Nicolás Guillén: Bitter schmeckt das Zuckerrohr

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Nicolás Guillén: Bitter schmeckt das Zuckerrohr

Guillén-Bitter schmeckt das Zuckerrohr

DAS LEBEN BEGINNT ZU EILEN…

Das Leben beginnt zu eilen
wie ein Strom von der Quelle her;
zuweilen steigt das Flußbett,
zuweilen steigt das Flußbett,
und manches Mal bleibt es leer.

Vom Wasserquell, der hervorquoll,
um Leben zu geben dir,
ach, nicht ein Tropfen verblieb,
für mich kein Tropfen blieb:
aus trank es die Erde mir.

Obwohl du sagst, es ist nicht so,
die Welt weiß, daß es so ist:
vom Wasserquell, der hervorquoll,
um Leben zu geben dir,
kein Tropfen geblieben ist.

 

 

 

Vorwort

Zukunftweisend steht über einem Kontinent das Freiheitslied der Neger und Mulatten Kubas: das Werk von Nicolás Guillén. Klagegesang einer entrechteten alten Rasse; bewegte Strophe, die das Rauschen des Karibischen Meeres und das Schweigen der Wildnis einfängt. Kämpferischer, rebellischer Herzschlag eines proletarischen Humanisten, der mit seiner Tat, seinem zeugenden Wort den Nöten, dem Traum und Mut, dem sozialen Handeln der einfachen Menschen seiner Heimat verwachsen ist, den Personen auf Plantagen, den Zuckerrohrschnittern, den Verladern und Ruderern der Schiffe auf Flüssen und Meer.
Selber kubanischer Neger, erlebte Nicolás Guillén die Verachtung und Schändung seiner Rasse am eigenen Leibe. Sein im Grunde heiteres Herz, das mit den Antillenkindern unbekümmert sich freuen kann, das an die Einsamkeit einer Palme im Hinterhof denkt, dieses Herz ist heute das ernst und zornig tönende, das freudevoll und unbesiegbar erklingende aller dunklen Völker auf den hundert Inseln der Karibischen See und den andinischen Küsten. Er spricht von seines Volkes „kubanischer Farbe“, der Farbe aus Dunkelheit, Leid und Grimm. Sie wird in seinen Gedichten zur Hautfarbe der gesamten Menschheit, die in Freiheit und Brüderlichkeit leben will. Mit seinem ganzen Wesen nimmt er teil am Geschick seines Volkes auf einer Erde, die ihm nicht gehört. Hellen und scharfen Verstandes greift er jene an, die es leiden lassen: den ehemaligen und den modernen Sklavenhalter, den korrumpierenden Touristen und den Yankee, diesen fernen, doch allgewaltigen Herrn von Kuba.
Und mit der Weisheit alter Ironie, Erbgut des einfachen kubanischen Volkes, das mit burlesken Strophen und Songs in Tavernen und auf Tanzfesten den Weißen, seinen Herrn und Unterdrücker, verspottet, trifft er sie alle, die das Sklavendasein der Neger aufrechterhalten: die Statthalter fremder Macht wie den Unterwürfigen im eigenen Volk. Des Negers und Mulatten grausamer Tag im Zuckerrohrfeld, ihr Kampf und Aufbegehren, ihr befreiendes Lachen, ihre erdhafte Freude an der Schönheit der Negerin, der sinnlichen Kraft der Mulattin gehen in Guilléns Dichtung unmittelbar ein. Der Dichter durchmißt Gegenwart und Vergangenheit seines Volkes. Dessen schwere, aber auch heroische Geschichte erzählen uns viele seiner Strophen. Neger und Spanier, seines Volkes Ursprung, spannen die Erlebniswelt weit: so auch erfährt der Dichter das Geschick der Völker Europas real und als eigenes: der Kampf des spanischen Volkes um seine Freiheit wird zum Gegenstand der einheimischen Geschichte Kubas. Nicolás Guilléns Anteilnahme am Geschehen unserer Zeit, seine Gesinnung erwachsen vollkommen und natürlich aus geschichtlicher Verbundenheit und gelebter Erkenntnis.
Alter Volksglaube, mit den Gewalten der Flüsse, Lagunen und Urwälder lebendig verbunden, wird zur echten, dunkeltönenden Volksballade: „Sensemayá“, „Ballade vom Schwarzwasserkobold“. Doch kehrt seine Strophe, und das ist in den Ländern der Tropen bedeutungsvoll, das Verhältnis von Mensch und einer fast unumschränkt herrschenden Natur von Grund auf um. Dort war noch immer der Mensch der Leidende, das Opfer von Plagen und Glut, besiegt von den Tropen, der Grausamkeit, Gefahr und Undurchdringbarkeit der Wälder: ein zentrales Thema südamerikanischer Schriftsteller. Guillén weiß, daß diese Ohnmacht des Eingeborenen aus seiner technischen Rückständigkeit, aus der kolonialen und sozialen Unterdrückung entstand, die des Menschen Naturunterworfenheit verewigen will. Aus seinen Gedichten aber spricht schon der Stolz über eine bezwungene Natur, die, nun dienstbar, des Negers Freund ist. Und seine Strophen besingen die Urwaldlandschaft, die ihren Bewohnern Freude gibt, Kraft und Klarheit des Geistes, Ursprünglichkeit und Echtheit, die Unbändigkeit des Blutes und den Willen zur Freiheit: „Worte in den Tropen“, „Urwaldtrommel“, „Turiguano“, „Ankunft“. Die Schönheit des heißen Landes, des Tropengürtels, der von den darbenden, fieberbefallenen Eingeborenen noch gehaßt und verachtet wird, dringt in Wort und Rhythmus ein, gründet in mitreißender Melodie und elementarer Kraft die Liebe zur Heimat.
Europa erlebte über Epochen die Natur wie selbstverständlich: An der Seite des Menschen ist sie, hier von seiner Hand, von Pflug und Sense bewältigt, obwohl der auf ihr Schaffende von ihrem Segen durch Geschlechter ausgeschlossen blieb, seine Stätte. Wald und Baum leben einbezogen in die Gefühlswelt des Volkes, in Liebeslied und Tanz. Die Linde rauscht durch hundert alte Verse. Anders dort: der Dichter muß mit seinen Rhythmen erst die stumme Wand des Urwaldes durchbrechen, damit Ebenholz und Acañastamm teilnehmen am Leben, am Heim des Mulatten, an seiner Liebe und seinem menschlichen Tod.
Nie vergessen Guilléns Verse, selbst in ihrem gerechten Hassen nicht, den menschlichen Horizont, der zu erreichen bleibt: das glückliche Leben des Volkes. Aus tiefer Friedensliebe erstehen die Lieder für Soldaten, die in der Dichtung der Weltliteratur einzig sind in ihrer Schlichtheit und dichterischen Überzeugungskraft.
Nicolás Guilléns Werk ist große Dichtung, die die Dinge beschwört, sie bannt, ihnen Dauer verleiht. Er geht an Menschen, Leben und Erscheinungen nahe heran. Kennt sie. Durchdringt sie. Nimmt sie bewußt und stark auf. Nie macht seine künstlerische Gewissenhaftigkeit Konzessionen ans Leichte und Flüchtige. Wenn Schlichtheit und Einfachheit seines Verses den Eindruck des Spontanen erwecken, so steht doch intensive Arbeit hinter der Gestaltung seiner Welt und der Formung seiner Lyrik. Starke Quellen speisten zu Beginn sein Schaffen. Wir spüren in den frühen Songs den harten Tonfall Villons („Gesang von den verlorenen Männern“), die Farbensattheit Baudelaires und dann vor allem die ursprüngliche Kraft afrikanischer Folklore, die metallische Geschmeidigkeit der spanischen Romanze, die spöttische Helle der Volksgesänge, zur dreisaitigen kubanischen Gitarre gesungen. Das ist das Erbgut, aus dem der Guillénische Vers hervorging, der eigenmächtig und eigenschöpferisch, niemals jedoch individualistischer Hang ist, eher die Anonymität des großen epischen Gesanges hat.
Die Gedichtgruppe „Sóngoro Cosongo“ und die Spottverse Cantalisos sind ohne den harten Akkordschlag der Gitarren, ohne den Bänkelsängerton aus kubanischen Tavernen nicht zu denken. In den groß angelegten politischen Dichtungen „Mild ist mein Vaterland von außen“, „Die erwartete Stimme“ und „West-Indien & Co.“ durchdringen einander der Ernst epischer Rhythmik, der Volkston der Songs, die direkte Aussage und starke dichterische Bildhaftigkeit im lebendigen Wechsel. Die Negerfolklore wird in seinem Band „Sóngoro Cosongo“, der 1931 erschien und in der spanisch sprechenden Welt sofort seinen Dichterruhm begründete, zur Dichtung von Weltbedeutung. Sein letztes Werk, eine Elegie, die er dem von einem Offizier ermordeten kubanischen Führer der Zuckerarbeiter, Jesús Menéndez, widmet, gehört zu den stärksten dichterischen Gestaltungen politischen Lebens unserer Zeit. In der neuen lateinamerikanischen Literatur ist der siebenundvierzigjährige Dichter eine der reichsten und reifsten Erscheinungen.

Vorwort

 

Gesänge von den Antillen

Jedes Volk hat seine eigene Sprache, jede Sprache ihre eigenen Versmelodien. Unter der Sonnenglut der Antillen, wo der Schweiß versklavter Neger in die Zuckerrohrfelder tropft, hat das Spanische, das dort neben der Sprache der Eingeborenen gesprochen wird, einen herben metallischen Klang, gemischt aus „Dunkelheit, Leid und Grimm“ erhalten.
Nicolás Guillén ist der Volksdichter der Antillen: er hat den grimmigen Aufschrei seiner schwarzen Brüder und Schwestern in die vitale Schwermütigkeit seiner Gesänge gegossen. „Mein Vaterland ist mild von außen“, singt er, „im Innern voller Bitternis und Schmerzen.“ Der Versband dieses Dichters enthält im gestanzten Rhythmus der Gesänge die ganze Farbpalette der tropischen Landschaft und die trotz kolonialer Ausbeutung elementare Kraft der Antillenbewohner.
Viele von diesen Versen, die durchgängig von volkstümlicher Eigenart und bänkelsängerischem Charakter sind, läßt die deutsche Sprache nicht in ihrer vollen Kraft und Schönheit klingen. Aber Erich Arendt, der die Uebertragung besorgte, läßt trotzdem mehr als den reinen Wortsinn erstehen, er gibt zugleich auch dem Dichter plastische Gestalt.
„Zwischen den Zähnen die Morgenhelle und die Nacht im Haar“ begegnet er uns in jedem Vers. Es sind Verse von satter Sprachschönheit, geschöpft aus einem Bilderreichtum, der sich in Verszeilen, wie diesen offenbart:

Von deinen Händen tropfen die zehn Nägel deiner Finger wie ein Bündel maulbeerfarbener Trauben.

Zugleich sind sie Lobgesänge auf die Heimat des Negers, auf die „dunkelhaarige Frau aus bitterem Fleisch“, auf das „struppige vielköpfige Volk aus Kupfer“, dessen Glieder der mächtige Rhythmus der Urwaldtrommel hart und geschmeidig erhält. Nicolás Guillén, dessen Ruhm bei den spanisch sprechenden Völkern längst begründet ist, hat sich mit diesem Gedichtband auch bei um einen sicheren Platz erobert.

K. R. D., Neue Zeit, 27.2.1953

 

Negerfolklore und politische Lyrik

im Werk von Nicolás Guillén

Die Umfunktionierung des afrokubanischen Son zum politisch-revolutionären Song
An einem Januartag des Jahres 1948 wurde der populäre kubanische Arbeiterführer Jesús Menéndez in der Stadt Manzanillo hinterrücks von einem Kapitän der Landgendarmerie erschossen. Dieser Mord war das Vorspiel zu einer Reihe von Gewaltakten, mit denen der Expräsident Batista sein Comeback auf die politische Bühne einleitete. In der Tat gelang es ihm 1952, durch einen Militärputsch der in den letzten Zügen liegenden bürgerlich-parlamentarischen Demokratie den Todesstoß zu versetzen und sich zum Diktator über die Zuckerinsel aufzuschwingen. Batista, der im Auftrag der USA-Monopole und der einheimischen Magnaten eine grausame Gewaltherrschaft errichtete, machte den Kapitän Casillas zu einem seiner Paladine und blutrünstigsten Kettenhunde.
An einem Januartag des Jahres 1959 sah sich ein hoher Offizier ohne Schulterstücke einem Exekutionskommando der Truppen Fidel Castros gegenüber. Ihn ereilte die Strafe für das Martyrium vieler Tausender Kommunisten, Arbeiter und Studenten und für den Mord an dem Führer der kubanischen Zuckerarbeitergewerkschaft Jesús Menéndez, denn der Mann, der da erschossen wurde, nachdem ihn ein Standgericht zum Tode verurteilt hatte, war der einstmalige Landgendarmeriekapitän Casillas.
Es werden viele gewesen sein, die dieses schmähliche Ende Casillas’ herbeigewünscht hatten, aber kaum jemand hätte es vorauszusagen gewagt. Es gab allerdings einen, der den nach Batista wohl meistgehaßten Mann der Insel bereits Jahre zuvor in dem 1951 beendeten Versepos Elegie auf Jesús Menéndez literarisch angeklagt, vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und exekutiert hatte: der Dichter Nicolás Guillén. Die fast wörtliche Erfüllung seiner literarischen Voraussage mag Zufall sein. Dennoch ist diese Episode in mancher Hinsicht für Guillén bezeichnend.

