Gottfried Benns Gedicht „Leben – niederer Wahn“

GOTTFRIED BENN

Leben – niederer Wahn

Leben – niederer Wahn!
Traum für Knaben und Knechte,
doch du von altem Geschlechte,
Rasse am Ende der Bahn,

was erwartest du hier?
immer noch eine Berauschung,
eine Stundenvertauschung
von Welt und dir?

Suchst du noch Frau und Mann?
ward dir nicht alles bereitet,
Glauben und wie es entgleitet
und die Zerstörung dann?

Form nur ist Glaube und Tat,
die erst von Händen berührten,
doch dann den Händen entführten
Statuen bergen die Saat.

1936

aus: Gottfried Benn: Statische Gedichte. Hrsg. v. P. Raabe. Arche Literatur Verlag, Zürich-Hamburg 2006

 

Konnotation

Am 24. Juli 1936 schickte Gottfried Benn (1886–1956) an seinen wichtigsten Briefpartner, den Bremer Großkaufmann Friedrich Wilhelm Oelze, auf der Rückseite einer Ansichtspostkarte ein Gedicht, das seine Haltung gegenüber der Welt und der Poesie bündig zusammenfasste. Der Verachtung des Lebens als „niederer Wahn“ entspricht die emphatische Apologie der Kunst und der lyrischen Artistik: „Form nur ist Glaube und Tat.“ Ergriffen vom Pathos des großen Einzelnen, versteigt sich Benn in absonderliche Huldigungen.
Unbemerkt vom Autor zeigt sich dieses Gedicht infiziert von der verblasenen Terminologie der nationalsozialistischen Machthaber. In seinem Anspruch, das künstlerische Genie als singuläres Wesen darzustellen, bedient Benn die prekären Formeln eines elitären Machtbewusstseins. Es zeugt von einem opportunistischen ästhetischen Weltkonzept, wenn man 1936 den einsamen Künstler ausgerechnet als „Rasse am Ende der Bahn“ qualifiziert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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