen als der Übertragungskünstler. Im vorliegenden Fall hat die moderne Kommunikationstechnologie jedoch eine Hartnäckigkeit erlaubt, die zwar nicht immer, aber meist zum Ziel geführt hat. Kein Text, zu dem nicht der Autor in Hongkong von mir aus Bonn per E-mail befragt worden wäre, und zwar solange, bis das Ergebnis verwertbar erschien.
Übersetzen bedeutete daher, im vermeintlich Unscheinbaren gleichsam den Gegenspieler auszumachen. Leung Ping-kwan liebt oftmals den leichten, meist prosaischen Fluß langer Verse, der fast ohne jede Interpunktion vorüberzieht und nur hie und da durch Wendungen der Schriftsprache unterbrochen ist. Die Suche nach dem Gegenspieler im Strom alltäglicher Worte und schlichter Bilder erschien mir oftmals nur über die Rekonstruktion der jeweils konkreten Situation möglich zu sein. Auch Befragungen verhalfen zur Klärung: Die große Erzählung aus dem Norden, der inflationäre Slogan des Festlands, die Prahlsucht der Partei haben im bescheidenen Wort einer jeden kleinen Existenz ihre Macht verloren.
Hinter besagter Hartnäckigkeit verbirgt sich selbstverständlich ein Sprachproblem, welches gleichzeitig auch ein Kulturproblem, ja mitunter gar ein künstlerisches Problem ist. Wer die moderne chinesische Hochsprache erlernt, wird weder gleichzeitig noch später einen der vielen großen Dialekte Chinas erlernen. Umgekehrt wird ein überzeugter Kantonese wie Leung Ping-kwan, der von Geburt auf Kantonesisch spricht, nicht wegen eines Übersetzers die Hochsprache zur Maxime seines Schreibens machen, auch wenn er bei der mündlichen Kommunikation zu Konzessionen bereit ist. Der Übersetzer, der sich auf die seit 1949 allgemein verbindliche Sprachpolitik Pekings beruft, muß einem Hongkonger wie ein Anwalt eben jener Macht erscheinen, die diesen zu marginalisieren droht. Nicht zufällig spielt daher der Kontrast von Zentrum und Rand im Werk von Leung Ping-kwan eine so wichtige Rolle. Selbst im Anblick des mächtigen Domes fühlt sich der Dichter in Köln noch zu den scheinbar „kleinen romanischen Kirchen“ hingezogen. Meinem nicht seltenen Einwand, dieses oder jenes lasse sich grammatisch so doch nicht sagen, wird ebenso verständnislos begegnet wie einer Verlautbarung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas in Sachen Rechtsprechung. In Hongkong gelten eben andere Gesetze, ob politischer oder sprachlicher Natur.
Der Dichter, unterwegs in der Welt, spricht zu einer bestimmten Welt. Er möchte verstanden werden und sucht das Zwiegespräch. Dabei neigt er jedoch zu Verallgemeinerungen. Ob Dom oder Neumünster in Würzburg, welcher See oder Wald nördlich von Berlin, was für eine Frucht oder Speise in was für einem Restaurant, ob Singular oder Plural, Mann oder Frau, alles verliert sich hinter dem Allgemeinen. Dies aus einem einfachen Grund: Das Konkrete ist etwas Mächtiges, etwas Zentrales, es steht allem anderen voran. Der Dichter, der weder weiß, wann noch wo er geboren ist, der seine Person hinter vielen verschiedenen Namen verbirgt, der in drei Sprachen kommuniziert (Kantonesisch, Englisch, Mandarin), dieser Dichter liebt es, sich zu entziehen. „Bitte werde nicht zu deutlich“, lautete immer wieder seine Beschwörungsformel, die er den von mir abgetrotzten Erklärungen hinterherschickte. Für sein Verfahren, Dinge möglichst klein anzusetzen, hat er manchen Fürsprecher auf seiner Seite. Das große Vorbild Su Dongpo (1037-1101) z.B., den Goethe Chinas, der im Kleinen das Große erkannte und die Reise in die Welt als Reise zu sich selbst verstand. Schreiben heißt die Dinge in ihrer Singularität erkennen und mit ihnen in einen Dialog treten. So soll die Gemeinsamkeit aufgespürt werden, welche alles miteinander verbindet, sei es historisch, sei es natürlich, sei es poetisch.
Das offensichtlichste Exempel ist das Essen (Teil I). Wer nicht mit der chinesischen Geistesgeschichte vertraut ist, mag dies als eine nette Marotte mit einem Schmunzeln abtun. Doch nirgendwo sonst veranschaulicht sich die chinesische Kultur so unmittelbar wie in der geschmacklich, farblich, gesundheitlich und anzahlmäßig aufeinander abgestimmten Zubereitung und Präsentation von Speisen. Essen, das heißt nicht nur eine Gemeinschaft bilden und eine Kommunikation beginnen, sondern auch die Harmonie des Kosmos zu befördern helfen. Der Dichter, der mit einer Balsambirne – von einem Freund, aus Taibei kommend, zum Abschied überreicht – in Hongkong ins Flugzeug steigt und elf Stunden später in Berlin landet, bringt neben seinen Eßgewohnheiten auch seine Lebenseinstellung mit: Die Welt sei erkenntlich an der Obacht, welche sie den Früchten und Gerichten zuteil werden läßt. Folglich standen seinerzeit und stehen auch demnächst wieder Lesungen von Leung Ping-kwan, ob in oder außerhalb von Deutschland, unter dem Stichwort „Von Gemüse und Politik“ an. Der chinesische Titel „Shucai de zhengzhi“ wäre streng genommen als „Die Politik des Gemüses“ bzw. „Gemüse macht Politik“ zu übersetzen gewesen. Was sollen wir uns darunter vorstellen? Der Zyklus „Von Speisen und Karten“, im Spätherbst 1998 in Berlin, München und Bonn gelesen, geht nicht nur der Geschichte des Essens nach, sondern gleichzeitig auch der Begegnung von Kulturen und der Kommunikation unter Menschen.