Nicolás Guillén wurde 1902 in Camagüey als Sohn eines Veteranen der Unabhängigkeitskriege gegen Spanien und nachmaligen Senators geboren. Sein Vater, der als demokratischer Politiker und revolutionärer Publizist in der Provinzhauptstadt wirkte, opponierte gegen die konservativ-reaktionären Regimes, die sich in Kuba nach der Erringung der formalen Unabhängigkeit etablierten, und wurde 1917 bei einem Aufstandsversuch von der Regierungssoldateska ermordet. Nicolás, mußte als ältester Sohn nach dem Tode seines Vaters die vielköpfige Familie unter großen Entbehrungen und Opfern ernähren. Als Mulatte und Sohn eines bürgerlich-demokratischen Revolutionärs fiel es ihm schwer in dem von einer konservativen weißen Oberschicht beherrschten Land beruflich und gesellschaftlich vorwärtszukommen.
Diese persönliche Misere spiegelt sich in seinen frühen Dichtungen wider. Der nicaraguanische Dichter Rubén Darío – Begründer und Haupt des lateinamerikanischen Modernismo – war sein Vorbild. Allerdings kultivierte er nicht die antiimperialistischen und bodenständigen Elemente im widerspruchsvollen Werk des Meisters, sondern, wie er später erklärte, den „schlechten Dario“, der die Kunst als Vehikel benutzte, um aus der tristen Realität in eine großzügig mit Prinzessinnen, Marquisen, Libellen, Seen und makellosen Schwänen bevölkerte Scheinwelt zu fliehen.
In seinem realen Leben versuchte Guillén, trotz aller Widerwärtigkeiten seinen Weg zu gehen. Er besuchte Abendkurse, machte das Abitur und ging 1920 nach Havanna, um Jura zu studieren. Hier, in der kosmopolitischen, bereits weitgehend kapitalisierten Metropole, in einer entfremdeten, korrupten, dem Profit nachjagenden Gesellschaft erlebte er den „Tanz der Millionen“, den großen Zuckerboom nach dem ersten Weltkrieg. Der Studienbetrieb ernüchterte ihn, enthüllte ihm eine prosaische, eintönige Zukunft als Advokat, die so gar nichts gemein hatte mit seinen hochfliegenden Plänen von einer glänzenden beruflichen und literarischen Laufbahn.
Als sich Guillén so unversehens mit der Realität konfrontiert sah, an der seine Ideale zerschellten, brach er beides ab, das Studium wie das Dichten, und ging zurück in die Provinz. Fünf Jahre lang wird er keine Zeile mehr dichten. Was von dieser ersten Zeit bleibt, ist eine nahezu virtuose Beherrschung aller bis dahin traditionellen Formen der Lyrik.
In Camagüey scheiterte er erneut. Eine von ihm 1923 herausgegebene Zeitschrift, die der Verbreitung der Kultur in der Provinz dienen sollte, ging mangels Abonnenten nach einem halben Jahr ein. Er mußte sich mit subalternen Stellungen in Verwaltung und Presse begnügen. Besseres hätte man nicht für ihn, so wurde ihm bedeutet, „solange er nicht die Hautfarbe wechsele“. Er erkannte immer klarer, daß die Rassendiskriminierung eine wesentliche Ursache seiner Misere war. Aber erst allmählich erwuchs ihm aus dieser Erkenntnis der Wille zum verändernden Handeln.
Als 1925 mit dem Präsidenten Machado die Liberale Partei die Regierung übernahm, erhielt Guillén einen Posten in einem Ministerium in Havanna. Die Hauptstadt hatte sich inzwischen stark verändert. Staunend sah der Provinzler die materiellen Zeugen technischen Fortschritts: Autos und Asphaltstraßen, Flugzeuge, Wolkenkratzer, Filmtheater. Es schien ihm, als ob diese Technik eine neue Poesie in sich trage, das Leben verbessern und mit Schönheit erfüllen könne. Aus dem Staunen wurde Hingabe, und ab 1927 begann er wieder zu dichten: von Flugzeugen, Autos, Maschinen, vom Großstadtrhythmus, dessen Dynamik so sehr von der idyllischen Ruhe der Provinz abstach. Zur Abbildung dieser Welt genügten die überkommenen literarischen Mittel nicht mehr: Guillén dichtete in der Manier des Vanguardismo, der kubanischen Variante von Futurismus, Kubismus und all den anderen Ismen, die nach dem ersten Weltkrieg zu wuchern begannen.
Aber bei dieser lyrischen Fixierung der Technik gingen der Mensch und seine gesellschaftlichen Probleme verloren. Guillén mußte feststellen, daß die Technik für sich genommen keinen wesentlichen Gewinn bedeutet. Auch in dem modernen Havanna dauerte die Rassendiskriminierung nicht nur an, sondern verschärfte sich ständig. Machado – inzwischen Diktator – förderte die Rassentrennung bewußt, um Uneinigkeit unter den Volksmassen zu säen. Unter seiner Herrschaft setzten sich die nordamerikanischen Monopole und Banken wie eine Landplage in Kuba fest und importierten mit dem ständig anschwellenden Touristenstrom die in den Vereinigten Staaten herrschende extreme Form der Rassendiskriminierung.
Innerhalb des immer heftiger aufflammenden revolutionären Kampfes gegen die Diktatur begannen auch die Farbigen – unterstützt von der keine Diskriminierung duldenden Arbeiterbewegung –, sich energischer zur Wehr zu setzen. Guillén eröffnete 1929 im Diarío de la Marina, einer der größten Zeitungen Havannas, zusammen mit anderen farbigen Intellektuellen eine großangelegte Kampagne für die Gleichberechtigung der Farbigen in Kuba. Seine Artikel legten nicht bloß die Rassenfrage dar, sondern verfolgten das Ziel, die Bevölkerung zur Lösung dieses Problems zu bewegen. Freilich war die Diskriminierung für ihn damals vorwiegend ein psychisches und moralisches Übel. Er glaubte, die Barrieren zwischen den Rassen würden bereits fallen, wenn man den Menschen das Unrecht und den Widersinn der Rassentrennung eindringlich klarmachte. Außerdem sah er die Rassenintegration als ein kulturelles Problem: Die reiche Folklore, die Tänze, Gesänge, Mythen und religiösen Riten der Farbigen sollten zum unverlierbaren Besitz aller Kubaner und Bestandteil ihrer Nationalkultur werden.
Von dieser journalistischen Auseinandersetzung gingen starke Impulse für sein dichterisches Schaffen aus. Als 1930 in einer Zeitung Havannas eine Reihe von Gedichten Guilléns mit dem Titel Motivos de son erschien, in denen er Szenen aus dem Alltagsleben der Farbigen gestaltete, bedeuteten sie eine echte Sensation. Zwar hatte sich schon vorher in Kuba, Jamaica, Puerto Rico und anderswo im karibischen Raum sowie in den USA die Kunstrichtung des „Negrismo“ herausgebildet, deren Vertreter aber besonders in den lateinamerikanischen Ländern zumeist Weiße waren, die den Neger nur „von außen“ sahen, so wie etwa ein Tourist in der Hafenbar die ihn exotisch anmutenden schwarzen Musiker und Tänzer interessiert betrachtet und von dem bunten Treiben und den heißen Rhythmen fasziniert ist.
Demgegenüber gestaltete Guillén den Farbigen bereits in seinen ersten Dichtungen „von innen“, in seiner Psyche und Mentalität. Vorangegangen war ihm auf diesem Wege Langston Hughes, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband und dem er viele Anregungen verdankte. Das „He, Kamerad hier sind wir!“ aus „Ankunft“1 wäre undenkbar ohne das Auch ich bin Amerika! von Hughes. Und wie Hughes den Blues kultivierte, so nahm sich Guillén des Son an. Der Son ist ein stark der afrokubanischen Folklore verpflichtetes Tanzlied. Auf eine Reihe kurzer Verse, die vom Solisten vorgetragen werden, folgt ein strophenabschließender Vers, der als Refrain vom Chor aufgenommen wird. Dieser Vers – rhythmisch meist in Gegenbewegung zur übrigen Strophe – kehrt, oft geradezu hämmernd, in jeder Strophe wieder. Es waren im Grunde Schlagertexte, die Guillén da veröffentlichte, denn „Motivos“ heißt soviel wie Libretto, Schlagertext aber eben auf einem sehr hohen Niveau. Daneben und später pflegte er auch andere afrokubanische Formen, die Rumba etwa; auch Rituale und Kulthandlungen aus dem religiösen Brauchtum der Negersklaven inspirierten ihn.
In den Songmotiven (Motivos de son) stehen folgende Verse:

Warum wirst du so wütend,
weil man dich Wulstlippenneger nennt?
2

Und:

Ich habe schon gemerkt, Mulattin,
Mulattin, ich weiß schon, was du sagst,
daß ich eine Nase habe,
die aussieht wie ein Krawattenknoten
.3

Diese Passagen enthüllen die Optik, in der Guillén in jenen Texten die Rassendiskriminierung sah: als biologisches Problem. Wulstlippe und plattgedrückte Nase als körperliche Attribute des Negers sind der Hauptgrund für seine Diskriminierung. Außerdem verstand er sie kulturell und glaubte, die Gleichberechtigung durch die Verwendung des folklorischen Son durchzusetzen. Diese Momente erfaßten aber nicht das Wesen des Rassenproblems. Die Farbigen gehörten in der Mehrzahl zu den proletarischen oder halbproletarischen Schichten in Stadt und Land; sie waren vor allem ökonomisch und sozial diskriminiert.
Der sozialökonomische Aspekt ist allerdings in vielen Gedichten dieser Jahre vorhanden. In „Man muß Willen haben“ heißt es zum Beispiel:

Verpfände das Bügeleisen,
denn ich will meine Flöte spielen,
such einen Groschen,
kauf ein Paket Kerzen,
denn in der Nacht ist kein Licht
.4

Das Negerehepaar, von dem hier die Rede geht, ist mit der Zahlung der Stromrechnung im Rückstand, und die USA Elektrizitätsgesellschaft hat den Zähler gesperrt. Der mögliche soziale und antiimperialistische Bezug wurde von Guillén nicht genutzt. Er gestaltete Menschen aus dem Volk lediglich deshalb, weil sie die afrokubanische Folklore pflegten, während die begüterten Farbigen diese aus naheliegenden Gründen verleugneten.
Plebejische Figuren und soziale Kritik kamen so notwendigerweise mit dem Aufgreifen der Negerfolklore in seine Lyrik, ohne daß ihm deren Relevanz bewußt war. Das wird an dem 1930 entstandenen Gedicht „Zuckerrohr“ deutlich, das wesentliche sozialökonomische Bezüge enthüllt: 

Der Neger
am Zuckerrohrfeld.

Der Yankee
über dem Zuckerrohrfeld.

Die Erde
unter dem Zuckerrohrfeld.

