Marion Tauschwitz: Zu Hilde Domins Gedicht „Die Heiligen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hilde Domins Gedicht „Die Heiligen“. 

 

 

 

 

HILDE DOMIN

Die Heiligen

Die Heiligen in den Kapellen
wollen begraben werden, ganz nackt,
in Särgen aus Kistenholz
und wo niemand sie findet:
in einem Weizenfeld
oder bei einem Apfelbaum,
dem sie blühen helfen
als ein Krumen Erde.
Die reichen Gewänder, das Gold und die Perlen,
alle Geschenke der fordernden Geber,
lassen sie in den Sakristeien,
das Los, das verlieren wird, unter dem Sockel.
Sie wollen ihre Schädel und Finger einsammeln
und aus den Glaskästen nehmen
und sie von den Papierrosen ohne Herbst
und den gefassten Steinen
zu den welken Blumenblättern bringen
und zu den Kieseln am Fluß.

Sie verstehen zu leiden,
das haben sie bewiesen.
Sie haben für einen Augenblick
ihr eigenes Schwergewicht überwunden.
Das Leid trieb sie hoch,
als ihr Herz den Körper verzehrte.
Sie stiegen wie Ballons, federleicht,
und lagen in der Schwebe auf ihrem wehen Atem
als sei er eine Pritsche.
Deshalb lächeln sie jetzt,
wenn sie an Feiertagen
auf schweren geschmückten Podesten
auf den Schultern von achtzig Gläubigen
(denen man das Brot zur Stärkung voranträgt)
in Baumhöhe durch die Straßen ziehn.

Doch sie sind müde,
auf den Podesten zu stehn
und uns anzuhören.
Sie sind wund vom Willen zu helfen,
wund, Rammbock vor dem Beter zu sein,
der erschrickt
wenn das Gebet ihm gewährt wird,
weil Annehmen
so viel schwerer ist als Bitten
und weil jeder die Gabe nur sieht
die auf dem erwarteten Teller gereicht wird.
Weil jeder doch immer von Neuem
in den eigenen Schatten tritt,
der ihn schmerzt.
Sie sehen den unsichtbaren Kreis
um den Ziehbrunnen,
in dem wir uns drehn
wie in einem Gefängnis.
Jeder will den Quell
in dem eigenen Grundstück,
keiner mag in den Wald gehn.
Der Bruder wird nie
das Feuer wie Abel richten
und doch immer gekränkt sein.

Sie sehen uns wieder und wieder
aneinander vorbeigehn
die Minute versäumend.
Wir halten die Augen gesenkt.
Wir hören den Ruf,
aber wir heben sie nicht.
Erst danach.
Es macht müde zu sehn
wie wir uns umdrehn
und weinen.
Immer wieder
uns umdrehn und weinen.
Und die Bitten zu hören
um das Gestern Gewährte.
Nachts wenn wir nicht schlafen können
in den Betten, in die wir uns legen.
Sie sind müde
Vikare des Unmöglichen auf Erden
zu sein, des gestern Möglichen.
Sie möchten Brennholz
in einem Herdfeuer sein
und die Milch der Kinder wärmen
wie der silberne Stamm einer Ulme.
Sie sind müde, aber sie bleiben,
der Kinder wegen.
Sie behalten den goldenen Reif auf dem Kopf,
den goldenen Reif,
der wichtiger ist als die Milch.
Denn wir essen Brot,
aber wir leben vom Glanz.
Wenn die Lichter angehn
vor dem Gold,
zerlaufen die Herzen der Kinder
und beginnen zu leuchten
vor den Altären.
Und darum gehen sie nicht:
damit es eine Tür gibt,
eine schwere Tür
für Kinderhände,
hinter der das Wunder
angefaßt werden kann.