Hongkong und Macau (Teil II) repräsentieren am offensichtlichsten Zwitterkulturen im chinesischen Sprachraum. Das Englische und das Portugiesische haben auch auf die Küche vor Ort abgefärbt. Die Anwesenheit zweier unterschiedlicher Kolonialherren hat es mit sich gebracht, daß nicht nur Europa, sondern auch Afrika und Lateinamerika ihren Anteil zur Bereicherung der kantonesischen Kochkünste beigesteuert haben. Über das Essen reden heißt also über die Kolonialgeschichte reden. Leung Ping-kwan tut dies ohne Verbissenheit, oftmals mit einem Schuß Humor, wie er das in seiner Erzählung „Von postkolonialer Speise und Liebe“ vorgeführt hat. Schließlich weiß er, daß portugiesische Lethargie und britische Steifheit nicht unbedingt schwerer ins Gewicht fallen als Vorbehalte aus Peking. Die Geschichte hat längst vor dem Ende der Kolonialzeit ihr Wort gesprochen. Wir sehen dies deutlich an dem Weg, den der Wandteppich des Dom João V. von Lissabon nach Peking nimmt („Der König von Portugal…“) oder an dem Schicksal des Malers George Chinnery oder des Dichters Camilo Pessanha. Alles hat seine Zeit, aber nichts hat in dem großen „Soya-Faß China“ Bestand auf Dauer, d.h. was immer eingetunkt werden mag, verliert seine Farbe sowie seinen Geschmack und nimmt eine chinesische Gestalt an.
Essen ist seit Urzeiten in China eine Form der Kommunikation, zunächst mit den Ahnen, die man durch Lebensmittelopfer nährt, dann mit den Freunden, die bei Speis und Trank das Geschick von Staat und Individuum verhandeln, schließlich mit der Familie, die ihre Gemeinschaft in Teigwaren symbolisiert, und schließlich mit dem Partner, der, in Zeiten der Emanzipation, den Zugang zu seinem Leib über eine Essenseinladung erlaubt („Barkeeper in Tokio“).
Leung Ping-kwan ist nicht nur Gourmet, der ein Foto seiner Person von einem guten Essen abhängig macht – das Porträt des Hongkonger Fotografen Almond Chu in diesem Buch könnte manche Geschichte erzählen −, er ist auch Flaneur, der es liebt, Städte zu durchstreifen, unabhängig von alteingesessenen Cafés oder feudalen Restaurants. Natürlich endet jeder Spaziergang mit ihm bei einer lokalen Spezialität, sofern er sich an vertrautem Ort wie Macau oder Hongkong befindet und die Führung übernommen hat, aber bis zum Beginn des für ihn gemütlichen Teils ist die gesamte Weltgeschichte der neueren Zeit abgelaufen, von der Landung der ersten Portugiesen an der südchinesischen Küste bis zum Abschied des Commonwealth vom Victoria-Hafen. Umgekehrt läßt auch er sich gern führen, äußert jedoch vor jedem Besuchsprogramm kulinarische Wünsche: Eisbein in Berlin, Weißwurst in München und Rheinischer Sauerbraten in Bonn, und vor allen Dingen französischer Rotwein, ein in Hongkong unerschwingliches Gut. Spaziergänge, ob durch südchinesische Hafenstädte oder durch deutsche Lande, haben entsprechend unterschiedlichen Charakter. Die Wege in Hongkong und Macau sind kurz, die Essen länger. Promenaden an Spree, Isar oder Rhein dagegen sind lang, dafür die Mahlzeiten kürzer. Keine deutsche Küche, so heftig sie begehrt gewesen sein mag, bewahrt unseren erschöpften Dichter am Ende der Wasser vor einem tiefen Schlaf im hohen Gras.
Die Vertrautheit mit Deutschland, die sich aus dem dritten Teil dieser kleinen Anthologie ergibt, ist kein Zufall. Leung Ping-kwan ist seit 1990 regelmäßig Gast zwischen Rhein und Oder, vor allem in Berlin, wo er wiederholt zusammen mit Hongkonger Künstlern zu Veranstaltungen im Kunsthaus Tacheles eingeladen gewesen ist, zuletzt im August 1999 mit seinem Geister-Zyklus „Seltsame Geschichten von Blumen und Vögeln“. Hierzulande, aber auch im Rahmen von Gegeneinladungen nach Hongkong haben sich Begegnungen und Bekanntschaften mit deutschen Schriftstellern ergeben, Joachim Sartorius, Hans Magnus Enzensberger, Hans Christoph Buch mögen hier stellvertretend genannt sein.