Blut,
das uns entrinnt!
5

Hier werden die imperialistische Ausbeutung durch die USA, die Zuckermonokultur (deren Monotonie durch dreifache Wiederholung von „Zuckerrohrfeld“ effektvoll betont wird), die Unterdrückung und Diskriminierung des Negers ins Bild gesetzt. Der Neger ist Beiwerk des Bodens und steht am Zuckerrohrfeld, der Yankee ist Herr über die Ernte und steht über dem Feld, die kubanische Erde, die das Zuckerrohr hervorbringt, liegt unter dem Zuckerrohrfeld und wird von den USA unterjocht. Die dreifach gebündelten Widersprüche zwischen Negern und Weißen, Landarbeitern und Grundbesitzern, Kubanern und USA-Imperialisten werden durch kein Handeln von seiten des Negers vermittelt, das auf ihre Lösung gerichtet ist: sie erscheinen unabänderlich. Dieser Eindruck wird durch das Aussparen der Verben verstärkt: das Gedicht geht nur durch den Wechsel der – relativ statischen – Präpositionen voran. Am Schluß erscheint ein Ausruf, der innere Beteiligung des lyrischen Ich, aber kein Handeln verrät.
Eine solche Statik ist in den Motivos de son und „Man muß Willen“ haben nicht enthalten. In diesen haben wir eine Kommunikation zwischen lyrischem Ich und Neger bzw. Mulattin, die aufgefordert werden, sich der Diskriminierung zu widersetzen bzw. nicht selber andere Farbige zu diskriminieren. In dieser Richtung hatte Guillén auch seine journalistische Agitation entfaltet. In bezug auf sozialökonomische Sachverhalte aber war diese aktive Haltung Guilléns auch in seiner Praxis nicht vorhanden.
In dem 1934 entstandenen Gedicht „Sabás“ finden wir andere Aspekte der Rassenfrage und eine andere Haltung des lyrischen Helden als in den Songmotiven: 

Ich sah Sabás, den Neger ohne Groll,
sein Brot von Tür zu Tür erbitten und erhoffen.
Warum, Sabás, hältst du die Hände offen?
(Dieser Sabás, er ist ein Neger demutsvoll.)
6

Der Neger Sabás wird in seiner sozialen Dimension als Bettler herausgearbeitet. Das biologische Moment, das in den Songmotiven noch an erster Stelle stand, ist – in Gestalt des Kraushaars – nur noch Moment äußerer Beschreibung, nicht mehr Hauptgegenstand der Bürgerrechtsfrage:

Ich sah Sabás, den Neger mit dem krausen Haar,
Gott bitten und den Tod in Gott erhoffen.
Warum, Sabás, hältst du die Hände offen?
(Dieser Sabás, er ist ein Neger, dumm fürwahr.)

Neben der Betonung der ökonomisch-sozialen Dimension fällt auch die veränderte Haltung des lyrischen Ich gegenüber der Figur des Sabás ins Auge: 

Nimm dir dein Brot und bitt nicht drum,

Pflanz in die Tür dich hin inmitten
mit Händen nicht, die bettelnd offen,

man gibt dir Brot, doch das ist nicht genug,
du sollst es nicht von Tür zu Tür erhoffen.
7

Der Dichter stellt durch die Ich-Du-Relation eine Kommunikation zwischen lyrischem Ich und Neger her und ruft Sabás auf, sich nicht mit Almosen abspeisen zu lassen, sondern um seine Rechte zu kämpfen.
Was hatte diesen auffälligen Wandel in Inhalt wie Haltung bewirkt? Der Autor hatte bis 1933 wie selbstvergessen in seinen Dichtungen gesungen und getanzt, sich von sinnlich berauschenden afrokubanischen Phonemen und synkopischen Rhythmen umfangen lassen und ein wenig den Kontakt mit der Wirklichkeit verloren. Das Land stöhnte unter der Machado-Diktatur. Die Weltwirtschaftskrise brachte das durch die Zuckermonokultur besonders krisenanfällige Kuba an den Rand des Ruins. 1933 aber wurde Machado durch einen Generalstreik gestürzt. Dieses Ereignis erschütterte den bis dahin politisch und sozial wenig interessierten Guillén zutiefst. Als er nach einem Jahr Unterbrechung wieder Gedichte schrieb, spiegelte sich in ihnen sein Erschrecken über die Welt von Not und Elend wider, die er entdeckte. Es war eine harte Realität, die hinter der Fassade sichtbar wurde und das Zuckerrohr bitter schmecken ließ. Die Revolution, die ein politisch-soziales Geschehen und keine Negerrevolte war, zwang Guillén zu der Erkenntnis, daß im politisch-sozialen Bereich auch die Lösung für das Rassenproblem lag. Seine Negergestalten wie Sabás sind jetzt schärfer sozial konturiert. Es sind primär Hafenarbeiter, Arbeitslose, Bettler und erst sekundär Farbige. Und wie in den Kämpfen gegen die Machado-Diktatur die Schwarzen an der Seite der Weißen fochten, so tauchten jetzt auch im Gedicht plebejische Weiße an der Seite der Farbigen auf: 

Die Köpfe, aneinandergelehnt, mit Läusen besät;
die Beine ineinandergeschlungen und barfuß;
ihr unersättlicher Mund in der Kinnladen gleichen Gier,
und über dem ranzigen sauren Essen
zwei Hände: eine schwarze, eine weiße.

Wenn die Stunde des Marsches schlägt,
werden dann auch sie marschieren wie zwei gute Männer,
ein schwarzer, ein weißer?
8

Die aktive Haltung des lyrischen Ich auch in bezug auf die sozial-politischen Aspekte des Rassenproblems ist auf die aktive Teilnahme der Farbigen an der Revolution zurückzuführen. Allerdings ist sowohl in „Sabás“ als auch in anderen Gedichten dieser Jahre – zum Beispiel im „Gesang von den verlorenen Männern“9 – ein anarchistisch-destruktiver Zug unübersehbar. Guillén hatte den Anschluß an die bewußte und organisierte Arbeiterbewegung noch nicht gefunden. Zudem hatte die Revolution gerade auf Grund der mangelnden Organisiertheit der Arbeiter und Bauern zu keinen durchgreifenden Änderungen geführt.
Bald verstärkte sich der ökonomische und politische Einfluß der USA wieder erheblich. Der immer mehr anschwellende Touristenstrom hatte Folgen, die Guilléns Bemühung um rassische und kulturelle Gleichberechtigung der Farbigen direkt betrafen: Einmal verschärfte er die Rassendiskriminierung, zum anderen kommerzialisierte er die kubanische Negerfolklore, würdigte sie zur touristisch-exotischen Attraktion im Amüsierbetrieb herab und beraubte sie ihres volkstümlichen Inhalts. Die Verwendung der Folklore in den Songs für Touristen (1937) ist Protest gegen diese Entwicklung und zugleich Zeugnis aintiimperialistischen Dichtens. In ihnen tritt als Zentralfigur der Sänger Cantaliso auf, der in den als Rollengedichte konzipierten Stücken für den Dichter steht. Er läßt sich nicht von den Yankees korrumpieren:

Bezahlt mich nicht, daß ich singe.10

Er hält an der ursprünglichen Folklore fest und benutzt sie für die Darstellung des Elends in den Mietskasernen: 

Alle wohnen hier in einem Zimmer,
sicherlich, weil’s billig ist,
und die da hustet, meine Herren,
auf jenem Bett da, ist Juana,
hat Tbc im dritten Grad,
das kommt von einer Erkältung,
die schlecht verheilt ist.
Das blöde Weib verbracht den Tag
ohne einen Bissen Nahrung
.11

Der Song wird jetzt unabhängig von der Rassenfrage für die Darstellung sozialer Probleme verwendet. Aber diese werden nicht nur schlechthin gezeigt, sondern in ihren Zusammenhängen dargelegt. Cantaliso-Guillén weiß jetzt, warum in Kuba Not und Elend herrschen. Das wird auch explizit durch die Häufung entsprechender Verben betont. 

Er weiß, daß es keine Arbeit gibt,
daß der Arme unten verkommt
.12

Und Cantaliso singt:

Ich kenne leere Hotels, und Häuser ohne Bewohner…
Ich weiß, daß die Welt nicht richtig geht,
ich kenne einen Mechaniker, der sie reparieren kann.13

Das Wissen um die gesellschaftlichen Zusammenhänge hatte Guillén im Umgang mit Kommunisten wie Juan Marinello, Carlos R. Rodríguez und anderen erworben, mit denen er gemeinsam die Zeitschrift: Mediodía herausgab, die die kubanischen Probleme einer marxistischen Analyse unterzog. Der Marxismus und der organisierte Kampf der Arbeiter eröffneten ihm eine echte Handlungsperspektive, was sich auch in der Haltung Cantalisos manifestiert.
Cantaliso wendet sich an ein zwiefaches Publikum: 

an die Touristen schockweis
und an die Einheimischen auch
.14

Die Yankeetouristen greift er polemisch an:

Wenn ihr zurückgeht
nach New York,
schickt mir Arme,
wie ich es bin.
Ihnen werd ich die Hand geben,
und mit ihnen werd ich singen,
weil das Lied, das sie können,
dasselbe ist, das auch ich singe.
15

Hier zeigt sich neben der Identifizierung Cantalisos-Guilléns mit dem Volk ein weiterer Erkenntniszuwachs: Das sozialökonomische Moment wird als primär sowohl gegenüber dem Rassischen als auch gegenüber dem Nationalen angesehen; die Diatribe gegen die USA-Imperialisten wird mit einem internationalistischen Verbundenheitsgefühl gegenüber den Armen New Yorks gekoppelt.
Dem einheimischen Publikum macht er dessen widersprüchliche soziale Lage bewußt und bewegt es dazu, diese Widersprüche durch revolutionäres Handeln zu lösen, zum Beispiel im „Song von dem Machete“:

Du ißt schlecht und du frühstückst schlecht
du lebst schlecht und dir geht es schlecht.
Du kriegst statt Lohn einen Schuldschein.
Kommt der Inspektor, dir sei’s recht
Dann schlag mit dem Machete drein.
Schlag drein mit deinem Machete, schlag drein!
16

Die Kommunikation zwischen lyrischem Ich und Adressaten wird durch den Imperativ am Ende jeder Strophe zur Agitation. Der Machete als Waffe der Revolutionäre im Krieg gegen Spanien 1868 bis 1898 bewahrt das Publikum davor, diesen Aufruf als anarchistisch-individualistischen Mordanschlag auf den Inspektor zu verstehen, und verweist auf bewußt-organisiertes, auf Kenntnis der Zusammenhänge begründetes Handeln. Der Adressat des Songs ist ein Landarbeiter, der, verglichen mit dem Bettler Sabás, für organisiertes Handeln aufgeschlossener ist.
Wollte Guillén das Volk aktivieren, dann mußten seine Gedichte in einer leicht verständlichen und schnell rezipierbaren Sprache geschrieben sein. In der Figur des Cantaliso formulierte Guillén programmatisch sein ästhetisches Ideal einer verständlichen und volkstümlichen Dichtung. Schon der Name Cantaliso enthält dieses Programm: canta liso heißt derjenige, der deutlich und ohne Umschweife singt. In einem Gedicht sagt er es ausdrücklich: 

Er singt deutlich, sehr deutlich,
damit ihr ihn gut versteht.
17

Die verwendeten Bilder (zum Beispiel der Machete) sind der unmittelbaren Erfahrungs- und Arbeitswelt der Adressaten entnommen. Auch die Form des Son (Song) ist volkstümlich und spricht das Publikum an. Da der Song ein Tanzlied ist, konnten sich Guilléns-Cantalisos Strophen überall durch Gesang und Tanz leicht verbreiten und die Bewußtseinsbildung unterstützen. Mit den Songs für Touristen hat Guillén die afrokubanische Folklore umfunktioniert und für die soziale und politische Lyrik praktikabel gemacht.
Das zeigt auch die spätere Verwendung des Songs. In Der ganze Song (El son entere, 1947) ist schon der Titel symbolisch zu verstehen und deutet an, daß es nicht mehr um rassische Fragen oder andere Teilprobleme geht, sondern um den ganzen Menschen, für den der ganze Song geschrieben ist. Und der Song „Aus und vorbei“ mit dem beziehungsvollen Untertitel „Neue Songmotive“ (1960) ist ein Loblied auf die siegreiche kubanische Revolution, die die politische, ökonomisch-soziale, nationale, kulturelle und rassische Befreiung brachte:

Martí versprach es dir,
Fidel hat es vollbracht,
vorbei ist Kubas Nacht,
aus und vorbei ist’s hier,
aus und vorbei,
Kuba, nun ist’s genug,
aus und vorbei,
die Peitsche aus Manatí
mit der der Yankee dich schlug,
die brach entzwei.
Versprochen hat’s Martí,
Fidel erfüllts. Es sei
nun aus und vorbei.
18

So zeigt sich an der Entwicklung des afrokubanischen Folkloretanzliedes, des Son(g), wie die Negerdichtung im Zusammenhang mit der Entwicklung des Autors vom Bürgerrechtler über den anarchistischen Intellektuellen zum Kommunisten in den breiten Strom sozialistischer Menschheitsdichtung einmündet.