 

Als am Ostersonntag

die Kirchenglocken aus dem Tal die feierliche Stimmung bis zu Hilde Domins Hütte emportrugen, brachten sie vergessen geglaubte Bilder und biblische Motive zum Klingen. Hilde Domin holte ihr Gedichtfragment aus Spanien von 1956 und die 1957 weiterverarbeiteten Skizzen über die berühmte Karfreitagsprozession in Malaga hervor. Sie hatte Ostern 1956 noch im Bus auf der Rückfahrt ihre Eindrücke festgehalten. Im Oktober 1957 hatte sie diese Aufzeichnungen schon einmal hervorgeholt: Gestern wieder zum erstenmal das Heiligengedicht angesehen. Es ist mir noch sehr nah und regt mich auf – und doch so weit weg, schrieb sie ihrem Mann und fühlte sich nicht dazu motiviert, an dem Gedicht weiterzuarbeiten:

Man kann da nichts tun, als es liegen lassen.

Die opulenten Prozessionen der „Semana Santa“, der Karwoche, bilden den Höhepunkt der österlichen Feierlichkeiten in Andalusien. Von dumpfen Klagelauten begleitet und im dramatischen Wiegeschritt ziehen Bruderschaften und Legionäre durch die Straßen und tragen die „Pasos“, Schreine mit monumentalen Heiligenbildern, durch die Straßen. Oft auch, um die Buße zu erhöhen, auf ihren ausgestreckten Armen. Die Büßer haben entblößte Oberkörper, und obwohl manche dieser Schreine – wie man immer wieder berichtet – mehr als vier Tonnen wiegen, tragen die Legionäre sie mit scheinbarer Leichtigkeit, als ob sie für einen Augenblick / ihr eigenes Schwergewicht überwunden hätten. Unerlässlich sind die Reliquien, die bei Hilde Domin immer zwiespältiges Schaudern auslösten:

Sie wollen die Schädel und Finger einsammeln
und aus den Glaskästen nehmen
und
[…] zu den Kieseln am Fluß bringen.

Mit der Heiligenverehrung hatte sich Hilde Domin schon seit ihrer ersten Exilstation in Italien auseinandergesetzt. Die Jüdin konnte Mussolinis Anweisung überhaupt nicht nachvollziehen, dass in den italienischen Geschäften Bildnisse und Statuen der verehrten Muttergottes abgehängt wurden, weil Maria doch eine Jüdin war. Gehören zu einer Heiligenverehrung nicht die bedingungslose Anerkennung und die zuverlässige Anrufbarkeit? Wie lässt sich damit vereinbaren, dass die Heiligen ihre Schutzbefohlenen leiden lassen und die erbetene Hilfe nicht gewähren?
In den Bergen von Santo Domingo hatten die archaischen Beschwörungsriten der Einheimischen auch Hilde Domins Ängste und ihre Ehrfurcht vor der Natur freigesetzt, nachdem das große Erdbeben von 1946 Verwüstungen und Schrecken hinterlassen hatte. Nacht für Nacht waren Prozessionen von Einwohnern zur einsam gelegenen Wallfahrtskirche gezogen. Die Pilger in ihren einfachen, ungefärbten Baumwollkitteln, den „Promesas“, mussten einen gespenstischen Anblick geboten haben, wenn sie mit ihren brennenden Holzscheiten betend vor den kleinen Erdhügeln niederknieten, die jeder Bewohner vor seiner Hütte angehäufelt hatte: kleine Golgathas mit einfachen Holzkreuzen. Der Schrecken des Bebens hatte die Bewohner aufgewühlt. Glaube und Aberglaube wetteiferten, wenn die Einheimischen in die klaffenden Risse, die das Beben geschaffen hatte, alles warfen, was die Götter besänftigen konnte.

Sie hätten alles hineingeworfen um die Heiligen zu zwingen den Abgrund zu schliessen. Alles. Jeden der zur Hand war.

Den Bewohnern der dominikanischen Bergregion nicht unähnlich, füllte Hilde Domin in Astano die Gräben ihrer Einsamkeit mit eigenen Bildern aus der Vergangenheit und nahm in ihre Gedichte alles auf, dessen sie habhaft werden konnte. Den Müll entsorgte Hilde Domin in Astano im Wald, wo sie sich hinter einem alten Baumstamm ihre private Mülldeponie eingerichtet hatte. Mit schlechtem Gewissen und hadernd, dass man sich dem Luxus so leicht verschreibt. Entbehrungen und Überfluss reflektierte sie in Briefen an ihren Mann und gibt dieser Erkenntnis ganz konkret in dem Gedicht Raum.