Die Öffnung Berlins für Hongkong ist ein seltenes Glück, denn chinesische Literatur ist auf Grund der sprachlichen Schwierigkeiten weniger gefragt als der chinesische Film oder die chinesische Kunst. Umgekehrt hat natürlich auch die deutsche Literatur aus denselben Gründen in Hongkong einen schweren Stand. Daß Leung Ping-kwan hier so sehr um Vermittlung bemüht ist, hat sicherlich auch mit den Stationen seiner Karriere zu tun. Am Beginn steht die Tätigkeit als Übersetzer und Journalist, am Ende die eines Literatur- und Sprachvermittlers am Lingnan College von Hongkong. Als Professor unterrichtet Leung Ping-kwan creative writing, und dazu gehört auch die Beschäftigung mit der deutschen Literatur. Er weiß also, wo er sich niederläßt, wenn er in Weimar das Hotel Elephant aufsucht, und er weiß, warum er seinem Übersetzer die Lektüre von Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ empfiehlt.
Literatur in Hongkong ist keine einfache Sache. Da gibt es nicht nur ein sprachliches oder im weitesten Sinne ein politisches Problem, also der offizielle Wechsel von Englisch zu Chinesisch, von einer Kronkolonie zu einem Sonderverwaltungsgebiet, sondern da gibt es auch eine Konsumwelt, welche die Künste für entbehrlich hält. Doch ist Hongkong nicht die Kulturwüste, als welche sie immer wieder gern verschrien wird. Daß dies nicht so ist, hat u.a. mit Leung Ping-kwan und seinem aktiven Umfeld aus Malern, Fotografen, Filmemachern, Tänzern und Videokünstlern zu tun. Wie er sind auch diese bewußt vor Ort verblieben und finden sich zu gemeinsamen Veranstaltungen in Galerien, Cafés, Theatern und Museen ein, inzwischen über Hongkong und Macau weit hinaus. Berlin ist nur eines ihrer begehrten Ziele. Die Fotocollagen eines Lee Ka-sing nach Textvorlagen von Leung Ping-kwan sind demgemäß inzwischen auch bis in die deutsche Hauptstadt gelangt.
Gemeinsam ist dem Schaffen der Hongkonger Künstler das Transitorische ihrer Stadt: Alles ist dort im Fluß begriffen, die Menschen, die Waren, die Häuser, die Landschaften. Insofern erscheint alles als unwirklich, da es keine Bleibe hat. Der Künstler vermag jedoch dieser Umtriebigkeit eine Ordnung zu geben. Voraussetzung ist nur, daß er nicht selber auch Teil des allgemeinen Kommens und Gehens wird. Auf dem Festland ist es aus anderen Gründen gang und gäbe, daß Literaten nach zehn Jahren verstummen; die wenigen, die länger zu schreiben imstande sind, lassen sich an einer Hand aufzählen. So gesehen gewinnt Leung Ping-kwan über Hongkong hinaus exemplarische Bedeutung besonderer Art. Da er bereits seit mehr als dreißig Jahren schreibt, neben Lyrik, die er in den letzten Jahren immer mehr bevorzugt hat, auch Essays, Erzählungen und Romane, sollte er nicht als Hongkonger, sondern als chinesischer Schriftsteller betrachtet werden. Allerdings hat er sich in den anderen Genres dem Geist der Stadt angepaßt, immer und überall ein anderer, zu jeder Zeit etwas anderes zu sein. Auf dem Festland ist er Liang Bingjun, in Hongkong und Macau Leung Ping-kwan, als Erzähler heißt er Ya Si (Ye Si) und als Professor P.K. Leung.
Eine so leichtlebige und flüchtige Stadt wie Hongkong, die ihre Geschichte gerade erst zu entdecken beginnt, bedarf des Historikers, des Archivars, des Gedächtnisses und der Erinnerung. Leung Ping-kwan ist seit 1997 unwillentlich diese Rolle zugefallen. Er geht dieser Verpflichtung gern und ohne die in Künstlerkreisen üblichen Ressentiments nach. Er tut dies im Rahmen seiner Möglichkeiten als Schriftsteller, der weiß, daß der Wandel. selbst ein notwendiger Teil eines nie vollkommenen Lebens ist. Ob Brite oder Portugiese, ob Sozialist oder Kapitalist, ob Kantonese oder Pekinger, sie hinterlassen langfristig Spuren nur in den Kochrezepten, die sie der Welt zu ihrem Angedenken anvertrauen.