Die Lieder für Soldaten:
Exkurs über operative Agitation und ästhetische Wirkung
In den dreißiger Jahren wechselten zahlreiche bürgerliche Regierungen einander ab, wahrer Herr im Staate war jedoch der Armeechef Batista, der als Degen der USA-Monopole und der einheimischen Magnaten eine verhüllte Militärdiktatur ausübte. Das Militär beherrschte das zivile Leben, die Pistole entschied über die politischen Auseinandersetzungen. Guillén engagierte sich in der Tagespolitik. Als Journalist ergriff er Partei gegen die Diktatur und für die Demokratie. Gemeinsam mit den Kommunisten half er bei der Organisierung des Kampfes gegen Batista.
Ausdruck und literarischer Niederschlag dieses Kampfes sind die Lieder für Soldaten (1937). In ihnen finden wir ein beklemmendes Bild vom Armeeterror und vom Mißbrauch der Soldaten zur Niederhaltung der Demokraten und der Werktätigen. Diese Gedichte vermitteln darüber hinaus den Zusammenhang zwischen den Massakern und den politischen und ökonomischen Interessen der USA-Companies und der Latifundisten. Gleichzeitig wird das Bestreben Guilléns sichtbar, mit seinen Gedichten auf die Soldaten direkt einzuwirken. Aus diesem operativen Zweck ergibt sich eine besondere poetische Struktur.
Die in den Gedichten auftretenden Soldaten sind proletarischer oder bäuerlicher Herkunft:

Der Soldat war Dreher,
der Polizist ein Schuster.
19

Sie sind unwissend und erkennen nicht den Widerspruch zwischen ihren eigentlichen Interessen und ihrem Tun:

Weh den Augen mit Binden,
da sie mit Binden nicht sehn!
20

Diesen Soldaten tritt ein lyrisches Ich gegenüber, das grundlegende soziale Gemeinsamkeiten mit ihnen aufweist:

Du bist so arm, das bin auch ich;
ich komme von unten, so wie du…
21

Das Ich unterscheidet sich aber auch wesentlich von den Soldaten: es steht auf der Seite des Volkes und kennt die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Es erklärt dem Soldaten diese Zusammenhänge sowie dessen eigene Lage und versucht ihn zu einer Verhaltensänderung zu bewegen, um den Abstand zwischen Ich und Soldaten zu tilgen. Zu diesem Zweck wird zwischen beiden eine Kommunikationssituation hergestellt, die einseitig in Form einer Ansprache in der Ich-Du-Relation vom Ich zum Soldaten verläuft. Diese Kommunikation wird selbst in balladesken Gedichtansätzen, in denen der Soldat in der 3. Person erscheint, durch Wechsel zur 2. Person erzeugt. Das Sonett „Yankee und Soldat“ beginnt folgendermaßen: 

Schwer, vor der Tür des Yankeediplomaten, bewacht
ein Soldat den Schlaf dessen, der meinen Traum erstickt.
22

Es folgt der Übergang zur Ich-Du-Relation:

Wer bist du? Wen suchst du: Ich zücke meine Stimme
und sage:
23

Der Text nach dem Doppelpunkt ist die Ansprache an den Soldaten, in die der gesamte Inhalt des Gedichtes verlegt wird. Der Soldat ist der Adressat, für den ausgesagt wird. Deshalb heißen die Gedichte nicht Soldatenlieder, sondern Lieder für Soldaten. Durch verba sapiendi und diciendi wird ausdrücklich darauf verwiesen, daß der Soldat der Aufklärung bedarf: 

Du wirst eines Tages erfahren, warum dein Vater stöhnt.24

Und an anderer Stelle:

Es fehlt dir einer, der da kommt,
Soldat, und dir ins Ohr einst sagt:
25

Das Wort „Soldat“ in der zweiten Zeile leitet die Kommunikation ein. Es fungiert als Vokativ. Darauf folgt der Versuch, den Soldaten agitatorisch zu einer richtigen Verhaltensweise zu veranlassen:

Soldat, lern zu schießen:
du wirst mich nicht verwunden,
denn wir müssen noch zusammen gehn.
Du mußt schießen von unten,
willst du mich nicht verwunden.
26

Die Agitation setzt dem Handeln des Soldaten ein Ziel, eine Perspektive, die nicht im bloßen Nichtmitmachen bestehen kann:

Sag nein, sag nein! Sag, Genosse,
daß dein Bruder dir vorgeht,
daß du nicht in den Krieg ziehst,
zu sterben für Erdöl oder Asphalt,
und daß dieser kraftvolle Arm
nur dem Verfolgten gehört.
Sag ja, sag ja! Sag, Genosse,
daß dir dein Bruder vorgeht!
27

Guillén gestaltet eine – grammatisch in Futur oder Konditional gesetzte – Perspektive des Soldaten der Revolution, der im Sinne Brechts das Gewehr in die richtige Richtung dreht:

Gäbe man mir ein Gewehr,
ich würd meinen Brüdern sagen, wozu es dient.
Aber mir gibt man es nicht,
weil ich wohl weiß, wozu es dient,
darum gibt mans mir nicht.
Sie geben es weder dir noch dir
.28

Den Prozeß der Annäherung zwischen Ich und Soldaten drückt Guillén, durch die differenzierte Verwendung der Pronomina aus. Der Abstand zwischen ihnen wird durch chiastische Stellung, die Annäherung durch die Hintereinanderstellung von ich und du, aber getrennt noch durch verschiedene Zeilen betont:

Ich weiß nicht, warum dachtest du,
Soldat, daß ich dich hasse,
wo wir aus gleichem Holz doch sind,

ich,
du. 

Du bist so arm, das bin auch ich;
ich komm von unten, so wie du:
wie bist du drauf gekommen, du,
Soldat, daß ich dich hasse?

Mir tut es weh, daß manchmal du
vergißt, woher ich bin;
zum Teufel auch,
wäre ich du
genauso wärest du dann ich
.29 

,Am Schluß wird im Futur die künftige Gemeinsamkeit beider durch das Nebeneinanderstehen der Pronomina und ihre alternierende Stellung (ich… du, du… ich) ausgedrückt:

Wir sehen bald uns, ich und du,
vereint in gleicher Gasse,
und Arm in Arm gehn
du und ich,
ohn Hassen weder
ich noch du,
doch wissen wir dann,
du und ich,
wohin der Marsch geht,
ich und du…30

Diese Gemeinsamkeit wird in dem obengenannten Gedicht, in dem von dem Gewehr die Rede ist, das man dem Soldaten und dem Ich nicht gibt, durch ein beide zusammenführendes Wir betont: 

Sie geben es weder dir noch dir,
weder dir noch dir. Doch was für Soldaten werden
wir einmal sein
auf hartmäuligen Pferden!
31

In dieser Gemeinsamkeit antizipiert der Dichter den Soldaten der Revolutionsarmee. So hat denn auch Verteidigungsminister Raul Castro dem Dichter zu dessen Geburtstag eine Plastik mit der beziehungsreichen Inschrift geschenkt:

Wir sind schon aus dem gleichen Holze!

In Gedichten, die von einem Soldaten sprechen, der den Militärdienst quittiert hat,32 sagt der Soldat in der Ich-Form über sich selbst aus, weil er auf Grund äußerer und innerer Wandlungen zu artikulieren vermag und sein Ich in die Nähe des lyrischen Ich rückt:

Ich nun mein eigener Herr,
endlich frei von Wachen,
Uniform und Gewehr.
Ich werd in der Sonne arbeiten
und auf dem Acker, der meiner wartet,
mit meinem emsigen Pflug
.33

Die direkte, agitatorisch-journalistische Zielsetzung und Wirkung dieser Gedichte unter den Bedingungen des Militärterrors und der Existenz von Soldaten als Publikum für diese Appelle steht außer Zweifel. Reaktionäre Kritiker wie Perez Cisneros diffamierten sie als „Wahlpropaganda“ und „Aufruf zum Klassenkampf“.34
Dennoch überdauerten die Lieder für Soldaten den aktuellen Anlaß und bereiten unabhängig von diesem noch Genuß. Sie haben neben der journalistisch-agitatorischen auch eine ästhetisch-künstlerische Wirkung.
Während in Guilléns Publizistik weder der Autor noch das Publikum als konkrete Individuen im Text präsent sind, so daß sich die einfache Relation Autor-Text-Publikum ergibt,35 gewinnen beide in den Gedichten für Soldaten als literarische Figuren konkrete Gestalt. Das sich in ihnen aussprechende Ich ist die poetische Transformation des Individuums Guillén, besitzt dessen Denken und Fühlen und verfügt über dessen individuelle Eigenschaft, sich als Agitator ständig an ein Publikum zu wenden, das er zur vollen Entfaltung seines Ich braucht. Dem lyrischen Ich steht eine zweite literarische Figur gegenüber, der Soldat, der ebenfalls in seinem Denken, Fühlen und Verhalten herausgearbeitet ist und auch äußerlich dem Leser vorgestellt wird. Dieser Soldat bedarf infolge seiner Unwissenheit und seiner falschen Verhaltensweisen des Aufklärers und Agitators, dessen Publikum er darstellt. Agitator und Publikum sind also – im Gegensatz zur Journalistik – in den Text hineingenommen, wodurch sich folgende Relation herstellt: Autor – lyrisches Ich (Agitator) – literarische Figur des Soldaten-(Publikum)-Publikum. Auch die agitatorische Einwirkung in Form der Ansprache vollzieht sich nur zwischen den beiden literarischen Figuren, das heißt innerhalb des poetischen Textes. Die Individualisierung von Agitator und Publikum in Gestalt des lyrischen Ich und des Soldaten verbürgt die ästhetische Wirkung, die über den aktuellen Anlaß hinausreicht.
Wir haben mit einer solchen Exposition einen balladesken Ansatz, der sich zu Dialogen oder Handlungen, zur dramatischen oder epischen Ballade weiterentwickeln könnte. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Dichter-Agitator führt dem Soldaten dessen widersprüchliche Situation eindringlich vor Augen und erzeugt in ihm eine Spannung, die der Soldat lösen kann, wenn er den Empfehlungen des lyrischen Ich folgt. Doch der balladeske Ansatz gestaltet sich nicht zu einer echten Ballade aus, der szenische Entwurf spitzt sich zwar dramatisch zu, wird aber nicht in Handlungen realisiert. Der offene Schluß hebt die Spannung nicht auf, sondern läßt sie im Leser nachwirken; er gewinnt Aufforderungscharakter: der Leser soll das, was in der Kunst unvollendeter Entwurf blieb, in der Wirklichkeit vollenden. Sichert die Konstituierung des Agitators als lyrisches Ich und des Soldaten als literarische Figur des Publikums den Gedichten ihre künstlerische Qualität, so ermöglicht der offene Schluß – vorausgesetzt, daß die aktuelle Wirklichkeit des Lesers mit der im Gedicht beschriebenen kongruent und das wirkliche Publikum mit der literarischen Gestalt des Publikums identisch ist (das heißt, wenn der Leser Soldat ist) – die Realisierung operativer Wirkungen.
Dieser zur Wirklichkeit hin offene Schluß findet sich in vielen Werken mit journalistisch-agitatorischem Charakter. Für Budzislawski spiegelt die Presse im Unterschied zur Kunst einen Prozeßverlauf ab, der unvollendet ist.36 Hegel konstatiert bei der Rhetorik im Unterschied zur Kunst einen außerhalb des Werkes liegenden praktischen Zweck, der in der religiösen Beredsamkeit zum Beispiel nicht dadurch verwirklicht wird, daß der Prediger dem Gläubigen die Lösung mitteilt, sondern in ihm eine nach der Predigt weiterwirkende Spannung erzeugt, eine Dissonanz, die später vom Hörer durch praktisches Handeln aufgelöst wird:

Denn eine Rede kann häufig mit einer Dissonanz schließen, welche erst der Zuhörer als Richter zu lösen und dieser Lösung gemäß sodann zu handeln hat37

Die Dissonanz in den Gedichten für Soldaten sollte sofortiges Handeln auslösen. Unter den Bedingungen der Militärdiktatur hatte das Publikum eine mehr instrumentale Funktion es sollte primär die Wirklichkeit verändern, was zwar eine Veränderung des Publikums selbst mitbedingte, aber nicht Hauptzweck war. Auch dies entspricht der Hegelschen Rhetorikdefinition:

Nach dieser Seite hin sollen auch die Zuhörer nicht für sich selber bewegt werden, sondern ihre Bewegung und Überzeugung wird gleichfalls nur als ein Mittel zu Erreichung der Absicht verwendet, deren Durchführung der Redner sich vorgesetzt hat, so daß also auch für den Hörer die Darstellung nicht als Selbstzweck dasteht, sondern sich nur als ein Mittel erweist, ihn zu dieser oder jener Überzeugung zu bringen oder zu bestimmten Entschlüssen, Tätigkeiten usf. zu veranlassen.38

