Michael Braun: Zu Ulrich Kochs Gedicht „Sechsundzwanzigster Mai“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ulrich Kochs Gedicht „Sechsundzwanzigster Mai“ aus Ulrich Koch: Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text. –

 

 

 

 

ULRICH KOCH

Sechsundzwanzigster Mai

Als nachts um ein Uhr das Telefon klingelt,
weiß ich es.

Als ich diesen einen Film sehe,
lebt mein Vater noch.

Als ich den Film in der Wiederholung noch einmal sehe,
lebt er nicht mehr.

Als ich dieses Brot esse,
ist er schon lange fort.

Als ich auf diesem Feldweg fahre,
ist es erst Stunden her.

Als ich auf diesem Bild in die Kamera schaue,
lebt er noch.

Als ich dieses Gedicht schreibe,
als ich dieses Gedicht lese.

Als ich lebe.
Was ich nicht weiß.

 

Ulrich Kochs Gedichte sind Vergänglichkeitsmarker.

Sie zeichnen die Umrisse jener Augenblicke nach, in denen unser Leben in den Bannkreis der Sterblichkeit gerät, dem dann nicht mehr zu entkommen ist. Einen solchen Moment des Übergangs von einer scheinbaren Alltagssicherheit in das Fatum der Mortalität bezeichnet auch das vorliegende Gedicht, das gleichsam kalendarisch den Skandal des gerade heraufziehenden und dann auch eintretenden Todes in seiner Unentrinnbarkeit festhält. Mit der Auflösung der Grenze zwischen erinnertem und erlebtem Augenblick soll die Zeit stillgestellt werden. Der Text, der in jeder Strophe mit der temporalen Konjunktion „Als“ anhebt, lehnt sich auf gegen die Todesfaktizität, will durch präsentische Gebärde den tödlichen Augenblick aufschieben und produziert eine Folge von Momentaufnahmen, in denen sich das unabwendbare Ereignis vollzieht. Auch in seinem neuen Gedichtband Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text (2021) führt uns Koch wie in früheren Büchern auf die erdabgewandte Seite der Geschichte, in leere Hinterhöfe oder verwaiste Buswartehäuschen am „Wendehammer“, wo Nachtmahre, Albträume und die Schrecken einer sinnleeren Alltäglichkeit lauern. Das einsame Ich dieser Gedichte tendiert dazu, sich selbst zu annihilieren und auch die eigene dichterische Tätigkeit zu delegitimieren. In ihrem melancholischen Weltgefühl gleiten Kochs Helden in einen Zustand der fortlaufenden Aushöhlung ihrer Existenz, es geht ein Riss durch die Welt, in der die Figuren keinen Halt mehr finden. Die Zeit ihres Lebens verrinnt und selbst das Schreiben kann nicht verhindern, dass das Ich immer mehr aus den Fugen gerät und „nicht (mehr) weiß“, wie die sinnliche Gewissheit, da zu sein, noch herstellbar ist. Dennoch erscheint hier das Schreiben als die einzige Tätigkeit, die überhaupt ausgeführt zu werden verdient.

Michael Braun, Volltext, Heft 2, 2021

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