Jeder will den Quell
in dem eigenen Grundstück,
keiner m
ag in den Wald gehen.

Möglicherweise fand so die Freude über ihr Los der Norddeutschen Klassenlotterie, mit dem sie in jenen Tagen zum ersten Mal 200 DM gewonnen hatte, auch ihre Nische.

alle Geschenke der fordernden Geber,
lassen sie in den Sakristeien,
das Los, das verlieren wird, unter dem Sockel.

Denn eine kindliche Annäherung an die Verehrung der Heiligen war Hilde Domin geblieben: Im unverdorbenen Staunen nur wird das Wunder begreifbar – im wörtlichen Sinne. Für Hilde Domin stand fest, dass die Heiligen bleiben, der Kinder wegen. / Sie behalten den goldenen Reif auf dem Kopf, / den goldenen Reif, / der wichtiger ist als die Milch. / Denn wir essen Brot, / aber wir leben von Glanz. Das Wunder muss sich immer wieder neu ereignen können, denn vor dem Gold / zerlaufen die Herzen der Kinder / und beginnen zu leuchten / vor den Altären / und darum gehen sie nicht: / damit es eine Tür gibt, / eine schwere Tür / für Kinderhände, / hinter der das Wunder / angefaßt werden kann.

Die religiöse Ehrfurcht, die diese Bilder bei Hilde Domin schon 1956 ausgelöst hatten, stellte sich auch am Ostersonntag 1959 wieder ein. Hatten die Prozessionen in Malaga theologische Reflexionen ausgelöst, so setzten die Manuskripte in Astano persönliche Erinnerungen frei. Schmerzend und nahezu unerträglich. Ihre Toten, die sie zu beklagen hatte und denen das Leben so wenig sanft begegnet war – kamen die nicht den Heiligen gleich? Sie hatte von Vater und Mutter Abschied nehmen müssen, doch es gab kein Grab, an das sie sich hätte niedersetzen und anlehnen können; der Wehmut darüber hatte sie schon 1955 in ihrem Gedicht „Ziehende Landschaft“ Ausdruck verliehen. Ihr Bruder John Lorden hatte Vater und Mutter ohne Absprache mit der Schwester einäschern lassen und die Urnen heimlich unter einem Obstbaum auf Long Island begraben. Es war keine zeremonielle Beerdigung, sondern ein symbolischer Akt: Nahe dem Lieblingsplatz des Vaters, am Rande des Waldes, dessen Anblick den Eltern so tröstlich gewesen war, und oberhalb des blühenden Gartens gab der Sohn den toten Eltern die Freiheit zurück, die das Leben ihnen nicht zugestanden hatte.

Die Heiligen in den Kapellen
wollen begraben werden, ganz nackt,
in Särgen aus Kistenholz
und wo niemand sie findet:
in einem Weizenfeld
oder bei einem Apfelbaum
dem sie blühen helfen
als ein Krumen Erde.

Doch im Grunde war das Heiligengedicht für Hilde Domin nichts anderes als die Klage über die Kinderlosigkeit, die seit 1940 nicht verstummt war. Die Abtreibung von 1940 und die Fehlgeburt von 1952 blieben eine nie heilende Wunde.
Ihrer Freundin Minne Bodenhorst vertraute Hilde Domin ihre Selbstinterpretation an:

Das Gedicht, weisst du, in dem die Heiligen Brennholz sein möchten, es ist, im Letzten, Letzten, sehr zugedeckt, die Klage um die Kinderlosigkeit. Die Heiligen wollen nicht vergöttert werden, wo sie doch nicht helfen können, sie wollen Brennholz sein um die Milch der Kinder zu wärmen. Worauf sie dann doch verzichten, weil die Kinder den Glanz brauchen, das Versprechen des Wunders. […] Was ich meine ist dies: in jeder Krise des Lebens, dem was die Spanier La Hora de La Verdad, die Stunde der Wahrheit nennen, habe ich Kinder gewollt. Am verzweifeltsten nach Mutters Tod. Es ist das Natürliche. Er wollte ja nie. Nicht nur, weil wir arm waren. Sondern weil man dann das Altern fühlt. Man hat einen Masstab für die Jahre. Weil es wie ein Abdanken ist. Weil ein Sohn vielleicht tut was man hätte selber tun wollen (der Arme, nun tu ich es. Das was er hat tun wollen…) Und auch, weil er mich nicht abtreten wollte an die Mutterschaft.