Ist die unmittelbare Kongruenz zwischen der Wirklichkeit des Lesers und der in den Gedichten geschilderten Wirklichkeit sowie zwischen Publikum und literarischer Figur des Publikums nicht mehr gegeben, ist ein operatives Reagieren nicht mehr möglich und die Agitation verfehlt. Reine Agitationsgedichte nach dem Schema Autor-Text-Publikum wurden mit dem Verschwinden der entsprechenden Wirklichkeit und des angesprochenen konkreten Publikums im allgemeinen genausowenig gelesen werden wie die Zeitungsnachrichten jener Jahre, die nur noch Historiker interessierten. Sie vermögen jedoch bei Wiederkehr einer analogen politischen Situation ihren agitatorischen Charakter wiederzugewinnen.
Durch die poetische Transformierung von Agitator und Publikum in literarische Gestalten vermochten die Gedichte für Soldaten zu überdauern. Dann vollzieht sich aber keine (operative) Wirkung mehr über die Identifizierung des Publikums mit dem Soldaten, sondern über das Gedicht als Ganzes vor allem über das lyrische Ich. Der Agitator erscheint nunmehr als individuelle (und zufällige) Form eines gesellschaftlich aktiven, auf seine Mitmenschen verändernd einwirkenden Menschen, dessen exemplarisches Verhalten sich an der Figur des Adressaten erweist, der die ebenfalls individuelle (und zufällige) Form des Soldaten (und Publikums) hat.
Der lyrische Held – als Transposition des durch seine eigene Lebenspraxis zu einem unverwechselbaren Individuum gewordenen. Guillén – ist seinerseits eine durchaus einmalige Gestalt, die vom Leser nur partiell nachvollziehbar ist von der er sich aber auch distanzieren muß. Der jeweilige Leser ist seinerseits ebenfalls ein einmaliges Individuum und mißt sein eigenes Fühlen, Denken und Verhalten an dem des lyrischen Ich, das so zu einem „individuellen Modell“ für ihn wird. Die Wirkung wird so entscheidend vom Leser mitdeterminiert und hängt von seiner Klassenlage, seinem Charakter, seiner Bildung und seiner individuellen Organisation ab. Sie wird sowohl zu einem Produkt des Gedichts als auch des Lesers, der daher auch von dieser Seite von einem Instrument und Mittel zum Zweck zum Selbstzweck oder, um mit Hegel zu sprechen, „um seiner selbst willen bewegt“, das heißt verändert wird.
Daß sich die operative Agitation des lyrischen Ich in ästhetische Wirkung verwandelt, hängt auch damit zusammen, daß der Dichter und Agitator Guillén zu einer solchen Einheit verschmolzen, daß ihm die Agitation zu seiner zweiten Natur wurde, zu einer individuellen Eigenschaft, die sich im Zusammenhang mit der Publizistik als Lebenstätigkeit immer stärker herausbildete. Er gab wie jeder große Dichter sein eigenes, unverwechselbares Ich voll in die Dichtung. Deshalb wirkt die Agitation nicht „aufgesetzt“, sondern als natürliche Äußerung eines gesellschaftlich aktiven Menschen.
Diese aktive Haltung ist strukturbildend und stilbestimmend. Sie erzeugt die charakteristische paradigmatische Gedichtstruktur, die sich bei den Songs andeutete und in den Liedern für Soldaten kulminierte, sich aber auch in vielen anderen Dichtungen des Autors findet. Sie ist Ausdruck eines lyrischen Subjekts, das die Welt nicht nur abbilden sondern auch verändern will.
Guillén war ein viel zu umfassender Dichter, als daß er diese paradigmatische Struktur starr angewandt hätte. Entsprechend den jeweiligen poetischen oder gesellschaftlichen Erfordernissen verschob er das in den Liedern für Soldaten erreichte Gleichgewicht zwischen operativer und ästhetischer Wirkung nach der einen oder anderen Seite. Als zu Beginn der fünfziger Jahre erneut eine Batista-Diktatur drohte, verzichtete er in den „Reimen des Hans Barfuß“39 (in der Zeitung Ultima Hora) auf die ästhetische Komponente, ließ die literarischen Figuren des lyrischen Ich und des Publikums völlig aus und agitierte polemisch-warnend in versifizierter Publizistik direkt das Publikum. (Weil er diese notwendige Agitation nicht als künstlerisch ansah, veröffentlichte er sie anonym.)40 Als Guillén von 1952 bis 1959 im Exil lebte, fehlte auf Grund der Distanz zu den aktuellen Ereignissen in Kuba und zum Publikum die objektive Voraussetzung, um Gedichte in der Art der Lieder für Soldaten zu schreiben. Wie sehr Guillén aber der Kontakt zum Publikum und das Einwirkenwollen auf dieses zur zweiten Natur wurde, mag ein Gedicht zeigen, das 1938 nach der Rückkehr aus dem Spanienkrieg in der französischen Kolonie Guadeloupe entstand. Gerade nach dem bewegenden Kriegsgeschehen erscheint ihm die Statik der Verhältnisse in dieser Kolonie beängstigend. Unter Verzicht auf aktive Verbformen (er benutzt nur das Gerundium) werden die Gegensätze zwischen den Negern und den französischen Herren so starr-unvermittelt wie früher in „Zuckerrohr“ gezeigt: 

Die Neger, arbeitend
neben dem Dampfer.
Die Araber, verkaufend,
die Franzosen
herumspazierend und ausruhend,
und die Sonne, glühend.
41

Der „verändernde Wille“ des Agitators Guillén versucht, Bewegung und Aufruhr zu erzeugen: 

Ich schreie: Guadeloupe! Aber niemand antwortet.42

Die objektiven Bedingungen verhindern Agitation und Kommunikation, ein Publikum kann sich nicht konstituieren, weil es keine revolutionären Kräfte gibt. Der Dampfer legt ab, das Gedicht fällt in die anfängliche Statik zurück und erhält die bei Guillén als Zeichen der Erfolglosigkeit zu wertende Zirkelstruktur: 

Dort bleiben die Neger, arbeitend,
die Araber, verkaufend,
die Franzosen, spazierend und ausruhend,
und die Sonne, brennend.
43

Die Gedichte für Soldaten ordnen sich sowohl in der Thematik als auch in ihren operativen Aspekten in die Literaturentwicklung Lateinamerikas ein. Die Literatur des Kontinents ist von Sarmientos Facundo bis zu Asturias’ Der Herr Präsident stets auch Widerspiegelung der Militärdiktatur gewesen, die auf diesem Kontinent eine unheilvolle Tradition hat. Die gegenwärtigen Militärjunten in Chile oder Bolivien, aber auch die progressiven Militärregimes in Peru und Panama beweisen die fortdauernde Aktualität dieses Stoffes. Guilléns Verdienst besteht darin, die einfachen Soldaten in die literarische Gestaltung einbezogen und diese Thematik in die Lyrik eingebracht zu haben.
Auch der journalistisch-operative Aspekt besitzt in der lateinamerikanischen Literatur Tradition. Der Analphabetismus setzt dem Absatz von Literatur Grenzen, so daß ein Schriftsteller kaum von seinen Büchern leben kann. Zum Broterwerb bietet sich als verwandtes Gebiet die Publizistik an. Martí, Darío und Sarmiento waren sowohl bedeutende Schriftsteller als auch glänzende Journalisten. Zum anderen provozierten die krassen Gegensätze zwischen arm und reich stärker als anderswo operatives Eingreifen. So ist das journalistisch-operative Moment selbst bis in die Epik hinein ein Wesenszug lateinamerikanischer Literatur.

Die Spiegelung der Antillen, Lateinamerikas und der Welt in den Gedichten vor der kubanischen Revolution
Bereits die Weltwirtschaftskrise hatte offenbar gemacht, daß Kuba von der übrigen Welt nicht isoliert war. Das Aufkommen des Faschismus in Deutschland und der Bürgerkrieg in Spanien begannen die Auseinandersetzungen in Kuba zu überschatten. Von der ersten Minute an solidarisierte sich Guillén mit der spanischen Republik: auf Kundgebungen, in Hilfskomitees, durch leidenschaftliche Appelle und Artikel in der Presse.
Dichterischen Ausdruck findet seine Haltung in dem großen Spanien-Gedicht von 1937.44 Ausgangspunkt ist das ganz persönliche Verhältnis Guilléns zu Spanien: seine blutsmäßige Bindung an das Land seiner Vorväter; seine Erschütterung über die Ermordung des Freundes García Lorca durch die Guardia Civil; seine enge Verbundenheit mit der Kultur eines Landes, in dessen Sprache er dichtet. Aber vom Persönlichen führt der Weg zum Gesellschaftlichen: die Solidarität der Völker Lateinamerikas mit der spanischen Republik gründet sich auf gemeinsame Interessen und Bestrebungen, auf den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Die Trauer um Lorca wird zur Klage über die gefallenen Milizionäre über die Opfer der faschistischen Bombardements. In der Kultur und Kunst Spaniens sieht Guillén alle humanistischen Werte überhaupt durch die faschistische Barbarei bedroht.
Und wie Persönliches in Gesellschaftliches übergeht, so wandelt sich bloßes Mitleiden in Mitkämpfen: Trauer über die Toten wird zum Haß auf die Mörder, setzt sich um in aktive Teilnahme am Freiheitskampf der Spanier, an einem Kampf, der nicht nur mit den Waffen der Sprache, sondern auch mit der Sprache der Waffen geführt wird! Das Gedicht beflügelte die spanischen Republikaner in ihrem Kampf, aber vor allem wirkte es in der lateinamerikanischen Öffentlichkeit und wurde als Appell zur Solidarität verstanden. Der angestrebten Aussage und Wirkung entspricht die Form, die Guillén diesem Werk verlieh. Zum erstenmal in seiner dichterischen Laufbahn greift er zurück auf die spanischen Klassiker vor allem auf Góngora, dessen komplizierte Konstruktionen und Metaphern besonders im ersten Gesang Pate standen. Schon der Beginn ist eine gongorinische Reminiszenz: 

Weder Cortés noch Pizarro

Eher ihre rauhen Mannen: im wilden
Sprung durch die Zeit. Bei uns, mit ihren Schilden
.45

