Peter Rühmkorfs Gedicht „Mit unsern geretteten Hälsen“

PETER RÜHMKORF

Mit unsern geretteten Hälsen

Mit unsern geretteten Hälsen,
Immer noch nicht gelyncht,
Ziehn wir von Babel nach Belsen
Krank und karbolgetüncht.

Fraßen des Daseins Schlempe,
Zelebrierten in gleitender Zeit
Unter des Hutes Krempe
Das Hirn, seine Heiligkeit.

Tätowiert mit des Lebens Lauge.
Doch von erstaunlichem Bestand
Das Weiße in unserm Auge,
Das Warme in unserer Hand.

Wir haben gelärmt und gelitten.
Wir schrieben Pamphlete mit Tau und mit Teer –
Worte schöpfen, Worte verschütten,
In ewiger Wiederkehr.

1956

aus: Peter Rühmkorf: Heiße Lyrik. Zusammen mit Werner Riegel. Limes Verlag, Wiesbaden 1956

 

Konnotation

Die renitente Artistik des großen Dichters Peter Rühmkorf (1929–2008) suchte immer „die Verbindung von Schönheit und Schock“ im Gedicht. Dies gelang vor allem in den hart gefügten Versen von Rühmkorfs Debütband Irdisches Vergnügen in g von 1959, in dem ein zutiefst desillusioniertes Bewusstsein die „Conditio humana“ kommentiert. In einem Gedicht spricht ein zynisch gewordener Überlebender, der mit scharfem Witz die Rituale des Geistes kommentiert.
Der aggressive Zynismus der ersten Strophe, der für die Nachgeborenen noch einmal die Verschleppung ins Konzentrationslager imaginiert, geht über in weichere Töne und in die Beschwörung von Gottfried Benn-Motiven: das „Zelebrieren“ des „Hirns“; die Evokation der „ewigen Wiederkehr“. Mit Benn (1886–1956) setzt Rühmkorf hier auf das „Gegenglück“ (Benn) des Geistes – und die Unerbittlichkeit der ersten Strophe wird vom „Worte schöpfen“ der letzten Strophe etwas gemildert.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

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