Ralph Dutli: Ein Fest mit Mandelstam

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ralph Dutli: Ein Fest mit Mandelstam

Dutli-Ein Fest mit Mandelstam

DAS BROT DER POESIE

Nach dem mit Nadeschda geteilten Hunger das mit Nadeschda geteilte Brot. Die Lebensgefährtin Mandelstams war unzweifelhaft das Modell des angesprochenen Du in einem Gedicht vom Januar 1931. Im Kontext des Mandelstamschen Werkes mit seinem komplexen Bilderreichtum und der Vielzahl literarischer wie kulturhistorischer Bezüge ist es in seiner Schlichtheit und scheinbaren Einfachheit ein beinahe irritierend untypisches Gedicht:

IN DER KÜCHE setzen wir uns hin –
Süß riecht hier das weiße Kerosin.

Scharfes Messer, ein Laib Brot…
Mach daß der Primuskocher loht!

Sonst such Stricke in der Nacht,
Unsern Korb dann zugemacht –

Fort zum Bahnhof das Gespann,
Wo uns keiner finden kann…

Auf alle Metaphern verzichtend, führt Mandelstam dem Leser hier eine Existenz zwischen Küchenbiwak und erneutem Aufbruch vor Augen, das Nomadenleben der Mandelstams in den dreißiger Jahren. Doch scheint er auch hier den Wechsel zwischen Biwak, Aufbruch und Unterwegssein bereits angenommen zu haben, er lebt das Unstete, das vielleicht erträglich wird durch die Gegenwart des Du, hinter dem Nadeschda steht. Subjekt des Gedichtes ist diese Partnerschaft im Wir. Ein Ich erscheint hier nicht.
Bei aller Einfachheit ist es ein beklemmendes Gedicht – wohl deshalb, weil die Gründe für Aufbruch und Verfolgung („Wo uns keiner finden kann“) ungesagt bleiben. Die tragische Isolierung des Wir in einer feindlichen Umwelt steht im letzten Vers – und zwischen den Zeilen. Und dennoch vollzieht sich im Gedicht eine bescheidene Feier, im kleinstmöglichen Mahl: die kurzfristige Wärme einer Küche, der süße Geruch des Kerosins, ein Laib Brot.

Selbst in der Woronescher Verbannung (1934–1937), der dem Lagertod vorausgehenden Zeit des Aufschubs, ist Mandelstam bereit, das Brot überall zu finden, wo es sich anbieten könnte, auch dort, wo es keiner vermuten würde, auch in der ihn umgebenden Natur, auch im Schnee. Hier die Schlußzeile eines Gedichtes vom 16. Januar 1937:

Im Auge knirscht der Schnee, ist rein und schuldlos: Brot.

Noch einmal werden Brot und Schnee verknüpft, in einem Gedicht des 19. Januar 1937, wo Mandelstam nicht von seinem Hunger spricht, sondern vom russischen Volk:

ICH STEHE NUN im lichten Spinngewebe
Von schwarzem Haar, von hellem Feh –
Das Volk braucht Licht und blaue Luft zum Leben,
Es braucht das Brot, und Elbrusschnee.

Mir heute Rat zu geben, hab ich keinen,
Ihn noch zu finden: eine Qual –
Solch glashell-rein verweinte Steine
Gibt’s weder auf der Krim noch im Ural.

Das Volk braucht Verse, unerklärlich und vertraut,
Um sich vom Schlaf für immer aufzuwecken –
In ihrer Welle, flachsen und kastanienbraun,
In ihrem Atem sich zu waschen, zu umdecken.

Eine ganze Proviantliste dessen, was dieses Volk braucht: Licht, Luft, Brot, Schnee und… Verse. Gedichte also, rätselhafte und doch nahe, „unerklärlich und vertraut“. Genau das, was Mandelstam diesem Volk anzubieten hätte, noch nicht jetzt, wo er in Woronesch mit der Etikette eines „Volksfeindes“ herumzugehen hat, sondern später, in der Zukunft. Man sollte sich hier an Mandelstams Antwort auf die Zeitungsumfrage von 1928 erinnern – zum Thema „Der Sowjetschriftsteller und die Oktoberrevolution“:

Die Oktoberrevolution mußte meine Arbeit beeinflussen, da sie mir die „Biographie“ wegnahm, das Gefühl einer persönlichen Bedeutsamkeit. Ich bin ihr dankbar dafür, daß sie ein für allemal Schluß gemacht hat mit dem geistigen Versorgtsein und einem Leben auf Kulturrente… Ich fühle mich als Schuldner der Revolution, bringe ihr jedoch Gaben dar, die sie vorläufig noch nicht benötigt.

Das karge Brot, das Mandelstam in Woronesch findet, ist noch das „bittre Brot“ des Exils. Kein Wunder, erinnert er sich am 22. Januar 1937 an einen anderen Verbannten und Exilierten, dem er vier Jahre zuvor seinen wichtigsten Essay gewidmet hat: Dante Alighieri. Erinnerung an die verbotene Stadt Petersburg, wo das Eis kracht unter den Brücken. Petersburg ist Florenz, Florenz ist Petersburg:

JA, ICH HÖR ES: frühes Eis,
Unter Brücken rauscht’s, von fern,
Seh ihn noch, er schwimmt dort weiß:
Heller Rausch, auf jeder Stirn.

Auf dem starren Herz der Treppen,
Vor dem eckigen Palast
Sangen Alighieris Lippen

Schwer erschöpft – und voller Macht
Seinen Kreis: Florenz, erlitten.

Hier, mein Schatten, seine Augen
Atzen körnigen Granit –
Nacht: er sieht nur hohle Mauern
Wo am Tag ein Haus noch schien.

Einmal ruht der Schatten, faul,
Gähnt mit mir, in mich hinein,

Wärmt sich unter Fremden auf,
Nimmt den Himmel, ihren Wein,

Wirft das bittre Brot hinaus
Dreisten Schwänen in den Leib…

Dieses Gedicht nährt sich vom 17. Gesang des Paradiso in der Divina Commedia, wo Dante seinen Ururgroßvater Cacciaguida über sein eigenes Schicksal befragt und dieser ihm seine Verbannung voraussagt – doch auch den schließlichen Triumph der Wahrheit:

Tu lascerai ogni cosa diletta
aaapiù caramente, e questo è quello strale
aaache l’arco dello esilio pria saetta.
Tu proverai sì come sa di sale
aaalo pane altrui, e com’è duro calle
aaalo scendere e ’l salir per l’altrui scale.

Du wirst, was dir am teuersten gewesen,
aaaVerlassen, und dies ist die erste Wunde,
aaaDie dir wird schlagen der Verbannung Bogen.
Du wirst erfahren, wie das Brot der Fremde
aaaGar salzig schmeckt und welche harten Stufen
aaaAuf fremden Treppen auf und ab zu steigen.

Im selben Gesang von Dantes Paradiso wird die Botschaft eines Dichters mit einer Nahrung für die Nachkommenden verglichen, die Wahrheit als schwer zu kauende Speise gedeutet – und Lebensnahrung auch Mandelstam-Lesern versprochen!

Ma nondimen, rimossa ogni menzogna,
aaatutta tua vision fa’ manifesta;
aaae lascia pur grattar dov’è la rogna.
Chè se la voce tua sarà molesta
aaanel primo gusto, vital nutrimento
aaalascerà poi, quando sarà digesta.

Trotz alledem, laß jede Lüge fahren.
aaaVerkünde offen alles, was du schautest,
aaaUnd laß nur, wo die Räude beißt, sie kratzen.
Denn wenn auch deine Kunde hart zu kauen
aaaBeim ersten Kosten, wird sie Lebensnahrung
aaaDann hinterlassen, wenn man sie verdaute.

Das „bittre Brot“ des Exils wird schließlich bei Mandelstam zum Bild für die Poesie schlechthin – in einem der schönsten Abschnitte der Entwürfe zum Gespräch über Dante (Sommer 1933):

In Puschkins Verständnis, das er von den großen Italienern als freies Erbe übernommen hat, ist die Poesie ein Luxus, doch ein Luxus, der so lebensnotwendig ist wie Brot und manchmal genauso bitter.