Es handelt sich hierbei um eine bei Góngora häufige Figur: nicht A, sondern B (nicht Cortés noch Pizarro = A, sondern seine rauhen Mannen = B). Guillén evoziert die enge Verbindung zwischen Lateinamerika und Spanien, die bis in die Zeit der Eroberung zurückreicht. Die Namen der Konquistadoren Cortés und Pizarro rufen eine Tradition auf, die sogleich verworfen wird. Statt dessen stellt Guillén eine Beziehung zum spanischen Volk her, zu jenen – namenlosen rauhen Mannen der Eroberer, die sich mit den Eingeborenen vermischten und lateinamerikanische Eigenart mitbegründeten. Der Klage über den Tod Federicos gibt er den Ton und den Gestus der Lorcaschen Romanzen, so wie sich Elemente des Son und der Hymnen Whitmans finden, wenn er von Amerika spricht.
Später ging Guillén selbst nach Spanien, erhob auf dem Internationalen Schriftstellerkongreß seine Stimme und setzte als Reporter in Porträts, Skizzen und Berichten die in lateinamerikanischen Zeitungen veröffentlicht wurden seinen Kampf fort. Hier in Spanien trat er 1938 in die Kommunistische Partei ein. Nach seiner Rückkehr arbeitete er als Redakteur in der Parteipresse und beteiligte sich in vorderster Front – er wurde bald Mitglied des Zentralkomitees – an den politischen Auseinandersetzungen, trat auf Wahlkundgebungen auf und kandidierte für den Posten des Bürgermeisters in seiner Heimatstadt Camagüey. Vor allem aber focht er unermüdlich mit seinen Leitartikeln in der KP-Zeitung Hoy gegen den hitlerfaschistischen Krieg. Bereits zu dieser Zeit unternahm er längere Reisen in lateinamerikanische Länder, nach Mexiko und Haiti. Nach Kriegsende bereiste er bis 1948 fast alle Staaten des Subkontinents. Er kam als Botschafter des kubanischen Volkes und brachte den Kubanern ihre lateinamerikanischen Brudervölker näher, um zur Solidarität, auch im Kampf gegen den gemeinsamen Feind im Norden, beizutragen.
In seinem Werk gestaltete er sein Verhältnis zu den anderen Ländern des Kontinents vorwiegend unter diesen Aspekten. Die Ausweitung auf außerkubanische Thematik hatte bereits Anfang der dreißiger Jahre begonnen. Zunächst ging es Guillén um die Integration der Farbigen in das Gesamtbild Lateinamerikas: „Wir prägen unsere Züge ins endgültige Profil Amerikas“, heißt ein später eliminierter Vers aus dem Gedicht „Ankunft“.46 Danach galt sein Interesse vor allem Westindien, den Antillen, deren Einheit er zunächst ganz elementar in Tropenklima und Landschaft sieht. Aber die Wirtschaftskrise machte offenkundig, daß diese Einheit vor allem auf der Gleichheit der sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse beruhte, auf der gemeinsamen Abhängigkeit von den USA. Diese Erkenntnis findet ihren Niederschlag in dem großartigen West Indien & Co.,47 dem ersten Versuch epischer Gestaltung im Werk des Dichters. Es ist eine umfassende Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Wirklichkeit jener Jahre. Aber Guillén verzweifelt, kapituliert vor den Widersprüchen, die er noch nicht zu erklären und deshalb auch nicht zu lösen vermag. Der sich dennoch durchsetzende Optimismus ist urwüchsig, spontan, nicht rational begründet.
Der Dichter hat auch später, als er bereits Erfahrungen und Einsichten besaß, die einen sicheren Grund abgegeben hätten für eine Schöpfung episch-lyrischen Ausmaßes, wie sie Neruda mit dem Großen Gesang gelungen ist, nichts Ähnliches zu gestalten versucht. Die Gedichte, die er von seinen Reisen aus anderen lateinamerikanischen Ländern mitbrachte, bleiben Impressionen, Momentaufnahmen von Menschen, Situationen, Stimmungen, Landschaften.
Nach der Machtergreifung Batistas im Jahre 1952 konnte der Dichter, der steckbrieflich gesucht wurde, nicht mehr in sein Vaterland zurückkehren. Er lebte in den sozialistischen Ländern, in Westeuropa und in Lateinamerika. 1955 erhielt er den Lenin-Preis. In diesen Jahren schweigt seine politische Dichtung zwar nicht völlig, aber ohne den direkten Kontakt zu seinem Land und seinem Publikum vermochte er nicht jene gesellschaftlich aktivierende Sprache zu finden, die etwa die Gedichte für Soldaten auszeichnet. Aus ganz anderen Gründen tritt die Agitation in den Jahren 1940 bis 1945 in den Hintergrund, als in Kuba eine antifaschistische Einheitsfront, ein relativ demokratisches Regime und eine Regierung der nationalen Einheit unter Beteiligung der Kommunisten bestanden. In beiden Perioden horcht der Dichter tiefer in sich hinein, erforscht sein eigenes Inneres in der Vielfalt der Beziehungen zur Welt. Sehr oft haben seine Dichtungen weltanschaulich-philosophischen Charakter oder sie ergründen die eigene Vergangenheit, analysieren sein eigenes Verhältnis zu Kuba, seiner Landschaft, seinen Menschen.
Dieser nachdenkliche Zug ist auch in seinen Liebesgedichten der vierziger und fünfziger Jahre unüberhörbar. In der Liebeslyrik wird ebenfalls die Entwicklung sichtbar, die der Autor von seinen Anfängen an genommen hat. Um 1920 hatte er mit romantisch-schwülstigen Gedichten begonnen. Den Durchbruch brachten die, um 1930 erschienenen Negerdichtungen, von denen einige, die Madrigale zum Beispiel, etwas völlig Neues innerhalb der spanischsprachigen Liebesdichtung bedeuteten: Guillén besang die Negerin in ihrer elementaren Körperhaftigkeit, in ihrer urwüchsigen Schönheit und Sinnlichkeit.48 Auch das war Kampf gegen die Rassendiskriminierung, Im damaligen Kuba wurde in Schule, Presse, Film und Literatur ein weibliches Schönheitsideal propagiert, das eine Mischung aus antiker griechischer Statue und Hollywood-Star darstellte. Die farbige Frau hatte darin keinen Platz. In der prüden, durch die völlige Unterwerfung der Frau gekennzeichneten kubanischen Gesellschaft wirkten diese Gedichte auch auf die weiße Bevölkerung wie eine Befreiung. In der späteren Liebeslyrik Guilléns tauchen solche Gedichte immer wieder auf, wobei das rassische, elementar-sinnliche Moment in die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Mann und Frau integriert ist. Die Gefühlsbindungen und die geistige Gemeinschaft, die menschliche Solidarität der Liebenden treten in den Vordergrund. Die Strophen, die er seiner treuen Gefährtin und Ehefau Rosa gewidmet hat, gehören zum Besten, was er geschrieben hat. So gelangt Guillén auch in der Liebeslyrik zum ganzen Menschen, geht er über Teilbereiche – sei es nun die Rassenzugehörigkeit oder die Sinnlichkeit – hinaus.
Mit dem Sieg der kubanischen Revolution von 1959 endeten siebenundfünfzig Jahre USA-Herrschaft, Diktatur, Terror, Korruption und Rassendiskriminierung. Der nun siebenundfünfzigjährige Guillén kehrte unverzüglich in seine Heimat zurück. Er war zum erstenmal, ohne jede Einschränkung freier und gleichberechtigter Bürger Kubas. Aber er wußte, daß der militärische Sieg der Castro-Truppen erst der Beginn war, daß noch viele schwere Aufgaben auf sozialem, politischem, ökonomischem und kulturellem Gebiet zu lösen waren. Es entspricht der konsequenten Haltung, die Guillén sein ganzes Leben lang bekundete, daß er sich von der ersten Stunde an in den Dienst der Revolution stellte und sie weiter vorantreiben half – als Politiker, als Journalist, als langjähriger Präsident des Verbandes der kubanischen Schriftsteller und Künstler, nicht zuletzt als Dichter: durch aktuelle, oft satirische, oft tragisch-bewegte, oft jubelnde Verse, Verse über die Agrarreform, über die Enteignung der Zuckerraffinerien, über die USA-Invasion an der Playa Girón, über die brüderliche Hilfe der Sowjetunion. Er war sich nie zu schade, für den Tag zu schreiben, und viele seiner Dichtungen über die sozialistische Revolution werden den Tag überdauern.

„Jede Vergangenheit war schlechter“ – Exkurs über Authentizität und Fiktion
Weil Guillén sowohl Journalist als auch Dichter ist, können seine Werke die Unterschiede zwischen dokumentarischer und fiktionaler Schreibweise und damit zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Texten enthüllen. Wir stellen im folgenden einen Zeitungsartikel und zwei Gedichte vor die aus gleichem Anlaß nach dem Sieg der Revolution geschrieben wurden.
Im Mittelpunkt des Artikels „Jede Vergangenheit war schlechter“49 vom 9. Juli 1960 steht die „Antwort der revolutionären Regierung durch den Mund von Raúl Roa auf die Note des Botschafters Bonsal“. Der kubanische Außenminister Roa hatte am Vortag einen Einmischungsversuch des USA-Botschafters Bonsal souverän zurückgewiesen. Dieses Geschehen ist aktuell im Sinne von „wirklich“ und „authentisch“ im Gegensatz zum Fiktiven, nur Vorgestellten oder Gedachten. Es ist aktuell im Sinne einer „räumlichen und zeitlichen Präsenz“ und schließlich im Sinne von „in actu“, von „wirksam oder wirkend, im Gegensatz des Ruhenden“.50 Der Notenwechsel ist Ausdruck der zwischen den USA und Kuba wirkenden Gegensätze. In allen diesen Bedeutungen ist die behandelte Thematik aktuell.
Guillén stellt den aktuellen Fakt in einen historisch-sozialen Zusammenhang und erläutert, daß die früheren kubanischen Regierungen die „Schande“ einer USA-Beschwerde servil zu vermeiden trachteten. Er verweist auf die bisherige ökonomische und politische Abhängigkeit Kubas von den USA, aber auch auf die Kämpfe der antiimperialistischen Kräfte und ihren Sieg in der Revolution von 1959. Diese Darlegungen „ergänzen“ und „vollenden“ das Geschehen durch die Herstellung eines Gesamtzusammenhangs, der aus dem berichteten Fakt des Notenwechsels nicht hervorgeht, ihm aber erst seine eigentliche Bedeutung verleiht.
Dennoch fungiert der Fakt des Notenwechsels nicht einfach als Beispiel oder Beweis für diese Darlegungen, sondern stellt ein wesentliches und aktuelles Moment der Beziehungen zwischen Kuba und den USA dar. Zum erstenmal trat eine kubanische Regierung selbstbewußt gegenüber dem imperialistischen Nachbarn auf. Der Fakt des Notenwechsels hat relativen Selbstwert und steht im Mittelpunkt, die Darlegung des Zusammenhangs hat die Funktion, den Vorfall zu kommentieren. Deshalb bestimmt auch der Fakt die Struktur des dreiteiligen Artikels. Dieser beginnt nicht mit der Abhängigkeit Kubas von den USA in der Vergangenheit, sondern bezieht sich gleich auf frühere Notenwechsel und die an ihnen zutage tretende „schlechte“ Vergangenheit. Der Mittelteil schildert an Beispielen den Zusammenhang zwischen ökonomischer und politischer Abhängigkeit, zwischen Imperialismus und Diktatur. Der Schluß bringt den kommentierten Fakt des Notenwechsels mit der zusammenfassenden Bemerkung, daß entgegen der Meinung des spanischen Renaissancedichters Manrique „jede Vergangenheit schlechter“ und die Gegenwart besser ist.
Guillén erscheint im Text in keiner Weise als Individuum. Im Anfangssatz: „Als ich ein Junge war, hatte eine amerikanische Note die niederschmetternde Wirkung eines Keulenschlags“, fungiert das Ich als Mittel, das Gesagte zeitlich zu situieren und glaubhaft zu bezeugen, wie auch in den folgenden Zitaten, wo der Autor zwar in der 1. Person präsent ist, aber nur als Textproduzent und nicht als Individuum Guillén: „Ich spreche vom Jahre 1914, 1916, 1918…“; „Ich spreche weiter von jenen Tagen…“; „reden wir nicht von Estrada Palma…“; „Diese Überlegungen sind mir in die Schreibmaschine geflossen…“; „die Tage, die wir zu Beginn unserer Chronik heraufbeschworen haben…“ Auf der anderen Seite geht es in dem Text zwar um Menschen aber nicht um einzelne, sondern um das kubanische Volk:

Wir wohnen jetzt der Begegnung des kubanischen Volkes mit sich selbst bei.

Das Volk ist wesentlicher Bestandteil des Textinhalts und zugleich das Publikum, an das sich der Artikel wendet. Wenn Guillén die rhetorische Frage stellt „Waren wir freier?“, so evoziert er einen Adressaten, der außerhalb des Textes als Leser vorhanden ist. Diesen Übergang vom inhaltlichen Bezug auf das Volk als soziales Kollektiv zum Volk als Publikum markiert Guillén durch den Übergang von der nennenden 3. Person zu der das Publikum einschließenden 1. Person Plural oft in ein und demselben Satz.

Trotz allem erhoben sich die Volksmassen mühsam… und der Platt-Zusatz wurde aus unserer Verfassung gestrichen.

Das Abbild der Wirklichkeit ist ein Abbild für bestimmte Leser, die von der Bedeutung des referierten aktuellen Geschehens überzeugt werden sollen:

Ja, jene Tage, die wir heraufbeschworen, sind fern… Jede Vergangenheit… war schlechter.

Der Leser wird agitiert, den souveränen Akt der Regierung moralisch und durch Taten zu unterstützen.
Authentizität, Aktualität und Agitation bilden eine Einheit, wobei die Agitation auf die Veränderung des Bestehenden durch Aktionen gerichtet ist bzw. ein entsprechendes Verhalten als Disposition dazu schafft.51 Aber im Gegensatz zu den Gedichten für Soldaten erfolgen Aufklärung und Agitation des Lesers direkt über den Text; sie werden durch keine individualisierte Figur vermittelt. Dasselbe trifft für die authentischen Personen zu, die im Text vorkommen. Sie erhalten kein individuelles Profil, sondern werden nur in dem Zusammenhang genannt, in dem sie eine Rolle spielen. Für den Zweck des Artikels war dies auch gar nicht nötig; die Personen waren dem Leser durch frühere Berichte und andere Informationsmittel weitgehend bekannt. Eine nähere Beschreibung hätte die Argumentation unterbrochen und wäre dem unmittelbar operativen Anliegen zuwidergelaufen.
Guillén bedient sich durchaus bildhaft-anschaulicher Elemente, durch die er emotionale Wirkungen hervorruft:

Wie ein riesiger Krake bewegte der Imperialismus ungehindert seine Tentakel.