Auch die Bilder von Kain und Abel griff Hilde Domin wieder auf. Denn nach wie vor war auch dieser Konflikt ungelöst: Erwin Walter Palm verweigerte seiner Frau die Anerkennung als Schriftstellerin. Er hatte in Santo Domingo den Vergleich von Kain und Abel herangezogen und seinem Neid auf die Leichtigkeit ihres Schreibens Gestalt gegeben.

Weil jeder doch immer von Neuem
in den eigenen Schatten tritt,
der ihn schmerzt.
[…]
Der Bruder wird nie
das Feuer wie Abel richten
und doch immer gekränkt sein.
[…]
Sie sind müde, aber sie bleiben,
der Kinder wegen.

Hilde Domin packte alle Kümmernisse in dieses Gedicht und arbeitete kathartisch so auch gleich den nicht überwundenen Schmerz über den Tod ihrer Mutter ab. Mehr denn je war sie in jenen Tagen davon überzeugt, dass ihre Mutter Selbstvernichtung im Dienste eines andern betrieben hatte, um niemandem eine Last zu sein. Ob es ihre Mutter leid gewesen war, wie Vikare des Unmöglichen auf Erden zu sein, des gestern Gewährten? In der Einsamkeit von Astano schien es der Tochter angemessen, die Mutter auf ein Piedestal zu heben wie jene Märtyrer, die sich für ihren Glauben geopfert hatten. Die Parallele von der apotheocischen Wundertätigkeit der Mutter zu der eigenen, ihr vom Leben zugewiesenen Rolle war schnell gezogen. Sie selbst hatte in den vergangenen Jahren ihre Leidensfähigkeit zur Genüge bewiesen. In der gemeinsam verbrachten Zeit hatte sie Erwin Walter Palm ihren Beistand nie versagt. Sie hatte nahezu Wunder vollbracht, solange die Liebe ihr Antrieb war: In Italien durch Unterricht für den Lebensunterhalt gesorgt, durch ihr beherztes Engagement das Visum für Santo Domingo in England erwirkt, durch ihr resolutes Eingreifen die Abschiebung aus Jamaika verhindert, mit Bittgängen und Organisationstalent finanzielle Engpässe in der Dominikanischen Republik überwunden, Erwin Walter Palms Stipendium erreicht, die Einbürgerung nach New York ermöglicht – die Erwin dann zunichte gemacht hatte. Die Wunden über Erwin Walter Palms Affäre mit der Kubanerin Maria Luísa waren längst nicht vernarbt – die Rolle des Märtyrers ihr nicht fern.

Sie verstehen zu leiden,
das haben sie bewiesen.

War es nicht längst an der Zeit, die Rolle der Wundertäterin aufzugeben?

„Ich gebe mich geschlagen. Du siehst, ich reiche nicht hin, die Welt von dir abzuhalten. Ab heute musst du dein Teil an allem tragen.“ Das verzieh er ihr nie. Jahrelang kam er über die Enttäuschung nicht hinweg, dass sie ihm damals die Spielregel aufgesagt hatte. […] Der Heilige, der das Wunder nicht liefert, auch nach Nötigung nicht liefert, ist für den Gläubigen nur noch ein Verräter. Überläufer zur Wirklichkeit. An die Wand mit ihm.

Ein halbes Jahr nach ihrem Aufenthalt in Astano thematisierte Domin dieses Dilemma auch in ihrem Roman. Musste sie sich dafür tadeln, dass sie versucht hatte, Erwin Walter Palm Schlösser sehen zu machen, wo Dörfer sind? Im Exil in Santo Domingo war sie überzeugt gewesen, das Reine und Göttliche zu sein, ein Gefäß, aus dem sich schöpfen ließ, eine Flamme, die nährte. War es Eitelkeit oder Schuld, fragte sie sich nun, dass sie sich Palms unentwegten Forderungen nur deshalb nicht widersetzt hatte, weil er sie dafür auf ein Podest gehoben hatte? Er gab mir, anstelle des Kindes, göttliche Ehren. Es war anstrengend aber schön, sie / anzunehmen. Piedestal und Blumen – sie ließ auch ihren Bruder John Lorden an ihren Selbsterkenntnissen Anteil nehmen. Doch nun war sie müde. Erschöpft. Müde wie die Heiligen.