Das Organ aber, in dem Poesie und Essen ihren gemeinsamen Ort haben, in dem die Sprechlaute entstehen und die Speisen empfangen und geschmeckt werden, bekommt hier seine besondere Feier: der Mund, der Gaumen, die Zunge.

Großartig ist der Vershunger der alten Italiener, ihr raubtierhafter, jugendlicher Appetit auf Harmonie, ihr sinnliches Verlangen nach dem Reim – il disio!
Die herrlichen weißen Zähne Puschkins – männliche Perlen der russischen Poesie!
Was macht Puschkin mit den Italienern verwandt? Der Mund arbeitet, ein Lächeln bewegt den Vers, klug und fröhlich röten sich die Lippen, und die Zunge schmiegt sich zutraulich an den Gaumen.

Poesie wird hier gegessen, in diesem Abschnitt der schönen Paradoxe. Ein Luxus, aber lebensnotwendig. Bitteres Brot, doch ein Lächeln bewegt den Vers… Wer diese Paradoxe im Ohr behalten will, kann in unserem Geburtstagsmenü nicht verlorengehen.

 

 

 

Noch keine Vorspeise

– Ein Vorwort. –

Zu Ossip Mandelstams 100. Geburtstag am 15. Januar 1991 möchte der Autor dieses kleinen Essays den Leser zu einem symbolischen Geburtstagsmahl bitten, zu welchem kein anderer als Ossip Mandelstam selber Speise und Trank beisteuern wird.
Was mich über die Jahre hin immer wieder überrascht hat, ist die Fähigkeit dieses vom Leben durch Verfolgung, Verhaftungen, Deportation, bis zum Tod im Zwangsarbeitslager geschundenen russischen Dichters, noch dem Kleinsten und Unscheinbarsten Poesie und Humor abzugewinnen, noch die kleinste Mahlzeit zu feiern, noch im Krümel das Ganze zu ahnen, die Fülle. Mandelstams Werk stellt die Unterscheidung zwischen Essenz und Lappalie in Frage, preist oft das Kleine und bringt das Große arg in Verlegenheit. In einem der Gedichte von 1931 in Mitternacht in Moskau heißt es:

Und denkst du nach, was an die Welt dich bindet,
Du glaubst dir selber nicht: nur kleiner Kram.

Was sich aus Mandelstams Werk zum Thema Essen und Trinken beibringen läßt, überschreitet ständig die Grenzen des Anekdotischen und Witzig-Alltäglichen und führt ins Zentrum seiner Poesie, die sich als Hinwendung zum Leben versteht, als Feier des Diesseitigen, Irdischen, Nahr- und Schmackhaften.

Es gibt Dichter, bei denen man kaum fündig würde, und andere, bei denen das Thema des Essens und Trinkens nicht wegzudenken wäre.
Als Théophile Gautier 1834 eine kühne Rehabilitierung des bis dahin als Galgenvogel und Krimineller abgetanen Dichters François Villon (1431–1463?) unternahm und prompt in einen Prozeß wegen Verstoß gegen die guten Sitten verwickelt wurde, lenkte er zum ersten Mal die Aufmerksamkeit auch auf das Essensthema bei Villon.
Er schreibt in dem Text, der später in die Essaysammlung Les Grotesques (1844) einging, daß der Vers „Und sehen Brot nur in den Ladenfenstern“ („Et pain ne voient qu’aux fenêtres“) nur von einem Menschen stammen könne, der mehr als einmal gehungert habe. Deshalb wohl spreche Villon von jedem Lebensmittel, von allem Eßbaren nur mit besonderer Zärtlichkeit und einem eigentümlichen Respekt. Alle kulinarischen Details – und sie sind zahlreich – würden von ihm liebevoll behandelt und geradezu gehätschelt.
Mandelstam muß die Wichtigkeit dieses Themas bei einem seiner Lieblingsdichter erkannt haben, denn er schreibt in seinem Essay „François Villon“ von 1913, der zu einem guten Teil auch Selbstporträt ist:

Der Mond und andere neutrale ,Gegenstände‘ sind unwiederbringlich aus seinem dichterischen Haushalt verbannt. Dafür lebt er sofort auf, wenn die Rede auf gebratene Enten an Soße oder die ewige Glückseligkeit fällt, die zu erlangen er nie endgültig die Hoffnung verliert.

Die enge Nachbarschaft von „gebratenen Enten an Soße“ und „ewiger Glückseligkeit“ suggeriert gewiß Villons – und Mandelstams – entschiedene Diesseitigkeit. Der Satz legt nahe, Villon habe sich unter „ewiger Glückseligkeit“ auch „gebratene Ente“ vorstellen können, und umgekehrt: der Entenbraten gebe ihm eine Idee davon, was Ewigkeit und Glückseligkeit sein könnte.
Der Satz bedeutet zudem, daß Essensdinge und alle Lebens-Mittel nicht „neutrale“ Gegenstände sind, sondern in poetischen Texten ihre besondere Aura haben.
Auch für Mandelstam gilt, daß jedes Lebensmittel in seinem Werk „mit Zärtlichkeit und eigentümlichem Respekt“ behandelt wird. War bei ihm wie bei Villon der zeitweilige Mangel an Eß- und Genießbarem daran schuld, daß sie in seinem Werk dieses besondere Gewicht haben?

Neben Mandelstam sollen hier auch seine Lieblingsdichter zu Tisch gebeten werden, denn er hat sich nie als Selbstversorger verstanden, sondern sein Werk immer als Dialog mit seinen Vorläufern und Verbündeten gestaltet. Nicht nur Villon sitzt hier hungrig bei ihm. Auch der große Vorläufer Alexander Puschkin kommt lächelnd an den Tisch. Wenn im Kapitel der Weine („Champagner und Châteauneuf-du-Pape“) die russischen Klassiker Puschkin und Baratynskij, sowie im Trauben-Kapitel („Das Traubenfleisch guter Gedichte“) der Klassiker Konstantin Batjuschkow an dieser Tafel Platz nehmen und der Text etwas weiter ausholt in die russische Literatur hinein, so möchte das nicht Abschweifung sein, sondern Absicht.
Soll keiner glauben, es handle sich hier um einen kompletten Katalog des Eß- und Trinkbaren bei Mandelstam (die Gefahr der Überfütterung wäre nicht von der Hand zu weisen): andere Menüs und Speisefolgen wären möglich, jeder Leser wähle in diesem Werk, was ihm schmeckt, was er braucht zum Lesen – oder Leben?
Keine Erschöpfung des Themas, aber satt werden darf ein Leser wollen. Und Vergnügen soll ihm dieses Geburtstagsessen bereiten. Doch sei es schlichter Imbiß oder Geburtstagsmenü – vor jeder Mahlzeit muß der Hunger stehen.

Ralph Dutli, Vorwort

 

Da er den russischen Lyriker

aus Anlass seines 100. Geburtstags nicht zum Essen einladen kann, möchte der Autor Ralph Dutli in diesem kleinen Essay den Leser zu einem symbolischen Geburtstagsmahl bitten, zu welchem kein anderer als Ossip Mandelstam selber Speise und Trank beisteuert.
Was sich aus Mandelstams Werk zum Thema Essen und Trinken beibringen lässt, überschreitet ständig die Grenzen des Anekdotischen und Witzig-Alltäglichen und führt ins Zentrum seiner Poesie, die sich als Hinwendung zum Leben versteht, als Feier des Diesseitigen, Irdischen, Nahr- und Schmackhaften.