Diese Bildhaftigkeit wird aber durch Begriffe wie „Imperialismus“ auf eine einzige, leicht erschließbare Bedeutung zurückgeführt. Oder Guillén verwendet Bilder, die auch in ihrer übertragenen Bedeutung eindeutig sind, weil sie bereits als Metaphern in der politischen Sprache festgelegt sind, also der Kopplung mit den entsprechenden Begriffen nicht mehr bedürfen. Wenn er sagt: „Was wird Onkel Sam sagen, wenn wir uns nicht regieren können?“, handelt es sich eindeutig um die USA. Diese Eindeutigkeit der Sprache dient dem Zweck, alles auf das eine kommentierte Geschehen hin zu organisieren und keine Nebenbedeutung bzw. Zweideutigkeiten aufkommen zu lassen. Das Publikum wird zu eindeutig fixierten Reaktionen stimuliert. Eine durch wuchernde Metaphorik oder individualisierte Figuren provozierte Mehrdeutigkeit hätte den unmittelbaren operativen Zwecken des Artikels entgegengewirkt und ihre aktuelle Realisierung behindert.
Das gleichnamige Gedicht „Jede Vergangenheit war schlechter“ (1960) beginnt und endet mit einer widerlegenden Paraphrase des Manrique-Gedichts „Jede Vergangenheit war besser“:

Welche fernen Dinge
noch so nah,
aber doch schon endgültiger-
weise tot.
Ist’s nicht gewiß, daß es viele
Dinge gibt,
die man noch nahe sieht,
die aber schon endgültiger-
weise tot sind?
52

Es ist die lyrische Entsprechung zum Schlußsatz des Artikels:

Der feine Schatten des Dichters, der höfische Beschwörer von Infanten und Königen möge uns verzeihen. Don Jorge Manrique wird es uns verzeihen, aber jede Vergangenheit… war schlechter.“

Die Schlußfolgerung des Artikels prägt die Gesamtaussage des Gedichts und seine Struktur. Der Fakt des Notenwechsels, der im Artikel das strukturbestimmende Zentrum darstellte, wird nicht erwähnt. Statt dessen finden wir eine dem zentralen poetischen Gedanken („jede Vergangenheit war schlechter“) untergeordnete, im Artikel wiederum nicht auftauchende USA-Note, die während der „schlechten Vergangenheit“ verfaßt worden sein konnte, hier aber nicht als Fakt, sondern nur als Detail fungiert, das eine poetische Idee konkretisiert: 

Der Botschafter
Donkey hinterließ dem Präsidenten
eine Note wegen des Zwischenfalls
von Mr. Long
mit Felo, dem Docker.
(Mr. Long gehts besser.)
53

Alle Einzelheiten, selbst der Notenwechsel, sind Belege dafür, wie schlecht die Vergangenheit war. Authentische Elemente finden sich nicht. Botschafter Donkey (= Esel) ist schon wegen seines Namens eine leicht erkennbare Fiktion, genauso wie Long und Felo. Das Gedicht ist gedanklich ganz anders durchstrukturiert, so daß weitere Parallelen mit dem Artikel, die Aussagen über den Unterschied zwischen Dokument und Fiktion gestatteten, nicht erkennbar sind. Unerwarteterweise findet sich ein Gedicht mit dem ganz anderen Titel „Lang ist es her“ (1960), das fast wörtlich wie der Artikel beginnt: 

Als ich ein Junge war
(vor… der Leser setze fünfzig Jahre),
gab es erwachsene naive Leute,
… die laut schrien:
– Mein Gott was werden da die Amerikaner sagen!
Für manchen
zu jener Zeit bedeutete Yankee sein
beinahe heilig sein
54

Und weiter unten:

Es gab einen fürchterlichen Botschafter.
Und vor allem: Paß auf,
es werden gleich die Amerikaner kommen!
(Andre Leute, die nicht so naiv waren,
sagten gewohnheitsmäßig:
Geh! Wieso sollen sie denn kommen,
sind sie nicht schon hier?)
55

Zum Vergleich den Artikel:

Was wird Onkel Sam sagen, wenn wir uns nicht regieren können? Beim geringsten Versuch zur nationalen Selbstbehauptung… packte die hohen Politiker, die gerade dran waren, die Panik: Die Amerikaner werden kommen!

Dieses Gedicht ist ebenfalls nicht von dem Fakt des Notenwechsels her strukturiert; dieser wird nicht einmal erwähnt. Auch das (im Artikel am Schluß stehende) Manrique-Zitat findet keine Erwähnung, es wurde ja im vorher analysierten Gedicht verwendet. Die poetische Idee des Gedichts ist dem Anfang des Artikels – der dort beiläufigen Feststellung „Als ich Junge war (ach, ich rede von 1914, 1916, 1918)“ – entnommen. „Junge“ ist das konstituierende Element. Es dient nicht mehr der bloßen, dem Fakt untergeordneten Zeitbestimmung, sondern weitet sich zum zentralen Bild und erhält als solches Selbständigkeit. An das Bedeutungsfeld von „Junge“ grenzen Worte wie „Kind“, „Erwachsener“ sowie Verwandtschaftsbezeichnungen wie „Onkel“. Auf diesen baut Guillén sein Gedicht auf. An betonter Stelle heißt es im Mittelteil:

Es geschah aber,
daß wir eines Tages uns wie Kinder fühlten, die erwachsen werden,
und von jenem ehrenwerten Onkel, auf dessen Knien sie saßen, erfuhren,
daß er als Betrüger im Gefängnis saß
.56

Das „Kind“ wird erwachsen. Der Onkel, der im Artikel als Onkel Sam erschien und die USA bezeichnete, wird zur bildhaften (die USA einschließend, aber sich nicht auf sie beschränkenden) Verwandtschaftsbezeichnung und auf „Junge“ bezogen. Am Schluß des Gedichts wird unter verstecktem Hinweis auf die Revolution das Erwachsensein als Tatsache betont: 

Wir sind einfach erwachsen geworden.
Wir sind erwachsen geworden, doch wir vergessen nicht
.57

Die Bildfolge Junge/Kind-Erwachsenwerden-Onkel-Erwachsensein gibt dem Gedicht eine aufsteigende Linie, die einen Prozeß darstellt. Die in ihm sichtbar werdende Gedankenentwicklung mittels Bildentwicklung besitzt eine innere Logik, die auf dem gewählten Bild aufbaut. Das naive Kind hält den jovialen Onkel für gutmütig; in dem Maße, wie es erwachsen wird, durchschaut es ihn als Zuchthäusler. Der Schluß: „Wir sind erwachsen geworden“, ist auch ein logischer Schluß, der das Bild abschließt und vollendet. Guillén hat damit alle Möglichkeiten des zentralen Bildes ausgeschöpft. Die Kubaner sind aus Kindern zu Erwachsenen geworden und haben die Herrschaft des USA-Imperialismus, der sich als gutmütiger Onkel getarnt hatte, durchschaut und abgeworfen.
Dieser Reifeprozeß hätte, gekoppelt mit der Paraphrase auf Jorge Manrique, nicht ausgedrückt werden können, weil dadurch die Bild-Logik zerstört und im Rahmen der Metaphorik von „Lang ist es her“ zu der unsinnigen Behauptung geführt hätte, daß alle Kindheit schlecht sei. Die „Sachlogik“ des Artikels hingegen führte zum Manrique-Zitat, aus dem Guillén dann eine neue Gedankenreihe poetisch entwickelte, die in dem Gedicht „Jede Vergangenheit war schlechter“ in seiner Gedankenstruktur und -logik genauso geschlossen und ausgeschöpft ist wie in „Lang ist es her“ in seiner Bildstruktur und -logik.
Lang ist es her wird durch die drei Bildstufen von „Kind“ in zwei gleich lange, sich inhaltlich komplementierende Teile strukturiert: Der erste gestaltet die frühere Macht der USA in Kuba und ihr Prestige, ihr „image“, und ist mit „Junge“ als Bildelement gekoppelt. Der zweite demonstriert den Zusammenbruch von Macht und „image“ der USA und ist gekoppelt mit dem Bildelement „Erwachsensein“ und dem Verb „wissen“:

Und eines Tages wußten wir alles.58

Das Gedicht läßt folgende Deutungen und Wirkungen zu:
1. In der aktuellen Situation des Notenwechsels konnte es wie der Artikel als Kommentar zum Notenwechsel interpretiert werden, da dieser in aller Munde und im Gedächtnis jeden Lesers gegenwärtig war. Die Wirkung mußte direkt sein und wie der Artikel zur Unterstützung dieser Aktion der kubanischen Regierung aufrufen. Dies wird auch durch einen eindeutigen Publikumsbezug unterstützt („der Leser setze fünfzig Jahre“; der das Publikum einschließende Plural: „wir sind einfach erwachsen geworden“; am Schluß eine Aussage, die der Funktion nach ein Imperativ ist, eine Mahnung an den Leser: „wir vergessen nicht“). Das Gedicht enthält weniger Agitation als Aufklärung und besitzt daher nicht die Struktur der Gedichte für Soldaten, es verfügt vor allem nicht über die literarische Gestalt des Publikums. Ein Vergleich mit dem Artikel zeigt, daß auch dieser weniger agitiert und mehr kommentiert, weshalb ihn Guillén Chronik nannte. Die literarische Gestalt des Publikums erscheint offensichtlich nur, wenn eine starke Beeinflussung des Handelns des Lesers durch den Autor intendiert ist.
2. Außerhalb dieser Situation kann der Zusammenhang des Gedichts mit dem Notenwechsel überhaupt nicht begriffen werden, da er mit keiner Silbe erwähnt wird. Es kann weder als Kommentar dazu fungieren noch bestimmte Aktionen zur Unterstützung dieser einmaligen Handlung der Regierung stimulieren, da das Geschehen bereits Vergangenheit ist. Unter diesen Umständen wird eine ästhetische – und nicht mehr operativ-direkte – Wirkung über die Bildfolge Junge – Erwachsenwerden – Erwachsensein realisiert. Das zentrale Bild ist zu Beginn auf Guillén selbst bezogen:

Als ich ein Junge war (vor… der Leser setze fünfzig Jahre).

Guillén wurde 1902 geboren, im Gründungsjahr der Republik Kuba unter USA-Protektorat. Wie sein Land wurde er erwachsen, erkannte die Gefährlichkeit des „guten Onkels“ Sam und reihte sich in den Kampf gegen dessen Bevormundung ein. Insofern sind zentrales Bild und alle einzelnen Elemente auch auf das Individuum Guillén bezogen, das als lyrisches Ich in seinem Fühlen, Denken und Verhalten im Gedicht präsent ist, während er im Artikel nur als Textproduzent hervortritt. Das Gedicht ist Ausdruck seines eigenem geistigen und politischen Reifens, das ihn befähigte, in einem aktuellen politischen Fakt einen so großen Beziehungsreichtum zu entdecken.
Gerade das Bild von Kindheit und Erwachsensein ermöglicht eine vielschichtige Interpretation. Das Abwerfen einer entwicklungshemmenden Vormundschaft und das Durchschauen eines als Biedermann getarnten Gegners kann hierdurch starke Impulse erhalten. Das zentrale Bild spricht den Erlebnisbereich eines jeden an, es ermöglicht dem Leser einen großen Assoziationsspielraum und fordert dadurch seine Mitarbeit heraus: Er kann banale Kindheitserinnerungen assoziieren, die mit dem Zusammenbruch eines „image“ zusammenhängen, aber auch gesellschaftlich relevante Erschütterungen, die denen von Molières Orgon gleichen, der Tartuffe als Heuchler erkennt, oder eines Soldaten der Hitlerwehrmacht, der sich beschämt bewußt wird, wie sehr er betrogen wurde. Dadurch kann das Gedicht mithelfen, Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur des Lesers herbeizuführen, und ihn „um seiner selbst willen“ bewegen. Das Bild des erwachsen werdenden Kindes macht das Gedicht im Gegensatz zur Eindimensionalität, Eindeutigkeit und Einmaligkeit des Artikels zu einem polysemen, mehrdeutigen Gebilde. Der Anteil des Publikums an Deutung und Wirkung wird um so größer, je mehr von den unmittelbar praktischen Zwecken der Publizistik abgesehen wird, so daß schließlich die Zahl der Deutungs- und Wirkungsvarianten gleich der Zahl der Leser bzw. der einzelnen Leseakte ist.59
Die Nähe des Textes zur Publizistik wird noch in vielen Elementen sichtbar, zum Beispiel in der Nennung von authentischen Namen, Orten und Ereignissen. Diese Zeichen sind in einem Artikel eindeutig, da ihr einziges Vergleichsobjekt die Elemente der authentischen Wirklichkeit sind, die sie bezeichnen. So wie Guillén den Namen des kubanischen Außenministers Roa nicht durch Rodriguez und den des USA-Botschafters Bonsal nicht durch den von Welles (der 1933 Botschafter in Havanna war) austauschen konnte, genausowenig hätte er in einem journalistisch-dokumentarischen Text „Munson Line“ durch „Southern Pacific“ ersetzen können:

Wir reisten mit der Southern Pacific nach Mobila,
mit der Munson Line nach New Orleans.