Doch sie sind müde,
auf den Podesten zu stehn
und uns anzuhören.
Sie sind wund vom Willen zu helfen,
[…]
Sie sind müde
Vikare des Unmöglichen auf Erden
zu sein, des gestern Möglichen.

Sie war nicht länger in der Lage, aber auch nicht länger gewillt, Erwin Walter Palms Anspruch auf sie als Wundertäterin zu genügen.

Es macht müde zu sehn
wie wir uns umdrehn
und weinen.
Immer wieder
uns umdrehn und weinen.
Und die Bitten zu hören
um das gestern Gewährte.

Zum kreativen Schreiben fand Hilde Domin deshalb in Astano erst, nachdem sie ihrem Mann in einem langen Briefgespräch ihre Gedanken und Selbstvorwürfe auseinandergesetzt hatte, mit denen sie sich seit Jahren belastet hatte. Sie ging sogar noch einen Schritt weiter: Erwin Walter Palm hatte ihr den Glauben an ein Leben nach dem Tod genommen. Er hatte ihr die Hoffnung genommen, in ihren Kindern weiterleben zu können. Weiterleben wollte sie deshalb in ihren Gedichten. Schreiben war Atmen. Und dass er diesen Atem zu ersticken versuchte – das kam für sie dem Brudermord gleich.

der Bruder wird nie
das Feuer wie Abel richten
und doch immer gekränkt sein.

Den Brief an ihren Mann ließ Domin, ganz entgegen der ihr eigenen Impulsivität, zehn Tage ruhen. Dann erst schickte sie ihn nach Spanien ab. Dieser Brief enthält die Schlüsselerkenntnis für ihr Wirken als Dichterin. Sie hatte sich alle Last von der Seele geschrieben und war nun bereit für das „Wort“, das ihr heilig wurde. Mit dem sie leben und sterben wollte, solange es bei ihr blieb.
Hilde Domin verdankte ihr Überleben, dass sie nie im Schmerz verharrte; nach Wehmut und Klagen bahnte sich die Kraft für das „Dennoch“ ihren Weg, weil sie die Fähigkeit besaß, selbst dem Elend noch Trost abzugewinnen. Neben Leiden und Dulden hatte sie bei den Prozessionen in Malaga Trost und Zuversicht in der Ergriffenheit und dem Glanz in den Augen der Kinder gesehen. An dieser Sehnsucht nach Hoffnung wollte auch sie festhalten. Denn nur deshalb bleiben die Heiligen. Und deshalb blieb Hilde Domin bei Erwin Walter Palm.

Und darum gehen sie nicht:
damit es eine Tür gibt,
eine schwere Tür
für Kinderhände, hinter der das Wunder
angefaßt werden kann.

Wir essen Brot, aber wir leben vom Glanz. Die Heiligen halten etwas wach, was ganz immateriell ist und nicht verloren gehen darf. Die Heiligen werden gebraucht, weil sie das personifizierte Wunder sind, das den Glanz greifbar macht. Ihren Aufenthalt in Astano beendete Hilde Domin am 11. Mai 1959. Dann reiste sie Erwin Walter Palm nach Spanien hinterher.
Ihr Gedichtband war fertiggestellt. Einem Vermächtnis gleich, unterlegte sie ihn in Astano mit dem Motto, das der Schwere ihres Lebens immer Leichtigkeit entgegenzusetzen vermocht hatte:

Dando voy pasos perdidos
por tierra, que todo es aire
(Verlorene Schritte tu ich auf Erden, denn alles ist Luft).

Lope de Vegas stellte sie dem ersten Teil ihres Gedichtbands voran. Doch im zweiten Teil trotzte sie ihm mit ihrem eigenen Motto:

Ich setzte den Fuss in die Luft, und sie trug.

 

Marion Tauschwitzaus Marion Tauschwitz: Hilde Domin – Das heikle Leben meiner Worte, VAT Verlag André Thiele, 2012

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