Wolfgang Kubin, Nachwort

 

Nirgendwo veranschaulicht sich die chinesische Geistesgeschichte

so unmittelbar wie in der Zubereitung und Präsentation von Speisen. Essen, das heißt nicht nur eine Gemeinschaft bilden und eine Kommunikation beginnen, sondern auch die Harmonie des Kosmos zu befördern helfen. Der Dichter, der mit einer Balsambirne – von einem Freund, aus Taibei kommend, zum Abschied überreicht – in Hongkong ins Flugzeug steigt und elf Stunden später in Berlin landet, bringt neben seinen Eßgewohnheiten auch seine Lebenseinstellung mit: Die Welt sei erkenntlich an der Obacht, welche sie den Früchten und Gerichten zuteil werden läßt.

DAAD, Klappentext, 2000

 

Die Erträglichkeit des Seins

− Leung Ping-kwan verbindet Hongkong, Macau und Europa. −

Dass Lyrik mehr als jede andere literarische Gattung in der Lage ist, sachlich und gedanklich weit Entferntes auf kürzestem und sprachlichem Wege zusammenzubringen, dass sie, sofern sie gut ist, ihren Zauber über Zeit und Raum und Kulturen hinweg zu entfalten vermag – wer hätte dies nicht schon bei der Lektüre gelungener Verse festgestellt?

