Neue ungarische Lyrik

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch Neue ungarische Lyrik

Neue ungarische Lyrik

KAMPF MIT DEM VOGEL

Noch heißere Küsse, noch glühendere Worte wären
aaaaageflüstert nötig,
Selbsthingabe mit noch höherer Frequenz.
Und Liebe Liebe Liebe
mit unversiegbaren Vorräten,
Damit sich auch die Lieblosen bis zum Hals damit
aaaaavollstopfen können.

Und hast du alle Geschmäcker geschmeckt,
aaaaakann es da noch einen geben, den du nicht kennst,
Und gerade der ist der schmackhafteste.
aaaaaUnd hast du alle Farben gemischt,
kann es da noch eine geben, die du nicht kennst,
Und gerade die ist die farbigste.
Und wenn du alle Formen geformt hast,
aaaaakann es da noch eine geben, die du nicht kennst,
Und gerade sie ist die formschönste.

Sahst einen Vogel im Garten deiner Kindheit, hörtest ihn singen.
Wolltest den Vogel fangen, doch er flog weg,
aaaaaließ nur eine, zwei Flügelfedern in deiner Hand.
Und so mußt du ihn fangen, ihn aufs Papier
aaaaamit dem bläulichen Schattenspiel seiner Flügelfedern bannen.
Damit er umherfliege und singe,
Wie er in jenem Garten umherflog und sang,
In dem nach Quittenblüten duftenden Garten deiner Kindheit.

Der Vogel flog davon. Sein Lied erschallt nicht mehr.
Doch sicher kehrt er wieder, gewiß! Ein einziges Mal
aaaaakehrt er wieder gewiß!
Ergreif ihn dann, bind ihm die Füße
aaaaaund schling eine Schnur um dein Handgelenk,
aaaaadamit er dich nie wieder verlassen kann!
Du gehst auf die Vierzig zu. Mach keine Kompromisse!

Sándor Rákos
Übersetzung: Uwe Greßmann

 

 

 