Eine Vertauschung beider Elemente hätte Fehlreaktionen ausgelöst: Ein Reisender, der sich nach dieser Information gerichtet hätte, wäre zu seinem Erstaunen statt in Mobila in New Orleans eingetroffen. Diese Eindeutigkeit ist aber in einem lyrischen, das heißt fiktionalen Text nicht erforderlich. Die im Gedicht genannten Schiffahrtslinien 

Wir reisten mit der Munson Line bis Mobila,
mit der Southern Pacific bis New Orleans,
mit der Ward Line bis New York
60

könnten durchaus vertauscht werden, weil kein Reisender sich nach Gedichtangaben richtet. Der poetische Text wird von vornherein als Fiktion verstanden. Zum anderen ist nach einem gewissen zeitlichen oder räumlichen Abstand das jeweilige authentische Element bzw. Geschehen, das im Text genannt wird, gar nicht mehr dem Gedächtnis des Lesers gegenwärtig. Der Name des authentischen Botschafters Bonsal besagt dann genausoviel oder sogar weniger als der fiktive Name Donkey, bei dem der ironisch-satirische Akzent direkt rezipiert wird. So werden auch „Munson Line“ und „Southern Pacific“ primär in ihrem Bildwert aufgenommen. Sie besagen etwa folgendes: Kuba war früher vollständig von den USA abhängig, daß es, obwohl eine Insel, nicht einmal eine eigene Flotte besaß. Der Kubaner der verreisen wollte, war gezwungen, eine USA-Schiffahrtslinie zu benutzen, zum Beispiel die Ward Line nach New York. Das Faktische interessiert nicht mehr, sondern der konkrete synthetisierende Bildwert, der Allgemeines und Individuelles umschließt. Die authentischen Elemente verlieren ihre Eindeutigkeit. „Munson Line“ bezeichnet eine bestimmte Schiffahrtslinie, bedeutet aber auch ökonomische Abhängigkeit von den USA und ist deshalb von einem eindeutigen Terminus zu einem poetischen Bild geworden. Da die ursprüngliche Bezeichnungsfunktion sekundär geworden ist, können diese Zeichen wie Fiktionen behandelt und ausgetauscht werden. Als solche verweisen sie nicht mehr nur auf die Politik, sondern zum Beispiel auch auf den Erlebniswert einer Seereise, vermögen also universelle Assoziationen zu erzeugen.
Diese Austauschbarkeit ist jedoch nicht absolut und unbegrenzt. Guillén wählte die authentischen Elemente sowohl qualitativ als auch quantitativ entsprechend ihrer tatsächlichen Repräsentanz. Die Mehrzahl solcher Bezeichnungen ist dem ökonomisch-kommerziellen Bereich entnommen (Fruit Juice Huelsencamp, Cuban Company, Cuban Telephone),61 weil die ökonomische Abhängigkeit von den USA total war. Auffällig ist ferner die Verwendung von Reklameslogans (Fußball Marke „Reich“, Walk-Over-Schuhe, Pillen von Dr. Ross)62 und das Anspielen auf Sportereignisse und Sportler (Cincinnati gewann gegen Pittsburg; Johnson, der Boxer):63 Sport und Reklame wurden in ihrer typisch amerikanischen Form nach Kuba exportiert.
Mit Ausnahme des Films und der Trivialliteratur, wo der USA-Einfluß nachweislich stark war – Guillén nennt Nick Carter und Buffalo Bill64 –, fehlen hingegen Exempel aus Kunst und Mode, weil hier tatsächlich eine gewisse Eigenständigkeit herrschte bzw. Länder wie Frankreich einen größeren Einfluß ausübten als die USA. Die Austauschbarkeit ist ferner durch den rhythmischen und lautlichen Charakter der Zeichen begrenzt.
Das künstlerische Werk ermöglicht die Interpretation des Lesers und gibt ihr eine bestimmte Richtung, ohne sie auf einen einzigen Zweck festzulegen. Das Gedicht „Lang ist es her“ besitzt nicht die Einfachheit und Eindeutigkeit des Artikels „Jede Vergangenheit war schlechter“ und verfolgt nicht dessen unmittelbare praktische Zielstellung. Aber es steht auch nicht willkürlicher Interpretation offen, weist trotz aller Mehrdeutigkeit keine „Vieldeutigkeit“ oder „Alldeutigkeit“ auf.65

Die Elegie auf Jesús Menéndez – ein Beispiel moderner Versepik
Guilléns Hauptwerk, die Elegie auf Jesús Menéndez, war zunächst als Reaktion auf ein aktuelles Ereignis konzipiert, auf den Mord an dem Gewerkschaftsführer. Aber unterderhand nahm es größere Dimensionen an und gestaltete sich zu einem Epos, an dem der Dichter drei Jahre lang intensiv arbeitete. Das Geschehen jenes Januartages von 1948 wird in den Gesamtzusammenhang eingeordnet und der Bezug zu den USA, den Monopolen, der Börse und den damit verquickten innenpolitischen Auseinandersetzungen hergestellt, die zur Errichtung der Batista-Diktatur führten. Aber auch die andere Seite, die Arbeiter und Bauern, deren Führer Menéndez war, wird einbezogen und ihr Sieg in Versen besungen, die gleichsam den Einzug Fidel Castros in Havanna antizipieren. Aus dem beabsichtigten Gelegenheitsgedicht wurde eine Art kubanisches Nationalepos um eine Gestalt, die wie in den großen Epen der Vergangenheit in wahrhaft exemplarischer Weise die besten Eigenschaften und Bestrebungen des kubanischen Volkes verkörperte und an führender Stelle das nationale Leben mitgestaltet hatte. Auch das Ereignis besaß epische Dimensionen: Der Tod des Arbeiterführers war von schicksalhafter Bedeutung für Kuba; er hatte die ganze Nation zutiefst aufgewühlt.
Allerdings war es nicht Guilléns Anliegen, alle Ereignisse, die in dem Mord an Menéndez kulminierten, episch-extensiv darzustellen. Das hätte ein Roman, der ja in der Moderne an die Stelle des alten Versepos getreten ist, weit besser zu leisten vermocht. Sein Augenmerk galt der nationalen Bedeutung des Helden und den Folgen seiner Ermordung für die Nation. Menéndez sollte ein Mensch von Fleisch und Blut, zugleich aber Symbol für die kubanische Revolution sein. Guillén setzte an die Stelle epischer Extensität lyrische Intensität, indem er die auf extensive Beschreibung gerichtete, ein für allemal festgelegte Vers- und Strophenstruktur des traditionellen Epos durch eine intensive, viele Vers- und Strophenformen umfassende Gedichtstruktur ersetzte.
Guillén benutzt die zufällige Gleichheit der Vornamen, um Jesús Menéndez sozusagen als den kubanischen Jesús Christus hinzustellen. Er macht den Leser mit Hilfe der biblischen Überlieferung mit Menéndez vertraut und führt ihm dessen nationale und soziale Bedeutung vor Augen, indem er an eine volkstümliche Umdeutung von Christus als Erlöser der Armen und als Erlöser vom Übel der Ausbeutung anknüpft. Aber mit diesem Anknüpfen erfolgt zugleich der Bruch in Form einer radikalen Umdeutung. Dem kommunistischen Dichter kann es nicht darum gehen, den militanten Kommunisten Menéndez in einen passiven religiösen Dulder umzumünzen. Statt mythisierendes und magisches Denken will Guillén wissenschaftliche Erkenntnis und aktives, politisch-organisiertes Handeln befördern. So zeigt er in mehreren Prosablöcken die Unterschiede zwischen dem Kubaner und dem Nazarener. Die Sprache wird kurz, hart, politisch, enthüllt durch das Gegenüber von Thesen und Antithesen, von Sätzen und Gegen-Sätzen nach den Gemeinsamkeiten die fundamentalen Gegensätze zwischen Menéndez und Christus:

Jesús ist nicht im Himmel, sondern auf Erden; er fordert keine Gebete, sondern Kampf; er will keine Priester, sondern Genossen; keine Kirchen errichtet er, sondern Gewerkschaften: Niemand wird ihn töten können.66 

Dabei stellt Guillén den rationalen Kern der Überlieferung als historisch notwendige, aber zu überwindende Vorstufe dar. Der christliche Unsterblichkeitsgedanke wird umgedeutet als Weiterleben Menéndez’ in seinen Werken, die sozialistische Revolution erscheint als die wahre Auferstehung des Menschen, weil sie die praktische Verwirklichung der seit Jahrtausenden ersehnten Befreiung von Ausbeutung und Versklavung ist: 

Dann wird er kommen,
Feldherr des Zuckerrohrs, mit seinem Schwert
aus einem großen geschliffenen Blitz;
dann wird er kommen,
Reiter auf einem Pferde aus Wasser und Rauch,
ruhiges Lächeln im gelassenen Gruß.
Dann wird kommen, um zu reden,
Jesús, um zu sagen:
– Sehet, hier gibt es Zucker nun ohne Tränen.
Um zu sagen:
– Ich bin wiedergekommen, fürchtet euch nicht
.67

Nach der Uminterpretation kann Guillén das christlich-mythologische Bild bis zum Schluß durchhalten. Jesús Menéndez wird zum praktisch-politischen Vollstrecker der an Jesús Christus geknüpften Hoffnungen des Volkes und Jesus Christus zum historisch notwendig unvollkommenen Vorfahr von Jesús Menéndez.
Guillén hebt zu Beginn des Gedichts durch zwei verschiedene Strukturen die Bedeutung der Aussage hervor. Die poetische Schilderung des Mordes im ersten Abschnitt ist ganz der tragischen Größe des Geschehens gemäß.68 Im zweiten Abschnitt geht die gehobene poetische Sprache allmählich in sehr prosaische, monotone Börsennotierungen über, sogar Zeitungsmeldungen werden zitiert.69 Hiermit wird das Kalt-Geschäftsmäßige, das Nüchtern-Berechnende, kurz, der gesamte kommerzielle Hintergrund des Mordes angedeutet. Die chaotisch erscheinende Aufzählung der Männer an der New-Yorker Börse schließlich – Geschäftsleute Makler, Schreiber, Politiker, Militärs wie Truman und Mac Arthur werden in einem Atemzug genannt mit Zuhältern, Denunzianten, Falschspielern – steht für die Einheit von Geschäft und Verbrechen.70
Im „Lied von der verwundeten Taube“ erweist sich der volkstümliche kubanische Son als bestes Mittel, um der Trauer des Volkes um seinen großen Toten und damit dessen Volkstümlichkeit adäquaten Ausdruck zu verleihen.71 Und in der im Spanischen ungewohnten neunsilbigen Romanze vom Hauptmann, der wegen seiner Untat verfolgt wird, erzeugt der Refrain „doch hinter ihm drein eilt der Tod“72 mit beklemmender Eindringlichkeit eine schicksalhafte Atmosphäre von Untat und Strafe, kündet den unausweichlichen Gerichtstag, die nahende Revolution an.
Das komplizierte Aufeinanderbezogensein der verschiedenen Formelemente – das wir hier nur andeuten konnten – legt den Vergleich des Gedichts mit einem Bauwerk oder einer polyphonen Sinfonie nahe. Ein solcher Vergleich, wie er von vielen Kritikern gezogen wurde, hilft beim Verständnis der von Guillén angestrebten Intensität, die nicht so sehr auf zeitliches Nacheinander, sondern vor allem auf Neben- und Ineinander abzielt.
Guillén schrieb eigentlich stets nur von sich, von seinem persönlichen Verhältnis zur Welt. Das bedeutet aber keine individualistische Selbstbespiegelung, denn seine Entwicklung zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß er sich von der Peripherie ins Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bewegte, so daß sein eigenes Leben und Erleben mit dem Leben der Nation zusammenfloß. In dem Maße, wie sich diese Einheit zwischen Individuum und Gesellschaft vollzog und dem Autor bewußt wurde, erhält seine Dichtung gesellschaftliche Relevanz. Dadurch, daß Guillén sein eigenes Leben ständig in Richtung auf die Gesellschaft veränderte, öffnete er seiner Lyrik den Weg von weltfremdem Provinzialismus über die Darstellung des Lebens der Farbigen zur Gestaltung der sozialen und politischen Kämpfe seines Volkes. Er vermochte seiner Thematik stets die adäquate und wirksamste Form zu geben. Die Weiterentwicklung der afrokubanischen Folklore, die Schaffung eines besonderen Typs des aktuellen Zeitgedichts und die Herausbildung eines modernen Versepos bedeuten zugleich neue, originelle Gestaltungsmittel, die mit neuen Inhalten in die kubanische Literatur und die Weltliteratur eingebracht werden. Seine Dichtung ist Instrument zur revolutionären Veränderung der Welt.
In diesem Sinne ist die Gleichberechtigung der Farbigen, die Volksherrschaft und überhaupt die sozialistische Revolution in Kuba auch Guilléns Werk: Frucht sowohl seines praktischen gesellschaftlichen Wirkens als auch seiner literarischen Produktivität. Jene Episode, die wir an den Anfang unserer Darlegungen stellten, ist durchaus bezeichnend: Durch die literarische Vorwegnahme der Strafe für den Mord an Menéndez trug er seinen Teil dazu bei, daß diese Strafe später in der Wirklichkeit vollzogen wurde. 

Hans-Otto Dill, aus Hans-Otto Dill: Sieben Aufsätze zur lateinamerikanischen Literatur, Aufbau Verlag, 1975

 

 

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Zum 80. Geburtstag des Autors:

Monika Walter: Verse von Träumen, die Wirklichkeit werden
neues deutschland, 10.7.1982

Hans-Otto Dill: Nicolás Guillén zum Achtzigsten
Sinn und Form, Heft 3, Mai/Juni 1982

Nachruf auf Nicolás Guillén: neues deutschland

 

Die revolutionären Verse des Poeten Nicolás Guillén.

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