Bei einem Glas Wein betrachte ich den Verkehr auf der Brücke
… Wir waren immer die provisorischen Akteure bei historischen Szenen
… Mein melancholischer Freund, Saudade ist dein Metier, ganz portugiesischer Poet im Anblick des Meeres
Mein trinkfreudiger Freund, trinken wir ein Glas Sekt
In dieser südchinesischen Kleinstadtküche
essen wir macanesisch und kantonesisch, im Wandel der Zeit

schlägt Leung Ping-kwan (hochchinesisch: Liang Bingjun) in dem Prosagedicht „Ein Abend in Bela Vista“ vor.
Der Hongkonger Lyriker, Erzähler, Essayist und Literaturwissenschafter war 1998/99 Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, dank dem im Lauf der vergangenen 35 Jahre schon etliche chinesische Autoren direkte Erfahrungen mit dem deutschsprachigen Kulturraum sammeln konnten. Die lyrischen Früchte seines Aufenthaltes, „grün“, d.h. in einigen Fällen noch in statu nascendi, „gepflückt“ vom Übersetzer Wolfgang Kubin, wurden unlängst im ersten Band der neuen DAAD-Reihe Spurensicherung unter dem Titel „Von Politik und den Früchten des Feldes“ veröffentlicht.
In dieser Formulierung ist die ganze Spannbreite dessen ausgemessen, was Leung Ping-kwan in seinen Texten zu verarbeiten sucht. Die hier versammelten 25 Gedichte, angeordnet in drei Abteilungen, deren Schwerpunkte sich mit „Essen“, „koloniales Leben“ und „Reisen“ benennen lassen, geben einen guten Einblick in die Denk- und Wahrnehmungsweise des „um 1949“ geborenen Autors aus der südchinesischen Hafenstadt. Historisches Bewusstsein spricht aus ihnen ebenso wie Leungs allen Gaumenfreuden unvoreingenommen zugetane Lebenseinstellung und sein zarter Humor, immer unter der vorsichtigen Massgabe:

Ich meide heisse Kommentare, Blendwörter
Ich weiss, niemals können wir der Sprecher
eines anderen sein…

Ob es in dem Text „Papaya in Vietnam“ die Frucht ist, die während eines Besuches dort die Verbindung zur grausamen Kriegsvergangenheit herstellt, ob in dem Text über „indonesische Küche“ ferne ethnische Konflikte einen Restaurantbesuch überschatten – stets ist dieser Autor mit dem Habitus eines Flaneurs und dem Blick für das Poetische im unscheinbaren Alltäglichen ganz in der Welt, in der politischen Realität. Er porträtiert den einst in Macau ansässigen britischen Maler George Chinnery mit der gleichen Eindringlichkeit wie den portugiesischen Autor Camilo Pessanha, den chinesischen Sozialreformer Zheng Guanying oder den Maler Wu Li, allesamt Protagonisten der noch längst nicht aufgearbeiteten Geschichte eines unter kolonialen Vorzeichen begonnenen Kulturaustauschs.
Es hat den Anschein, als ob dieser Austausch für den unabhängigen Kopf Leung Ping-kwan womöglich noch wichtiger ist als jener mit dem „Mutterland“ China, das die einstigen Kolonien Hongkong und Macau erst seit kurzem wieder unter ihre starken, wenig nachgiebigen Fittiche genommen hat. Dem Übersetzer Wolfgang Kubin ist es sichtlich gut bekommen, seine Kunstfertigkeit einmal nicht an einem Melancholiker auszuprobieren, sondern sich auf einen Autor einzulassen, der einen anderen, leichteren Ton anschlägt, ohne deswegen der glitzernden Oberfläche der Konsummetropole Hongkong verfallen zu sein. Die literarischen Qualitäten der durch koloniale Einflüsse bereicherten südchinesischen Lebensart, die Leung Ping-kwan und seine Lyrik so entspannt ausstrahlen und die auch durch den für die Gedichtproduktion von Kubin-Schützlingen obligaten Gang über den Alten Friedhof in Bonn nicht ernstlich getrübt werden konnten, hat der Übersetzer erst spät für sich und uns entdeckt. Dass es dazu kam, vermerkt die Rezensentin mit Dankbarkeit.

