Peter Rühmkorf: Zu Georg Grosz’ Gedicht „Gesang an die Welt I“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Grosz’ Gedicht „Gesang an die Welt I“. –

 

 

 

 

GEORGE GROSZ

Gesang an die Welt I

Ach knallige Welt, du Lunapark,
Du seliges Abnormitätenkabinett,
Paß auf! Hier kommt Grosz,
der traurigste Mensch in Europa,
„Ein Phänomen an Trauer“.
Steifen Hut im Genick,
Kein schlapper Hund!!!!
Niggersongs im Schädel,
Bunt wie Hyazinthenfelder,
Oder turbulente D-Züge,
Über rasselnde Brücken knatternd –
Ragtimetänzer,
Am Staketenzaun wartend mit der Menge
Auf Rob. E. Lee.
_ _ _ _

Horido!
Beim Bart des Oberlehrers Wotan –
Nachmittags verbrämte Kloaken,
Überpinselte Fäulnis,
Parfümierter Gestank –
Grosz witterts.
Parbleu! Hier riecht’s nach gebratenen Kindern.

 

Showfreak und lyrisches Ich

Am Anfang war ein Bild, hübsch wahnsinnsbunt und perspektivisch verschroben. „Ach, knallige Welt, du seliges Abnormitätenkabinett“, das schien von Titel und Vorwurf her noch für einige weitere Überraschungen gut. In dem zwei Jahre später in der Zeitschrift 1918. Neue Blätter für Kunst und Dichtung veröffentlichten „Gesang an die Welt“ haben wir dann die Bescherung. Vom Rande des Bildes her (wo es bislang ein fahlgelbes Schattendasein führte) begibt sich das Ich persönlich in die Mitte des Geschehens und schwingt sich namentlich auf die Bretter einer Abstrusitätenbühne, die die neue Welt bedeutet.
Dabei meint knallig selbstverständlich zweierlei. Das Wort heißt soviel wie „knallbunt“ und signalisiert gleichzeitig, daß die Welt ganz offensichtlich einen „Knall“ hat. Und wer auf diesem Rummelplatz ein Individuum leuchten lassen will, der muß sich schon als Showfreak unter anderen zur Schau stellen.
Auf der Welt sein, heißt also ohne jede Beschönigung, über den Markt müssen; und eine eigene Position bestimmen, seinen Schmerz wie eine unerhörte Jahrmarktsensation hinausposaunen:

Der traurigste Mensch in Europa.

Ja, um zu zeigen, daß man eine wirkliche Spitzennummer anzubieten hat, werden auf den traurigen Narren noch anderthalbe gesetzt und die Selbstanpreisung mit einem Waschzettel-Extra beflaggt: „Ein Phänomen an Trauer“, da soll mal jemand kommen und ein nennenswertes Konkurrenzprodukt dagegenstellen.
Der Unterschied zum guten alten Verelendungs-Expressionismus wird dabei augenblicklich evident. „Und seine Traurigkeit ist dionysisch / schwarzer Champagner seiner Klage“, besang die große Else Sappho-Schüler den geschätzten George Grosz etwa um die gleiche Zeit – nur, das war in gewisser Hinsicht immer noch alte Schule und um einen bestimmten kritischen Wahrnehmungswinkel an der neuen Wirklichkeit vorbei.
Wo sie ihre Verse öffentlich im glitzernden Artistenfummel vortrug, trat Grosz in die Rolle des eisgekühlten Snob und des nach dem letzten Businesslook gekleideten Geschäftsmannes. Wo die meisten Künstlerkollegen immer noch den Anschein von Boheme bevorzugten, setzte er auf die in jeder Hinsicht aus dem Rahmen fallende Mimikry. „Ja, er war ganz und gar ein Herr. Wie aus einer Modezeitschrift ausgeschnitten sah er aus“, beschreibt der Freund und Mitdadaist Wieland Herzfelde das durch den Schein der Anpassung besonders befremdliche „Phänomen“, und er malt uns das Bild einer in der Tat verstörenden Extravaganz vom „Scheitel, so scharf wie eine Bügelfalte“ bis zu „den neuen, allzu reich mit Lochornamenten verzierten dicksohligen schwarzen Halbschuhen“. Der „steife Hut im Genick“ ist also alles andere als ein bloß poetisches Versatzstück. Wem das auf Anhieb einging, war übrigens der junge Brecht. Der war angeblich freundlich zu den Leuten und setzte sich „einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch“. Es tut ihm wohl keinen Abbruch, wenn wir der Gerechtigkeit halber erwähnen, daß er, der alle beerbte, auch bei Grosz seine Anleihen machte und neben der Bürgermelone gleich noch dessen bunte Amerikaträume mitgehen ließ.
Über die amerikanischen Phantasien im Kopf des jungen George Grosz ist viel gerätselt worden, und wir können die bunten Vexierbilder hier gewiß nicht im einzelnen auflösen. Rechnen wir neben den „Niggersongs“ aber auch noch die „turbulenten D-Züge“ und die „rasselnden Brücken“ und den „Ragtime“ mit unters Schädel-Inventar, dann offenbart sich der Traum wohl recht deutlich als musikalisch-akustische Simultanvorstellung, in der Raum und Zeit durcheinandergehen und ein Robert E. Lee gleichzeitig ein längst verblichener Bürgerkriegsgeneral, ein nach ihm benannter Mississippidampfer und ein musikalischer Refrainmacher („Waiting on the Levee / Waiting for the Robert E. Lee“) sein darf.
Nach einer gestrichelten Leerzeile – eine Stakkato-Notierung, die George Grosz beim Vortrag durch Stepschritte auszufüllen pflegte – ruft sich der ins Rasen geratene Kopf gewissermaßen wieder zur Ordnung, beziehungsweise rückt er sich die heimatliche Welt noch einmal ins rechte Lot, und, „horrido“, neben der Lunaparkkulisse oder hinter ihr tut sich noch einmal eine zweite Wahnsinnsbühne auf, die heißt: Lazarett statt „Abnormitätenkabinett“ und (warum nicht so hoch gegriffen?) Schädelstätte statt Freak-and-Monster-Show. Da kann man sich auf die unvermeidliche Frage nach dem „Positiven“ denn wohl nur noch für die eine oder für die andere Verirrung entscheiden.

Peter Rühmkorfaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00