Christian Uetz’ Gedicht „ICH VERSTEHE, dass das zu dringliche Verstehen zudringlich ist,…“

CHRISTIAN UETZ

ICH VERSTEHE, dass das zu dringliche Verstehen zudringlich ist,
und dass du recht hast, dass ich kein Recht habe, dich zu verstehen,
denn dich zu verstehen ist deine intimste Sache, die mir nicht zusteht,
auch wenn es mir noch so zu dir steht.
Das verstehe ich.
Aber ich verstehe nicht ganz sicher, warum du dir ganz sicher bist,
dass ich das nicht verstehe,
und ich verstehe nicht ganz sicher, warum du dir ganz sicher bist,
dass du das ganz anders verstehst.

Denn ich kann es nicht wissen,
Denn du kannst es nicht wissen,
Denn wir können es nicht wissen.

nach 2000

aus: Christian Uetz: Das Sternbild versingt. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004

 

Konnotation

Der Schweizer Autor Christian Uetz (geb. 1963) ist ein Mann aus Wörtern und vokabulären Obsessionen, ein moderner Meister Eckart der atemlosen Sprach-Exaltation, der ständig nach innen horcht, in den Klangleib der Wörter, um dem „Wortwahn“ auf die Spur zu kommen. Er vereinigt in sich alle Tugenden eines poetischen Existenzialisten: Leidenschaftlichkeit, Subjektivität, unendliche Selbstbefragung und die Frage nach dem Göttlichen.
Uetz ist ein Dichter der Negationen, der alle positiven Setzungen dessen, was der Fall ist, so lange demontiert, bis am Ende selbst die schlichteste Wahrheit ihre Antithese erfährt. Ein Dichter der Negation kann nie an einen erlösenden Endpunkt gelangen. Auch das gegenseitige Verstehen, das in dem nach 2000 entstandenen Gedicht als Voraussetzung eines Liebesverhältnisses durchgespielt wird, verfällt der negierenden Kritik.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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