Durs Grünbeins Gedicht „Noch eine Regung“

DURS GRÜNBEIN

Noch eine Regung

Grüß dich, Sperling in der Pfütze, guter Geist,
Da am Wegrand badend, immerfort gehetzt
Weißt ja längst, was demnächst jeder weiß,
Deine Regenfrische sagts – Ich übersetze:
Tischilp, tschilp, wie fragil ist dies fossile,
Euer Monstrum, tschilp, Gesellschaft doch.
Außen Stahlbeton und innen mürbe Knochen.
Seh genau, wie du zu mir herüberschielst,
Spätzlein. Keine Angst, ich bin verschwiegen.
Warte doch, brauchst nicht davonzufliegen.

Nach 2000

aus: Durs Grünbein: Strophen für übermorgen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008

 

Konnotation

Der Ausnahme-Dichter Durs Grünbein (geb. 1962), früh von der Literaturkritik zum „Götterliebling“ (Gustav Seibt) erhoben, präsentiert sich in seinen nach 1999 erschienen Gedichtbänden in einem Habitus klassizistischer Abgeklärtheit. In den handwerklich tadellos geformten Oden und Elegien, lockeren Alexandrinern und Blankversen spricht ein Subjekt, das in seiner kontemplativen Behaglichkeit kaum zu erschüttern ist.
Die eminente poetische Begabung Grünbeins erzeugt aber auch hinreißende kleine Genreszenen, scharfe Momentaufnahmen aus dem Alltag, die zur zeitdiagnostischen Schlüsselszene verwandelt werden. Da ist zunächst nur ein kleiner Sperling, der seinen Aufenthalt in einer Pfütze genießt. Grünbein transformiert seine lyrische Vogelkunde in trochäischen Versen in ein Denkbild über die Struktur von menschlichen Gesellschaften, die nach außen hin monolithisch verschlossen scheinen, aber innen sich schon längst in marodem Zustand befinden.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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