Christiane Hammer, Neue Zürcher Zeitung, 7.8.2001

Von Speisen und Karten

− Der Hongkonger Schriftsteller Leung Ping-kwan. −

Das vorherrschende politische und wirtschaftliche Interesse am chinesischen Sprachraum hat auch die Übergabe Hongkongs am 1. Juli 1997 zu einem Medienereignis werden lassen, bei dem der Kulturbereich weitgehend ausgeschlossen blieb. Zwar hat Joachim Sartorius am Vorabend der pompösen Feierlichkeiten in der Frankfurter Allgemeinen (30. Mai 1997, S. 41) ganzseitig auf die Hongkonger Literaturszene aufmerksam gemacht, doch ist dies bis heute ohne weitere Folge geblieben. Dabei bietet die ehemalige Kronkolonie im Bereich der Künste seit vielen Jahren ein internationalen Standards gerecht werdendes Experimentierfeld. Viele Künstler arbeiten in Museen, Gallerien, auf der Bühne und in Publikationen zusammen. Fotographie, Film, Tanz, Malerei, Bildende Kunst und Literatur sind eine zeichensetzende visuelle Gemeinschaft eingegangen. Einer dieser Vertreter einer chinesischen Avantgarde ist Leung Ping-kwan, der 1998 vom Künstlerprogramm des DAAD nach Berlin eingeladen worden war.
Leung Ping-kwan ist zwar 1948 auf dem Festland geboren worden, aber in Hongkong aufgewachsen. Er ist Kantonese und daher unter verschiedenen Namen bzw. Namenslesungen bekannt (geworden). Er persönlich möchte die drei chinesischen Zeichen seines Namens nicht hochchinesisch, also Liang (Familienname) Bingjun (Vorname), sondern kantonesisch, also Leung (Familienname) Ping-kwan (Vorname) ausgesprochen wissen. Überdies unterscheidet er persönlich zwischen sich als Professor, als Lyriker und Essayist sowie als Erzähler. Als Professor am renommierten Lingnan-College, wo er Vergleichende Literaturwissenschaft unterrichtet, nennt er sich nach westlicher Art P.K. Leung, als Dichter und Essayist firmiert er traditionell unter Leung Ping-kwan, und als Erzähler hat er sich das Pseudonym (hochchinesisch) Ye Si, kantonesisch Ya Si, zugelegt.
Kantonesisch ist auf dem Festland nicht als Literatursprache anerkannt, Kantonesisch wird aber in Hongkonger Zeitungen zu Papier gebracht. Was heißt „zu Papier gebracht“? Kantonesisch hat eine eigene Grammatik, ein eigenes Vokabular, eigene Tonhöhen und eine Reihe von eigenen, das heißt uralten, heute nicht mehr gebräuchlichen chinesischen Zeichen. Das geschriebene Kantonesisch erscheint jedem im Hochchinesischen unterrichteten Festländer als schwer verständlich oder komisch. Die disparate Entwicklung von Hongkong und dem Festland schlägt sich nicht nur in der chinesischen Sprache nieder. Hongkong verkörpert auch auf Grund der englischen Sprache und Erziehung eine höchst komplexe Zwitterkultur. Konkret bedeutet dies das folgende: Leung Ping-kwan bemüht sich beim Schreiben um eine allgemein verbindliche schriftliche Ausdrucksform, die trotz erheblicher Abweichungen von der seit 1949 aus Peking vorgebenen Norm auch auf dem Festland verstanden werden kann, zieht es aber vor, seine Werke in der Öffentlichkeit kantonesisch zu lesen und bei der Übertragung ins Englische das chinesische Original umzuschreiben. Wir haben es also letzten Endes mit einem dreisprachigen Autoren zu tun, mehr noch mit einem Autoren, der in vielen Kulturen zu Hause ist und das Angloamerikanische (Hongkong), das Romanische (Macau) und die chinesische Tradition zu verbinden weiß. Sein Entwicklungsweg als Dichter weist daher unterschiedliche sprachliche und kulturelle Einflüsse auf. Leung Ping-kwan beginnt mit imagistischen Versuchen nach Art chinesischer Landschaftsmalerei (Der Donner und die Zikade / Leiming yu chan, 1979). Trotz seiner postmodernen Versuche (Reisen / Youshi, 1985) kehrt er mehrfach zur chinesischen Ästhetik zurück: Lotosblätter (Lianye, 1988); Gegenstände einer Ausstellung (Bowuguan bzw. Museum Pieces, 1996). Seine eigentliche Bekanntheit im Westen verdankt der Dichter seinen poetischen Betrachtungen von Hongkongs Geschichte und Kultur. Die Bilder von Hongkong (Xingxiang Xianggang bzw. City at the End of Time, 1992) sind ein Vorgriff auf die Übergabe, und Zyklen wie Von Speisen und Karten (1997) oder Kleider denken (Yixiang bzw. Clothink, 1998), die als Beiträge zu Ausstellungen visueller Künste in Hongkong und Macau entstanden sind, reflektieren unter anderem populäre Kultur und überliefertes Brauchtum.