Ammann Verlag, Ankündigung

 

Poesie – ein Luxus

Es ist leider schon achtzehn Jahre her, das dieses kleine Büchlein erschienen ist – zum 100. Geburtstag des großen russischen Dichter Ossip Mandelstam am 15. Januar 1991.
Ein Fest mit Mandelstam sollte es werden – und wurde es. Ralph Dutli, unumschränkter Herrscher im Reiche „Mandelstam“ und Herausgeber einer schönen zweisprachigen Ausgabe der Werke des Dichters, hat es ausgerichtet. Ein symbolisches Geburtstagsmenue ist daraus geworden – aus verschiedenen köstlichen „Gängen“ ein wunderbarer Essay.
Und so gibt es das Brot und Poesie, wird angerichtet mit Kaviar (Austern mag Mandelstam nicht), es gibt „wirren Salat“, Champagner und Châteauneuf-du-Pape; man speist Schaschlik auf der Krim und Fasan und Wachteln „in Mandelstams Traumland Armenien“. Es war ein Luxus, den sich Mandelstam „gönnte“ – ein Luxus, der für ihn genauso notwendig war wie – in schwerer Zeit – der „Luxus der Poesie“.
Alle diese Gerichte hat Ralph Dutli in Werk des großen Dichters mit der traurigen Biographie ausgemacht, sie in den richtigen, auch literaturwissenschaftlichen Zusammenhang gestellt.
Ein solches „Fest“ kann sich der Leser jederzeit leisten – mit diesem Büchlein, aber und vor allem auch mit der Lektüre des Werkes von Ossip Mandelstam.

Günter Nawe, amazon.de, 6.9.2009

 

Kind der Zivilisation

Aus unerfindlichen Gründen klingt der Ausdruck „Tod eines Dichters“ immer irgendwie konkreter als „Leben eines Dichters“. Vielleicht weil „Leben“ wie „Dichter“ als Worte in ihrer ausdrücklichen Unbestimmtheit beinahe synonym sind. Wohingegen „Tod“ – sogar als Wort – etwa ebenso fest umrissen ist wie das Werk des Dichters, d.h. wie ein Gedicht, in dem die letzte Zeile das Wesentliche ist. Woraus auch immer ein Kunstwerk besteht, es läuft auf das Finale zu, das seine Form mitbestimmt und das Wiederbelebung nicht zuläßt. Auf die letzte Zeile eines Gedichts folgt nichts als Literaturkritik. Wenn wir also einen Dichter lesen, haben wir teil an seinem Tod oder dem seines Werks. Im Falle Mandelstams haben wir teil an beidem.
Ein Kunstwerk ist immer darauf angelegt, seinen Schöpfer zu überdauern. Den Philosophen paraphrasierend, könnte man sagen, daß auch Gedichteschreiben eine Übung im Sterben ist. Was einen aber schreiben läßt, ist, von rein sprachlicher Notwendigkeit einmal abgesehen, nicht so sehr die Sorge um das vergängliche eigene Fleisch als das Bedürfnis, Nachsicht walten zu lassen gegenüber gewissen Dingen der eigenen Welt, der persönlichen Zivilisation, des nichtsemantischen eigenen Kontinuums. Kunst ist nicht eine bessere, sondern eine andere Existenz; sie ist nicht der Versuch, der Realität zu entfliehen, sondern das Gegenteil: ein Versuch, sie zu beseelen. Sie ist der Geist, der einen Leib sucht und Worte findet. Im Falle Mandelstams waren es zufällig die Worte des Russischen.
Für den Geist gibt es möglicherweise keine bessere Unterkunft: Russisch ist eine stark flektierte Sprache. Was bedeutet, daß man das Substantiv leicht ganz hinten am Satzende sitzen finden kann und daß die Endung dieses Substantivs (oder Adjektivs oder Verbs) nach Genus, Numerus und Kasus variiert. All dies verleiht jedem sprachlichen Ausdruck die stereoskopische Qualität der Wahrnehmung selbst, ja, schärft und fördert letztere (bisweilen). Das anschaulichste Beispiel hierfür ist Mandelstams Umgang mit einem der Hauptthemen seiner Dichtung, dem Thema der Zeit.
Nichts ist absonderlicher, als ein analytisches Verfahren auf ein synthetisches Phänomen anzuwenden; zum Beispiel, in Englisch über einen russischen Dichter zu schreiben. Allerdings wäre es bei Mandelstam auch nicht viel leichter, sich eines derartigen Verfahrens in Russisch zu bedienen. Dichtung ist höchste Leistung der gesamten Sprache, und sie zu analysieren heißt nur, den Brennpunkt diffus werden zu lassen. Das gilt in noch stärkerem Maße für Mandelstam, der im Kontext der russischen Dichtung eine extrem einsame Figur ist, und gerade die Dichte seines Brennpunkts ist der Grund seiner Isolation. Literaturkritik ist nur einfühlsam, wenn der Kritiker sich in psychologischer und sprachlicher Hinsicht auf derselben Ebene bewegt. So wie es derzeit aussieht, ist Mandelstam in beiden Sprachen zu einer Kritik verurteilt, die eindeutig „von unterhalb“ kommt.
Die Unterlegenheit der Analysen zeigt sich schon am Begriff des Themas, sei es nun ein Zeit-, Liebes- oder Todesthema. Dichtung ist zuallererst eine Kunst der Hinweise, Anspielungen, der sprachlichen und bildlichen Parallelen. Zwischen dem Homo sapiens und dem Homo scribens klafft ein riesiger Abgrund, weil für den Schreibenden die Vorstellung von einem Thema sich erst aus der Kombination der oben erwähnten Techniken und Verfahren ergibt, wenn überhaupt. Schreiben ist ein buchstäblich existentieller Vorgang; es benutzt das Denken für seine eigenen Zwecke, es verbraucht Begriffe, Themen und dergleichen, nicht umgekehrt. Die Sprache ist es, die ein Gedicht diktiert, die Stimme der Sprache nämlich, der man die Namen Muse oder Inspiration angehängt hat. Es ist daher besser, nicht vom Thema der Zeit in Mandelstams Lyrik zu sprechen, sondern von der Gegenwärtigkeit der Zeit selbst, als Größe wie als Thema, und sei es nur, weil die Zeit ihren Sitz ohnehin im Gedicht hat, und zwar als Zäsur.
Dessen sind wir uns voll bewußt, und deshalb sagt Mandelstam, anders als Goethe, nie zum Augenblicke: „Verweile doch! Du bist so schön!“, sondern versucht nur, die Zäsur auszudehnen. Mehr noch, er tut dies nicht wegen der speziellen Schönheit oder Unschönheit dieses Augenblicks, sein Anliegen (und folglich auch sein technisches Vorgehen) ist ein ganz anderes. Was der junge Mandelstam in seinen ersten beiden Gedichtsammlungen zu vermitteln suchte, war das Gefühl einer überreich gesättigten Existenz, und als Medium wählte er die Abbildung der überfrachteten Zeit. Unter Einsatz aller phonetischen und allusorischen Kraft der Worte drücken seine Verse jener Periode die Empfindung des sich verlangsamenden, zähflüssigen Vergehens der Zeit aus. Daß Mandelstam das, was er versucht, gelingt (wie immer), hat zur Folge, daß der Leser die Worte und sogar die Buchstaben – vor allem die Vokale – als schier greifbare Gefäße der Zeit wahrnimmt.
Andererseits geht es ihm keineswegs um jene Suche nach vergangenen Tagen mit ihrem zwanghaften Umhertasten, um die Vergangenheit wieder einzufangen und neu zu überdenken. Mandelstam blickt in einem Gedicht selten zurück; er ist ganz und gar in der Gegenwart – in diesem Augenblick, den er andauern, sich über seine natürliche Begrenzung hinaus hinziehen läßt. Für die Vergangenheit, ob die persönliche oder historische, ist schon durch die Wortetymologie gesorgt. Doch so unproustisch seine Behandlung der Zeit auch ist, die Dichte seiner Verse ist der Prosa des großen Franzosen nicht unverwandt. In gewisser Weise ist es die gleiche totale Kriegführung, der gleiche Frontalangriff, in diesem Fall allerdings ein Angriff auf die Gegenwart und mit Mitteln anderer Art. Es ist beispielsweise außerordentlich wichtig, sich klarzumachen, daß fast jedesmal, wenn Mandelstam dieses Zeitthema aufnimmt, er einen stark zäsurierten Vers verwendet, der in Hebungen oder Inhalt den Hexameter anklingen läßt. Gewöhnlich ist es ein jambischer Pentameter, der in einen Alexandriner entgleitet, und es findet sich immer eine Paraphrase oder ein direkter Bezug auf eines der Homerischen Epen. In der Regel spielt dieses Gedicht irgendwo an der See, im Spätsommer, wodurch direkt oder indirekt der griechisch-antike Hintergrund heraufbeschworen wird. Dies hat teilweise damit zu tun, daß die russische Lyrik traditionell die Krim und das Schwarze Meer als die einzig greifbare Annäherung an die griechische Welt betrachtet, zu der diese Gegenden – Tauris und Pontos euxeinos – als Randgebiete gehörten. Man denke zum Beispiel an Gedichte wie „Aus der Flasche ein Strom – wie der goldgelbe Honig da floß…“, „Schlaflosigkeit. Homer. Gespannte Segel…“ und „Goldamseln drin im Wald, die Länge der Vokale…“, in dem folgende Zeilen stehen:

In der Natur jedoch zum jährlich einen Male
Fließt lang die Dehnung hin, als wärs im Vers Homers.
Und gleich einer Zäsur klafft heute dieser Tag…

Die Auswirkungen dieses griechischen Echos sind mannigfach. Man könnte es als rein technisches Problem abtun, aber der entscheidende Punkt ist, daß der Alexandriner der nächste Verwandte des Hexameters ist, und sei es nur hinsichtlich der Verwendung einer Zäsur. Da wir schon von Verwandtschaft sprechen: Die Mutter aller Musen war Mnemosyne, die Muse der Erinnerung, und ein Gedicht (sei es ein kurzes oder ein Epos) muß auswendig gelernt werden, um zu überleben. Der Hexameter war eine hervorragende mnemotechnische Erfindung, und sei es auch nur, weil er so schwerfällig ist und so verschieden von der Umgangssprache jedweder Zuhörerschaft, einschließlich der Homers. Wenn Mandelstam also auf dieses Gedächtnisvehikel innerhalb eines anderen – d.h. in seinem Alexandriner – Bezug nimmt, stellt er zugleich mit der fast physischen Wahrnehmung des Zeittunnels den Effekt eines Spiels im Spiel her, einer Zäsur in einer Zäsur, einer Pause in einer Pause. Was letztlich eine Form der Zeit ist, wenn nicht ihr Sinn: wenn die Zeit dadurch nicht angehalten wird, wird sie doch wenigstens im Brennpunkt konzentriert.
Nicht daß Mandelstam dies bewußt, mit Absicht täte. Oder daß dies sein Hauptzweck wäre, während er ein Gedicht schreibt. Er tut es beiläufig, in Nebensätzen, während er schreibt (oft über etwas anderes), nie indem er auf diesen Punkt hinschreibt. Themenbezogene Lyrik ist nicht seine Sache. Ebensowenig die der russischen Lyrik insgesamt. Ihre Grundtechnik ist die des Um-den-heißen-Brei-Herumschleichens, der Annäherung an das Thema von verschiedenen Blickwinkeln aus. Die klar umrissene Darstellung des Gegenstandes, die so typisch für die englischsprachige Lyrik ist, wird normalerweise in dieser oder jener Zeile abgehakt, und dann geht der Dichter zu etwas anderem über; sie füllt selten ein ganzes Gedicht. Themen und Begriffe sind – ungeachtet ihres Gewichts – nichts als Material, wie Wörter, und sie sind immer da. Die Sprache hat Namen für sie alle, und der Dichter ist der Meister der Sprache.
Griechenland war immer da, ebenso Rom und ebenso das biblische Judäa und das Christentum. Diese Ecksteine unserer Zivilisation werden in Mandelstams Lyrik etwa so behandelt, wie die Zeit selbst sie behandeln würde: als Einheit – und in ihrer Einheit. Mandelstam zu einem Adepten einer dieser Lehren (und vor allem der letztgenannten) zu erklären, hieße nicht nur, ihn zu verkleinern, sondern auch, seine historische Perspektive zu verzerren oder vielmehr seine historische Landschaft. Thematisch wiederholt Mandelstams Lyrik die Entwicklung unserer Zivilisation: sie fließt nach Norden, doch vermischen sich die parallelen Strömungen in diesem Strom gleich von Anfang an miteinander. Gegen 1920 überrunden die römischen Themen allmählich die griechischen und biblischen – in erster Linie deshalb, weil Mandelstam sich zunehmend mit der archetypischen Kategorie des „Dichters gegen ein Imperium“ identifiziert. Doch was diese Haltung entstehen ließ, war – von den rein politischen Aspekten der damaligen Situation in Rußland abgesehen – Mandelstams eigene Einschätzung der Beziehung seines Werks zum Rest der zeitgenössischen Literatur wie auch zu dem moralischen Klima und den intellektuellen Problemen der restlichen Nation. Es war der moralische und geistige Niedergang letzterer, der den imperialen Umkreis suggerierte. Und doch war es nur ein thematisches Überrunden, nie ein Übermächtigwerden. Sogar in „Tristia“, dem römischsten seiner Gedichte, in dem Mandelstam deutlich den exilierten Ovid zitiert, ist ein gewisser Hesiodscher Patriarchenton zu spüren, der darauf hindeutet, daß die ganze Angelegenheit durch ein irgendwie griechisches Prisma gesehen wurde.

TRISTIA

Ich lernte Abschied: eine Wissenschaft,
In Klagen – nachts – von unbedecktem Haar.
Gekau der Ochsen. Warten. Und kein Schlaf.
Den letzten Gang der Wache nehm ich wahr.
Und folg dem einen Kult: der Nacht der Hähne,
Als ich die Lasten hob, den Schmerz – für lang,
Ein Aug ins Ferne sah durch seine Träne,
Und Schluchzen mischte sich zum Musensang.

Wer weiß, hört er das Wort da: Abschiednehmen,
Welch eine Trennung es uns bringt –
Was er verheißen mag, der Schrei der Hähne
Auf der Akropolis, wenn alles brennt?
Und da es tagt, das irgendneue Leben,
Während er immer kaut, der Ochse, träg –
Warum der Hahn, der Künder neuen Lebens,
Auf seinem Wall die Flügel schlägt?

Ich lieb das Weiterspinnen all der Fäden:
Ein Schiffchen fliegt, und eine Spindel surrt…
Da schau: zu dir, wie Flaum der Schwäne,
Fliegt Delia, da kommt sie, unbeschuht!
O unsres Lebens Grund, der karge, sehre –
Wie arm der Freude Sprache, wie begrenzt!
Und alles war schon und wird wiederkehren:
Dein Glück – nur der Moment, da du’s erkennst.

So sei es denn: ein Wachsfigürchen, hell,
Das sich auf einer irdnen Schale zeigt
(Die Form – ein Eichhorn, sein gestrafftes Fell) –
Ein Mädchen, schauend, übers Wachs geneigt.
Nicht uns steht zu, den Erebos zu ahnen,
Den Männern Kupfer, Wachs den Frauen.
Uns fällt das Los, die Schlacht zu schlagen,
Doch sie: sie sterben, in die Zukunft schauend.
(Übertragen von Ralph Dutli)