Vorwort

Kann es sein, daß wir nach dem Zeitalter der nationalen Dichtung in das der weltweiten einzutreten beginnen? Ist es möglich, daß wie in so vielem, auch in der Dichtung der Zweite Weltkrieg die Wende bedeutet, das Ende einer Epoche (oder einer Welt) und den Beginn einer neuen – und daß dadurch mit dem Beginn dieses sich langsam (oder immer schneller?) entwickelnden Neuen auch der zeitliche Beginn unserer Anthologie zusammenfällt? Dies sind Fragen und Hypothesen, auf die nur die Zukunft der Dichtung Antwort geben, die sie vielleicht sogar bestätigen kann. Aber präsentiert nicht die Dichtung der verschiedenen Sprachen und Traditionen schon heute überall dermaßen verwandte Fakten wie konvergente Richtungen, in denen erste Anfänge einer bejahenden Antwort und erste nachdrückliche Argumente künftiger Bestätigung spürbar werden? Vor hundert oder auch nur fünfzig Jahren war an einer „nationalen“ Anthologie für „die anderen“ in erster Linie das interessant, was sich unterschied, das national Besondere, ja sogar das Folkloristische. Heute ist es umgekehrt. Auch im national und sprachlich Verschiedenen sucht und schätzt man vor allem das „Gemeinsame“: was im anderen Dialekt, in der nationalen Sprache (und dazu gehören Natur, Sehweise, Tradition usw.) dem gemeinsamen menschlichen Erleben Ausdruck verleiht.
Dieses „gemeinsam“ Menschliche ist nicht (zumindest nicht ganz) identisch mit dem sogenannten „allgemein Menschlichen“. Es ist ja nicht so, daß der „neue“ Dichter (der nach 1945) und die „neue“ Dichtung keine philosophischen und metaphysischen Probleme mehr hätten; doch werden sie nicht mehr auf einer abgehobenen, theoretischen Ebene aufgeworfen, als Themen dichterischer – oder philosophischer – Meditation, sondern „existentiell“ im wahrsten Sinn des Wortes, mit dem vollen Engagement der Persönlichkeit, nicht mit einer rhetorischen Lösung, sondern mit dem Anspruch und dem Gebot einer „onthologischen“ Lösung (oder zumindest mit dem Ringen danach).
Was an „Gemeinsamem“ kann die ungarische Lyrik nach 1945 in „ihrer Sprache“ zum Ausdruck bringen, und was kann sie zum Gemeinsamen beitragen? Das zu entscheiden, bleibt dem Leser überlassen. Hat diese Lyrik, weil sie ungarisch ist, eine besondere Ausstrahlung, ein eigenes Gepräge, auch dann, wenn sie Gemeinsames ausspricht? Wahrscheinlich schon. Was das nun ist und wie es ist? Seit es der ungarischen Lyrik gelungen ist, durch das Überwinden der Beschränkungen einer Sprache ohne weitere Verwandtschaft, in mehr oder weniger genießbaren Übersetzungen vor die Weltöffentlichkeit zu treten, machen jene, die sich damit befassen, sich im allgemeinen folgendes Bild von ihr: eine ihrer auffallendsten Besonderheiten ist gewiß die, daß sie, verglichen mit der Kargheit der modernen Lyrik, einen tropischen Reichtum an Bildern aufweist, wohl nicht in der Art der willkürlichen Bildphantasie des Surrealismus, sondern auf eine realistischere Weise – oder in extremeren Fällen vergleichbar dem Wuchern einer urtümlichen Vegetation. Es gibt Leute, für deren Geschmack die ungarische Lyrik auch in ihren „modernsten“ Varianten zu „thematisch“ und in ihrer Irrealität und in ihrem Surrealismus noch zu realistisch ist. Und es gibt andere, die jenen Typ des „National-Dichters“, der als Wortführer seines Volks und als die berufene „wachsame Seele“ inmitten von historisch-sozialen Unbilden auftritt, für eine romantische (und rhetorische) Spezialität halten.
Diesen Meinungen läßt sich leicht antworten, ohne auch nur einen Schatten von Apologie-Verdacht auf sich zu ziehen. Erstens, daß der nationale Dichter ein Typus ist, der von den besonderen gesellschaftlichen Verhältnissen der ost-mitteleuropäischen Völker mehr oder weniger notwendig geprägt worden ist, und den man ohne Kenntnis dieser Verhältnisse auch nicht recht verstehen kann; – zweitens, daß nicht nur ein Weg sozusagen „empor“ zur „Surrealität“ führt, sondern daß es auch einen „hinab“ gibt, in die in ihrer ganzen Gedrängtheit erlebten Realität; – oder was das Bildliche, wenn man will das Metaphorische betrifft, daß die Frage der „Modernität“ nicht vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Bildes abhängt, sondern von der „Qualität“; wenigstens sehen wir diese Dinge so. Aber, was beinahe ein viel wesentlicheres Moment ist: uns scheint es, daß der ungarische Dichter in der Lyrik, im Gedicht auch noch in den Sphären, die dem Schweigen am nächsten sind, mehr Wert auf das „Machen“ legt; vielleicht hat sich in unserer Praxis, oder noch tiefer, in unserem Instinkt, der Schöpfungscharakter stärker erhalten – das Bewußtsein: Es genügt nicht „zu bekennen“ oder „aufzuschreiben“ oder vielleicht gar „zu schweigen“, sondern daß all das, mit wie geringen Mitteln und wie puritanisch auch immer, gemacht, geformt, daß es erschaffen werden muß. Die Dichtung ist nicht nur Ausdruck, sondern auch Schöpfung: geformter Ausdruck.
Doch wie eine Dichtung wirklich ist, kann niemals durch eine notwendigerweise mangelhafte und skizzenhafte Charakterisierung erlebt werden, sondern nur durch die unmittelbare Begegnung mit ihr. Die Charakterisierung vereinfacht alle Experimente, und sie ist auch dazu gezwungen; tut sie es nicht, verliert sie sich in der Vielfältigkeit des Stoffes, den sie zu charakterisieren versucht. Und daß die ungarische Lyrik auch heute noch vielfältig und vielfarbig ist, auch wenn es unmöglich ist, den tiefen Strom der „Konvergenz“ in ihr nicht zu bemerken, das wird vielleicht auch aus dieser Anthologie für den Leser spürbar.

György Rónay
Übersetzung: Barbara Frischmuth

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope

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