Leung Ping-kwan ist durch das Übersetzen und durch seinen Studienaufenthalt in den USA (1978-1984) zum Schriftsteller geworden. Als Übersetzer unter anderem von Jacques Prévert, PabIo Neruda und lateinamerikanischen Erzählern läßt er es sich nicht nehmen, mitunter auch seine eigenen Gedichte ins Englische zu übertragen. Viele seiner mit Hilfe befreundeter Künstler prachtvoll aufgemachten Gedichtbände sind zweisprachig. Wer nun die beiden Fassungen vergleicht, wird die bittere Feststellung machen, daß er zwei verschiedene Versionen zu einem Thema hat, die englische Version unterscheidet sich von der chinesischen mitunter erheblich. Nehmen wir den Titel unseres Zyklus, „Von Speisen und Karten“, zum Beispiel. Auf dem Umschlag der 1997 in Hongkong als Ausstellungskatalog herausgegebenen Ausgabe fällt – rot, zentriert und fett – Foodscape ins Auge. Dies ist ein Wortspiel aus landscape und food. Der chinesische Titel dagegen ist nahezu unscheinbar an den Rand gedrängt und gibt sich ganz traditionell: Aufzeichnungen von Speisen und Regionen (Shiwu diyu zhi). Übersetzen bedeutet also gleichsam Weiter- oder Fortschreiben und in diesem Sinne schöpferische Tätigkeit.
Leung Ping-kwan gehört zu einer nur kleinen Schar von Intellektuellen, die Hongkong am Vorabend der Übergabe nicht den Rücken gekehrt haben. Im anglo-amerikanischen Raum ist seine Bedeutung längst erkannt und seine Poetik einer „Dichtung als Mittel zur Entdeckung“ (faxian shixue) der einfachen Dinge des Lebens hinlänglich gewürdigt worden. Man hat den Dichter oftmals der Postmoderne zugeschlagen und dafür manch gutes Argument gehabt. Doch anything goes ist eigentlich nicht das Ideal, das Leung Ping-kwan für sich in Anspruch nimmt. Er steht sehr stark unter dem Einfluß eines Su Dongpo (1037-1101), des chinesischen „Goethe“, der dem Leben und Schreiben von den einfachen Dingen her einen Sinn zu gewinnen versuchte und in dieser Hinsicht die chinesische Kultur bis heute tief geprägt hat. Es geht im Zyklus Von Speisen und Karten also nicht um das Flache, Gemeine, Ordinäre, was oftmals Thema und Mittel der Postmoderne ist, sondern es geht um einen Gang in die Welt, um einen Dialog mit der Welt. Daher sind im Gesamtwerk des Leung Ping-kwan die dinglichen Aspekte des Seins, das Marginale und die Dialogform von so großer Bedeutung. Die hochangesetzte Rhetorik der Schriftsteller vom Festland wird bewußt heruntergefahren.
Das Deutsche kennt das Sprichwort „Liebe geht durch den Magen“. Im Falle von China müßte anders formuliert werden: Kultur geht durch den Magen. Seit alters gehen im Reich der Mitte Essen und Ästhetik eine tiefe Beziehung ein. Es ließe sich leicht eine chinesische Kulturgeschichte am Beispiel von Geist und Speise verfassen. In dieser Tradition hat Leung Ping-kwan mit seinem Zyklus „Von Speisen und Karten“ eine Ästhetik, Poesie, ja Ethik des Konsums verfaßt und einer Sprache, gar Politik des Gemüses das Wort geredet. Daß der Dichter dabei mehr im Sinn hatte als einen Preisgesang auf die von ihm so geliebte kantonesische Küche, liegt auf der Hand. Die Reise zur Welt ist zwar immer eine Reise zu ihren kulinarischen Genüssen, aber gleichzeitig auch eine Reise zur Problematik des modernen Menschen in einer Welt, die er nur noch selten sein eigen nennen kann.

Wolfgang Kubin, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 5, Oktober 2005

 

Zum 75. Geburtstag des Übersetzers:

Thomas Kliemann: Liebe zu zwei Welten
General-Anzeiger, 16.12.2020

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