Später, in den dreißiger Jahren, während der sogenannten Woronescher Zeit, als alle diese Themen – einschließlich Rom und Christentum – dem „Thema“ nackten existentiellen Grauens wichen und einer erschreckenden geistig-seelischen Akzeleration, wird das Muster wechselseitiger Beeinflussung und Abhängigkeit jener Bereiche noch offenkundiger und dichter.
Nicht daß Mandelstam ein „zivilisierter“ Dichter gewesen wäre; vielmehr war er ein Dichter der Zivilisation und für sie. Als er einmal gebeten wurde, den Akmeismus – die literarische Bewegung, der er angehörte – zu definieren, antwortete er: „Sehnsucht nach Weltkultur“. Dieser Begriff einer Weltkultur ist entschieden russisch. Auf Grund seiner Lage (weder Osten noch Westen) und seiner unvollkommenen Geschichte hat Rußland immer unter einem kulturellen Minderwertigkeitsgefühl gelitten, zumindest gegenüber dem Westen. Aus dieser Unterlegenheit erwuchs die Idealvorstellung von einer kulturellen Einheit „da draußen“ und in der Folge eine intellektuelle Gier nach allem, was aus dieser Richtung kam. In gewisser Weise ist dies eine russische Version des Hellenismus, und Mandelstams Bemerkung über Puschkins „hellenistische Blässe“ kam nicht von ungefähr.
Das Mediastinum dieses russischen Hellenismus war St. Petersburg. Vielleicht wäre das beste Emblem für Mandelstams Einstellung zu dieser sogenannten Weltkultur der streng klassizistische Portikus der Petersburger Admiralität, den Reliefs trompetender Engel schmücken und von dem die nadelgleiche goldene Spitze aufragt, die die Silhouette eines Klippers trägt. Um seine Dichtung besser zu verstehen, sollte sich der nicht russischsprechende Leser vielleicht klarmachen, daß Mandelstam ein Jude war und in der Hauptstadt des zaristischen Rußland lebte, dessen herrschende Religion der russisch-orthodoxe Glaube, dessen politische Struktur zuinnerst byzantinisch und dessen Alphabet die Erfindung zweier griechischer Mönche war. Historisch betrachtet, war diese organische Mischung am stärksten in St. Petersburg zu spüren, das für Mandelstam die eschatologische Nische, ihm „zum Weinen vertraut“, für den Rest seines nicht allzu langen Lebens wurde.
Lang genug jedoch, um diesen Ort unsterblich zu machen, und wenn man seine Lyrik gelegentlich „petersburgisch“ genannt hat, so darf man diese Bezeichnung aus mehr als einem Grund als ebenso treffend wie ehrenvoll ansehen. Treffend deshalb, weil Petersburg nicht nur die Regierungshauptstadt des Zarenreiches war, sondern auch sein geistiges Zentrum, und zu Beginn des Jahrhunderts verschmolzen dort die Elemente jenes Stroms auf die gleiche Weise wie in Mandelstams Gedichten. Ehrenvoll deshalb, weil der Dichter wie die Stadt durch die Konfrontation an Bedeutung gewannen. War der Westen Athen, so war Petersburg im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts Alexandria. Dieses „Fenster nach Europa“, wie Petersburg von einigen freundlichen Seelen der Aufklärung genannt wurde, diese „erfundenste Stadt“, wie sie später Dostojewskij definierte, die auf dem Breitengrad von Vancouver liegt, in der Mündung eines Flusses, der so breit ist wie der Hudson zwischen Manhattan und New Jersey, hatte und hat jene Art von Schönheit, die der Wahnsinn hervorbringen kann – oder die versucht, diesen Wahnsinn zu verbergen. Klassizismus hatte nie so viel Raum, und die italienischen Architekten, die von einer ganzen Reihe russischer Monarchen ins Land geholt wurden, begriffen das nur zu gut. Die unendlichen gigantischen vertikalen Flöße der weißen Säulen an den Fassaden der Uferpaläste, die dem Zaren, seiner Familie, dem Adel, den Botschaften und den nouveaux riches gehören, werden von dem spiegelnden Fluß zur Ostsee hinabgetragen. Die größte Prachtstraße des Reiches – den Newskij-Prospekt – säumen Kirchen aller Glaubensrichtungen. Die endlosen breiten Straßen sind voller Einspänner, neumodischer Automobile, müßiger, wohlgekleideter Menschen, erstklassiger Geschäfte, Konditoreien usw. Unermeßlich weite Plätze mit berittenen Statuen früherer Herrscher und mit höheren Triumphsäulen als die Nelsons. Ungezählte Verlage, Journale, Zeitungen, politische Parteien (mehr als im heutigen Amerika), Theater, Restaurants, Zigeuner. Das Ganze umgeben von dem Kranz rauchender Fabrikschlote – einem backsteinernen Birnamswald – und bedeckt von dem weit ausgebreiteten feuchten, grauen Laken des Himmels der nördlichen Hemisphäre. Ein Krieg ist verloren, ein anderer – ein Weltkrieg – droht, und man ist ein kleiner jüdischer Junge mit einem Herzen voll russischer jambischer Pentameter.
In dieser riesenmaßstäblichen Verkörperung vollkommener Ordnung ist der jambische Takt so natürlich wie Kopfsteinpflaster. Petersburg ist eine Wiege russischer Lyrik und, mehr noch, ihrer Prosodie. Die Idee einer edlen Struktur ohne Ansehen der Qualität des Inhalts (manchmal genau gegen seine Qualität, was einen ungeheuren Eindruck von Widersprüchlichkeit schafft – Hinweis auf die Wertung des beschriebenen Phänomens, nicht durch den Autor, sondern durch den Vers selbst) ist rein ortsgebunden. Die ganze Sache fing im vorigen Jahrhundert an, und Mandelstams Gebrauch strenger Metren in seinem ersten Buch Der Stein gemahnt deutlich an Puschkin und dessen Plejade. Und doch ist dies wiederum nicht das Ergebnis einer bewußten Entscheidung, noch ist es ein Zeichen dafür, daß Mandelstams Stil durch frühere oder zeitgenössische Vorgänge in der russischen Lyrik vorherbestimmt gewesen wäre.
Das Vorhandensein eines Echos ist das Hauptmerkmal jeder guten Akustik, und Mandelstam schuf lediglich eine große Kuppel für seine Vorläufer. Die ausgeprägtesten Stimmen darunter gehören Derschawin, Baratynskij und Batjuschkow, Jedoch handelte er weitgehend unabhängig, ungeachtet existierender Idiome – besonders des zeitgenössischen. Er hatte einfach zuviel zu sagen, um sich um eine etwaige stilistische Einzigartigkeit Gedanken zu machen. Doch war es gerade diese Überfrachtung seines ansonsten regelmäßigen Verses, das ihn einzigartig machte.
Rein äußerlich sahen seine Gedichte nicht so sehr viel anders aus als die der Symbolisten, die die literarische Szene beherrschten: er verwendete einigermaßen regelmäßige Reime, eine Standardstrophenform, und die Länge seiner Gedichte war die übliche – sechzehn bis vierundzwanzig Zeilen. Aber mit diesem bescheidenen Transportmittel trug er seine Leser viel weiter fort als irgendeiner jener anheimelnden-weil-nebulösen Metaphysiker, die sich als russische Symbolisten bezeichneten. Der Symbolismus war sicher die letzte große Bewegung (und das nicht nur in Rußland); doch Lyrik ist eine extrem individualistische Kunst, sie hat etwas gegen Ismen. Die Lyrikproduktion des Symbolismus war so umfangreich und seraphisch, wie es die Mitgliedschaft und die Postulate dieser Bewegung waren. Ein Höhenflug so bar jeder inneren Notwendigkeit, daß auch Universitätsabsolventen, Offiziersanwärter und Büroangestellte sich versucht fühlten und das Genre bereits an der Jahrhundertwende als inflationäres Wortgeklingel kompromittiert war, etwa so wie es heute bei dem freien Vers in Amerika der Fall ist. Zwar sank die Wertschätzung, als dann unter den Namen Futurismus, Konstruktivismus, Imaginismus usw. die Gegenbewegung einsetzte. Doch waren dies eben nur Ismen, die gegen Ismen kämpften, Schreibweisen gegen Schreibweisen. Nur zwei Dichter, Mandelstam und Marina Zwetajewa, brachten inhaltlich etwas qualitativ Neues, und ihr Schicksal spiegelte in furchtbarer Weise das Ausmaß ihrer geistigen Autonomie wider.
In der Dichtung wie anderswo auch wird der Streit um geistige Überlegenheit stets auf physischer Ebene ausgetragen. Man muß einfach annehmen, daß es genau der (von antisemitischen Obertönen nicht ganz freie) Bruch mit den Symbolisten war, der die Keime zu Mandelstams Zukunft in sich trug. Ich beziehe mich nicht so sehr auf Georgij Iwanows Verhöhnung eines Mandelstam-Gedichts im Jahre 1917, deren Nachhall die offizielle Ächtung in den dreißiger Jahren war, als auf Mandelstams zunehmende Absonderung von jeglicher Form von Massenproduktion, speziell sprachlicher und seelisch-geistiger Art. Die Wirkung war, daß eine Stimme, je klarer sie wird, desto dissonanter klingt. Das mag kein Chor, und die ästhetische Isolierung erreicht damit physische Ausmaße. Wenn ein Mensch sich eine eigene Welt schafft, wird er zu einem Fremdkörper, gegen den alle Gesetze gerichtet sind: Schwerkraft, Druck, Abstoßung, Vernichtung.
Mandelstams Welt war groß genug, sie alle herauszufordern. Hätte Rußland einen anderen historischen Weg gewählt – ich glaube nicht, daß sein Schicksal so sehr viel anders gewesen wäre. Seine Welt war zu autonom, um mit einer anderen zu verschmelzen. Außerdem ging Rußland nun einmal seinen Weg, und für Mandelstam, dessen dichterische Entwicklung auch so schon schnell verlief, konnte jene Richtung nur eines bringen – eine beängstigende Akzeleration. Diese beeinflußte zuallererst den Charakter seines Verses. Dessen herrlicher meditativer zäsurierter Fluß verwandelte sich in ein rasches, ruckartiges Getrappel. Seine Dichtung wurde die einer hohen Geschwindigkeit und bloßgelegter Nerven, manchmal kryptisch, mit leicht verkürzter Syntax das Selbstverständliche überspringend. Und doch wurde sie auf diese Weise mehr zu einem Gesang denn je zuvor, nicht Barden-, sondern Vogelsang, mit unvorhersehbaren schrillen Doppelschlägen und Intervallen, etwas wie das Tremolo eines Stieglitzes.
Und wie dieser Vogel wurde er Zielscheibe für alle möglichen Steine, die sein Mutterland reichlich nach ihm warf. Nicht daß Mandelstam gegen die politischen Veränderungen war, die sich in Rußland vollzogen. Er besaß genügend Sinn für Maß und genügend Ironie, um die epische Qualität des ganzen Unternehmens anzuerkennen. Außerdem war er ein heidnisch lebensfroher Mensch, und andererseits waren schließlich die Wimmertöne völlig von den Symbolisten mit Beschlag belegt. Auch war ja seit Beginn des Jahrhunderts die Luft voll loser Reden über eine Neuaufteilung der Welt, so daß fast jeder, als die Revolution kam, das Geschehen für das Ersehnte hielt. Mandelstams Reaktion war vielleicht die einzig nüchterne auf die Ereignisse, die die Welt erschütterten und so viele nachdenkliche Köpfe schwindeln machten:

Nun los, versuchen wir’s: die große, linkische,
Die Wende! Knirsch nur, Ruderblatt…
(Aus „Die Dämmerung der Freiheit“)

Aber die Steine flogen schon, und der Vogel auch. Ihre jeweiligen Flugbahnen sind in den Erinnerungen der Witwe Mandelstams ausführlich verzeichnet, und das erforderte zwei Bände. Diese Bücher sind nicht nur ein Führer durch seine Gedichte, obwohl sie das auch sind. Doch drückt jeder Dichter, egal wieviel er schreibt, physisch wie statistisch gesehen, in seinen Versen höchstens ein Zehntel seines Lebens aus. Der Rest ist normalerweise in Dunkelheit gehüllt; falls irgendein zeitgenössisches Zeugnis überdauert, enthält es gähnende Lücken, von den unterschiedlichen Blickwinkeln, die das Objekt verzerren, gar nicht zu reden.
Die Erinnerungen der Witwe Ossip Mandelstams befassen sich genau damit, mit jenen neun Zehnteln. Sie bringen Licht in die Dunkelheit, füllen die Lücken, merzen die Verzerrungen aus. Das Endergebnis kommt einer Wiederbelebung nahe, nur daß alles, was den Mann tötete, ihn überlebte: was weiterexistiert und an Popularität gewinnt, ebenfalls auf diesen Seiten wiederersteht, wieder in Kraft gesetzt wird. Wegen der tödlichen Macht des Materials geht Mandelstams Witwe bei der Wiedererschaffung dieser Elemente so umsichtig vor, als handle es sich um das Entschärfen einer Bombe. Allein auf Grund dieser Präzision und auf Grund der Tatsache, daß seine Verse, sein Tun im Leben und sein Sterben jemanden zu großer Prosa beflügelten, müßte man schlagartig begreifen – auch ohne eine einzige Zeile von Mandelstam zu kennen –, daß es in der Tat ein großer Dichter ist, dessen auf diesen Seiten gedacht wird: wegen der gegen ihn gerichteten Masse und Energie des Bösen.
Dennoch bleibt festzuhalten, daß Mandelstams Einstellung zu jener historisch neuen Situation keineswegs offene Feindschaft war. Im großen und ganzen sah er sie als eine eben etwas härtere Form der existentiellen Wirklichkeit an, als qualitativ neue Herausforderung. Seit den Romantikern haben wir diese Vorstellung von dem Dichter, der seinem Tyrannen den Fehdehandschuh hinwirft. Nun, falls es eine solche Zeit je gegeben hat – heute wäre eine derartige Handlung völlig unsinnig: Tyrannen stellen sich für solche Tête-à-têtes nicht mehr zur Verfügung. Die Entfernung zwischen uns und unseren Herren kann nur von letzteren verkürzt werden, was selten geschieht. Ein Dichter gerät wegen seiner sprachlichen und damit auch geistig-seelischen Überlegenheit in Schwierigkeiten, nicht wegen seiner politischen Anschauungen. Ein Lied ist eine Form sprachlichen Ungehorsams, und sein Klang zieht erheblich mehr in Zweifel als ein konkretes politisches System: es stellt die gesamte existentielle Ordnung in Frage. Und die Zahl seiner Gegner wächst proportional an.
Es wäre eine Vereinfachung zu meinen, daß es das Gedicht gegen Stalin war, das Mandelstams Verhängnis heraufbeschwor. Dieses Gedicht war trotz all seiner zerstörerischen Kraft nur ein Nebenprodukt in der thematischen Behandlung dieser gar nicht so neuen Ära durch Mandelstam. Im übrigen gibt es eine sehr viel explosivere Zeile in dem Gedicht „Ariosto“, das einige Monate früher in demselben Jahr (1933) entstanden ist:

Die Macht ist widerlich wie Baderhände…

Und davon gab es noch viele mehr. Trotzdem glaube ich, daß, für sich genommen, diese verbalen Ohrfeigen nicht unbedingt die Anwendung des Vernichtungsgebots erfordert hätten. Der eiserne Besen, der in Rußland umging, hätte ihn aussparen können, wäre er nur ein politischer Dichter gewesen oder ein Lyriker, der sich hie und da in die Politik verirrt. Er war schließlich gewarnt, und er hätte daraus lernen können. Und doch tat er das nicht, weil sich sein Selbsterhaltungstrieb längst seiner Ästhetik unterworfen hatte. Es war die ungeheure lyrische Intensität der Dichtung Mandelstams, die ihn von seinen Zeitgenossen absonderte und ihn zu einer Waise seiner Epoche machte, „heimatlos im Allunionsmaßstab“. Denn Lyrik ist Sprachethik, und die Überlegenheit dieses Lyrischen gegenüber allem, was im menschlichen Zusammenspiel welcher Konfession auch immer erreicht werden könnte, ist das, was ein Kunstwerk ausmacht und es überleben läßt. Eben deshalb hätte der eiserne Besen, dessen Ziel die geistige Kastrierung der gesamten Bevölkerung war, ihn nicht aussparen können.
Es war ein Fall reiner Polarisierung. Gesang ist letztlich umstrukturierte Zeit, der gegenüber stummer Raum von Natur aus feindselig ist. Ersteren verkörperte Mandelstam; letzteren hatte der Staat sich zur Waffe gewählt. Von erschreckender Logik ist der Ort des Konzentrationslagers, in dem Ossip Mandelstam 1938 starb: nahe Wladiwostok, in den tiefsten Eingeweiden staatseigenen Raumes. Innerhalb Rußlands von Petersburg noch weiter weg zu sein ist kaum möglich. Und in der Dichtung – im Sinne des Lyrischen – Höheres zu erreichen als hier ist auch kaum möglich (es ist ein Gedicht zur Erinnerung an eine Frau, Olga Waksel, die angeblich in Schweden starb, und entstand während Mandelstams Zeit in Woronesch, wohin er von seinem vorherigen Verbannungsort nahe dem Ural nach einem Nervenzusammenbruch verbracht worden war). Nur vier Zeilen:

… Und starre Schwalben gerundeter Brauen (a)
flogen (b) vom Grab zu mir her,
mir zu sagen, sie hätten genug geruht in ihrem (a)
kalten Stockholmer Bett (b).

Stellen Sie sich einen vierfüßigen Amphibrachus vor mit alternierendem Reim (abab).
Diese Strophe ist eine Apotheose umstrukturierter Zeit. Zum einen ist Sprache selbst ein Produkt der Vergangenheit. Die Rückkehr der starren Schwalben impliziert das periodisch Wiederkehrende ihrer Gegenwart wie auch des Vergleichs selber, sei es als innerer Gedanke oder als gesprochener Satz. Auch deutet „flogen… zu mir her“ auf Frühling, Wiederkehr der Jahreszeiten. „Mir zu sagen, sie hätten genug geruht“ suggeriert wieder Vergangenheit: unfertige, weil trostlose Vergangenheit. Und dann schließt die letzte Zeile den Kreis, dadurch daß das Adjektiv „Stockholmer“ die verborgene Anspielung auf Hans Christian Andersens Märchen preisgibt, das von der verwundeten Schwalbe erzählt, die im Maulwurfsbau überwintert, dann wieder zu Kräften kommt und heimfliegt. Jedes Schulkind in Rußland kennt diese Geschichte. Das bewußte Sich-Erinnern erweist sich als so stark in der unterbewußten Erinnerung verwurzelt und löst ein so stechendes Schmerzgefühl aus, daß es ist, als hörten wir nicht einen leidenden Menschen, sondern unmittelbar die Stimme seiner verwundeten Psyche. Eine Stimme dieser Art kollidiert sicher mit allem, sogar mit dem Leben ihres Mediums, d.h. des Dichters. Es ist wie Odysseus, der sich selbst an einen Mast bindet gegen das Rufen seiner Seele; dies – und nicht nur die Tatsache, daß Mandelstam verheiratet ist – ist der Grund, warum er hier so elliptisch ist.
Dreißig Jahre arbeitete er mit an der russischen Lyrik, und was er tat, wird so lange bestehen, wie die russische Sprache existiert. Es wird sicher das gegenwärtige und jedes spätere Regime in jenem Land überdauern – durch seinen Lyrismus wie durch seine Tiefe. Offen gestanden kenne ich in der Dichtung der Welt nichts, was einer Offenbarung eher gleichkäme als diese vier Zeilen aus seinen „Versen vom unbekannten Soldaten“, die er gerade ein Jahr vor seinem Tod schrieb:

Und Arabiens Krumen und Krollen,
Die zermahlte, die Schnellkraft des Lichts –
Dieser Strahl und gebogene Sohle:
Meine Netzhaut empfängt ihr Gewicht…

Kaum noch vorhandene Grammatik, was aber nichts mit modernistischer Schreibweise zu tun hat, sondern die Folge einer unvorstellbaren psychischen Akzeleration ist, wie sie zu anderen Zeiten für die Ausbrüche Hiobs und Jeremias verantwortlich war. Dieses Zermahlen von Schnelligkeiten („Schnellkraft“) ist gleichermaßen ein Selbstporträt wie eine unglaubliche astrophysikalische Einsicht. Was er hinter seinem Rücken „sich hastig nähern“ hörte, war nicht ein „geflügelter Wagen“, sondern sein „Wolfshund-Jahrhundert“, und er rannte, solange Raum war. Als der Raum endete, erreichte er die Zeit.
Was besagen soll: uns. Dieses Pronomen steht nicht nur für seine Russisch sprechenden Leser, sondern auch für die anderssprachigen. Vielleicht mehr als sonst jemand in diesem Jahrhundert war er ein Dichter der Zivilisation: er trug bei zu dem, was ihn inspiriert hatte. Es läßt sich sogar behaupten, daß er Teil von ihr geworden war, lange bevor ihn der Tod traf. Natürlich war er Russe, aber doch nicht mehr als Giotto Italiener war. Zivilisation ist die Gesamtsumme unterschiedlicher Kulturen, die von einem gemeinsamen geistigen Nenner beseelt sind, und ihr Hauptträger – metaphorisch wie wörtlich gesprochen – ist die Übersetzung. Die Wanderung eines griechischen Portikus in die geographischen Breiten der Tundra ist eine Übersetzung.
Sein Leben wie sein Tod ergaben sich aus dieser Zivilisation. Bei einem Dichter ist die ethische Haltung, im Grunde sogar das Temperament durch die eigene Ästhetik vorbestimmt und geformt. Das erklärt auch, warum die Dichter mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit unweigerlich auf Kriegsfuß stehen, und ihre Todesrate verrät die Entfernung, die jene Wirklichkeit zwischen sich und die Zivilisation legt. Gleiches gilt für die Qualität einer Übersetzung.
Als Kind einer auf den Prinzipien Ordnung und Opfer gründenden Zivilisation verkörperte Mandelstam beides; und es ist nichts als angemessen, von seinen Übersetzern zumindest einen Anschein von Entsprechung zu erwarten. Die Rigorosität, die das Hervorbringen eines Echos erfordert, so ungeheuer hart sie einem auch scheinen mag, ist auch eine Hommage an jene Sehnsucht nach Weltkultur, die das Original antrieb und modellierte. Die formalen Aspekte der Verse Mandelstams sind nicht das Produkt irgendeiner rückständigen Poetik, sondern im Grunde die Säulen des oben erwähnten Portikus. Sie zu entfernen, heißt nicht nur die eigene „Architektur“ auf Bruchbuden und Schrotthaufen zu reduzieren: es heißt zu lügen hinsichtlich all dessen, wofür der Dichter lebte und starb.
Übersetzen ist die Suche nach einer Entsprechung, nicht nach einem Ersatz. Es erfordert stilistische, wenn nicht geistig-seelische Kongenialität. Beispielsweise wäre das stilistische Idiom, das man zur Übertragung Mandelstams ins Englische verwenden könnte, das des späten Yeats (mit dem er auch thematisch vieles gemeinsam hat). Das Problem ist natürlich, daß ein Mensch, der ein derartiges Idiom beherrscht – falls ein solcher existiert –, zweifellos lieber eigene Gedichte schreibt, anstatt sich das Gehirn beim Übersetzen (das außerdem nicht sonderlich gut bezahlt wird) zu zermartern. Doch von technischem Können und sogar auch von geistig-seelischer Kongenialität abgesehen, ist das Entscheidende, was ein Übersetzer haben oder sonst entwickeln sollte, ein gleichgestimmtes Gefühl für die Zivilisation.
Mandelstam ist ein formaler Dichter im höchsten Sinn des Wortes. Für ihn beginnt ein Gedicht mit dem „klingenden Abguß der Form“, wie er es selber nannte. Die fehlende Realisierung dieses Begriffs degradiert selbst die genaueste Wiedergabe seiner Bilder zu anregender Lektüre. „Ganz allein in Rußland arbeite ich nach meiner Stimme, doch ringsum schreibt das dickfellige Pack“, sagt Mandelstam von sich selber in seiner Vierten Prosa. Er sagt dies mit dem Zorn und der Würde eines Dichters, der erkannt hat, daß der Quell seiner Schaffenskraft deren Methode bedingt.
Es wäre vergeblich und unvernünftig, von einem Übersetzer zu verlangen, diesem Beispiel zu folgen: die Stimme, nach der und durch die man arbeitet, ist zwangsläufig einzig in ihrer Art. Doch dem Timbre, der Tonhöhe und dem Tempo, wie es sich im Metrum widerspiegelt, kann man sich annähern. Man sollte dessen eingedenk sein, daß Versmetren an sich schon feste Größenordnungen sind und als solche durch nichts zu ersetzen. Ein Metrum kann nicht gegen ein anderes ausgetauscht werden, schon gar nicht gegen freien Vers. Unterschiede im Metrum sind Unterschiede in Atem und Herzschlag. Unterschiede im Reimschema sind solche der Gehirnfunktionen. Lässiger Umgang mit dem einen wie mit dem anderen ist bestenfalls ein Sakrileg, schlimmstenfalls Verstümmelung oder Mord. In jedem Fall ist es ein geistiges Verbrechen, für das der Täter – vor allem wenn er nicht dingfest gemacht wird – mit beschleunigter intellektueller Degeneration zahlt. Und was die Leser betrifft, so kaufen sie eine Lüge.
Jedoch – die Rigorosität, die das Hervorbringen eines anständigen Echos erfordert, ist zu hoch in ihrem Anspruch. Sie hemmt die Individualität im Übermaß. Die Rufe nach dem Einsatz eines „poetischen Instrumentariums unserer Zeit“ werden nur allzu durchdringend. Und die Übersetzer machen sich hastig auf die Suche nach Ersatz. Dies geschieht in erster Linie deshalb, weil solche Übersetzer gewöhnlich selber Dichter sind und die eigene Individualität ihnen das Teuerste ist. Ihr Individualitätsbegriff schließt die Möglichkeit des Opfers einfach aus, das doch das Grundmerkmal des reifen Individuums ist (und auch die Grunderfordernis jeder – auch einer technischen – Übersetzung). Das Endergebnis ist, daß ein Mandelstamgedicht optisch wie strukturell irgendeinem witzlosen Text von Neruda gleicht oder einer Übersetzung aus dem Urdu oder Kisuaheli. Falls es das übersteht, dann nur auf Grund seiner seltsamen Bilder oder seiner eigenartigen Intensität, die in den Augen des Lesers eine gewisse ethnographische Bedeutung erlangen. „Ich kann nicht einsehen, wieso Mandelstam als großer Dichter gilt“, sagte der verstorbene W.H. Auden. „Die Übersetzungen, die ich gesehen habe, überzeugen mich nicht davon.“
Kaum verwunderlich. In den verfügbaren englischsprachigen Übertragungen begegnet man einem absolut unpersönlichen Produkt, einer Art gemeinsamem Nenner moderner Wortkunst. Wären es einfach schlechte Übersetzungen, wäre es nicht einmal so schlimm. Denn schlechte Übersetzungen stimulieren, gerade weil sie schlecht sind, die Phantasie des Lesers und rufen den Wunsch hervor, aus dem Text auszubrechen oder sich von ihm zu lösen: sie spornen die Intuition an. In den vorliegenden Fällen ist diese Möglichkeit praktisch ausgeschaltet: die Übersetzungen tragen den Stempel eines selbstsicheren, unerträglichen stilistischen Provinzialismus, und die einzige optimistische Anmerkung, die man dazu machen kann, ist, daß Kunst so niederer Qualität ein untrügliches Zeichen einer von Dekadenz äußerst weit entfernten Kultur ist.
Russische Dichtung insgesamt und Mandelstam insbesondere haben es nicht verdient, wie arme Verwandte behandelt zu werden. Die Sprache und ihre Literatur, vor allem ihre Lyrik, sind das Beste, was das Land hat. Dennoch ist es nicht Sorge um Mandelstams oder Rußlands Ansehen, was einen schaudern macht angesichts dessen, was seinen Zeilen auf Englisch angetan worden ist: es ist mehr der Eindruck einer Plünderung der englischsprachigen Kultur, der Herabminderung ihrer eigenen Kriterien, des Ausweichens vor der geistigen Herausforderung. „Okay“, könnte ein junger amerikanischer Lyriker oder Leser von Lyrik nach Durchsicht der vorliegenden Bände resümieren, „in Rußland spielt sich dasselbe ab“. Aber was sich dort abspielt, ist ganz und gar nicht dasselbe. Die russische Lyrik hat – ihre Metaphern einmal außer Acht gelassen – ein Beispiel für moralische Reinheit und Festigkeit gegeben, was sich nicht zuletzt in der Bewahrung der klassischen Formen ohne gleichzeitige Beeinträchtigung der Inhalte spiegelt. Dies zeichnet sie vor ihren westlichen Schwestern aus, wenn man sich auch keineswegs ein Urteil darüber anmaßen mag, wem diese Auszeichnung stärker zugute kommt. Jedoch es bleibt eine Auszeichnung, und in der Übersetzung sollte diese Eigenart, und sei es auch nur aus rein ethnographischen Gründen, gewahrt und nicht über irgendeinen gemeinsamen Leisten geschlagen werden.
Ein Gedicht ist das Ergebnis einer gewissen Notwendigkeit: es ist unvermeidlich, und dasselbe gilt von seiner Form. „Notwendigkeit“, sagt Mandelstams Witwe Nadeschda in ihrem Mozart und Salieri (einem Muß für jeden, den Kreativitätspsychologie interessiert), „ist kein Zwang und kein Fluch des Determinismus, sondern ein Glied zwischen den Zeiten, sofern die von den Vorfahren ererbte Fackel nicht ausgetreten wurde“. Für Notwendigkeiten gibt es natürlich kein Echo; aber die Mißachtung eines Übersetzers für Formen, die durch die Zeit erleuchtet und geheiligt sind, ist nichts anderes, als jene Fackel auszutreten. Das einzig Gute an den Theorien, die zur Rechtfertigung dieser Praxis vorgetragen werden, ist, daß ihre Verfasser für die Äußerung dieser Ansichten in gedruckter Form Honorar erhalten.
Ein Gedicht, als wäre es der Gebrechlichkeit und Unzuverlässigkeit der menschlichen Fähigkeiten und Sinne gewahr, zielt auf das Gedächtnis. Zu diesem Zweck setzt es eine Form ein, die im wesentlichen eine Gedächtnisstütze ist und dem Gehirn ermöglicht, eine Welt zu behalten – und die das Behalten erleichtert, wenn das übrige Gestell zusammenklappt. Das Gedächtnis schwindet meist erst ganz am Ende, als ob es auch noch das Ende selbst aufzeichnen wollte. So könnte ein Gedicht das letzte sein, was über unsere sabbernden Lippen kommt. Niemand erwartet, daß einer, dessen Muttersprache Englisch ist, in diesem Augenblick Verse eines russischen Dichters murmelt. Murmelt er aber etwas von Auden, Yeats oder Frost, wird er näher an Mandelstam sein, als es die derzeitigen Übersetzer sind.
Mit anderen Worten, die englischsprechende Welt muß diese nervöse, hohe, reine Stimme erst noch hören, eine Stimme – durchwirkt mit Liebe, Schrecken, Erinnerung, Kultur, Glaube –, zitternd vielleicht wie ein brennendes Streichholz bei starkem Wind und doch gänzlich unlöschbar. Eine Stimme, die bleibt, auch wenn ihr Besitzer nicht mehr ist. Er war, ist man versucht zu sagen, ein moderner Orpheus: er wurde zur Hölle geschickt und kehrte nicht zurück, während seine Witwe, ein Sechstel der Erdoberfläche durchmessend, von einem Schlupfwinkel zum nächsten floh, den Kochtopf fest an sich gedrückt, in dem zusammengerollt seine Gedichte lagen, die sie sich nachts immer wieder hersagte für den Fall, daß sie von Furien mit einem Durchsuchungsbefehl gefunden würden. Dies sind unsere Metamorphosen, unsere Mythen.

Joseph Brodsky, 1977, aus Joseph Brodsky: Less Than One. Selected Essays, Farrar-Straus-Giroux, 1986
(Aus dem Amerikanischen von Sylvia List)

 

Michael Borrasch: Dem lichten Andenken Ossip Mandelstams

 

Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.

 

Johann-Heinrich-Voß-Preis 2006 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für Ralph Dutli mit der Laudatio von Jochen-Ulrich Peters, der Dankrede von Ralph Dutli und dem Urkundentext.

Preis der LiteraTour Nord 2014 für Ralph Dutli mit der Laudatio von Martin Rector und der Dankrede von Ralph Dutli.

Erich Fried Preis 2018. Dankesrede von Ralph Dutli: Poesie, eine Verwandte des Exils.

Deutscher Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache. Dankesrede von Ralph Dutli: Die unreine Poesie

Fakten und Vermutungen zum Autor
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Antrittsrede + Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Isolde Ohlbaum

 

Ralph Dutli liest aus dem Buch Fatrasien.

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