Ralph Dutli: Ossip Mandelstam „Als riefe man mich bei meinem Namen“

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ralph Dutli: Ossip Mandelstam „Als riefe man mich bei meinem Namen“

Dutli-Ossip Mandelstam „Als riefe man mich bei meinem Namen“

DER DICHTER ALS PROTEUSGESTALT (PAUL VERLAINE)

Paris 1907–1908
Ein Brief an die Mutter, ein Brief an seinen Lehrer Vladimir Gippius und die Erinnerungen eines Zeitgenossen – drei Dokumente über Mandelstams Leben in Paris. Die Dauer seines Aufenthaltes: Mandelstam traf vermutlich im Oktober des Jahres 1907 in Paris ein (am 14. September befand er sich noch in Petersburg, wo er an einem Poesie- und Musikabend am Tenišev-Gymnasium auftrat)1 und verweilte dort bis gegen den Sommer 1908. Im Brief an seinen Lehrer ist von einem Plan die Rede, den Sommer in Italien zu verbringen. Im selben Schreiben findet sich auch eine Adresse, Mandelstams Logis: 12, rue de la Sorbonne. Über die Gestaltung seines Tagwerks gibt der Brief an die Mutter vom 20. April 1908 Auskunft:

Bei mir herrscht nun ein richtiger Frühling, im vollsten Wortsinn… Eine Zeit der Erwartungen und des Gedichtfiebers…
So verbringe ich meine Zeit: morgens spaziere ich im Jardin du Luxembourg. Nach dem Frühstück schaffe ich bei mir Abend, d.h. ich verhänge das Fenster, heize den Kamin und verbringe in dieser Lage zwei bis drei Stunden… Dann ein Andrang von Energie, ein Spaziergang, manchmal das Café, um Briefe zu schreiben, und dann auch schon das Mittagessen… Nach dem Mittagessen gibt’s ein Gespräch in Gesellschaft, das sich manchmal bis zum späten Abend hinzieht – eine liebenswerte Komödie. In letzter Zeit hat sich hier eine kleine internationale Gesellschaft gebildet, aus Leuten, die es leidenschaftlich danach verlangt, die Sprache zu erlernen… und unter dem Vorsitz der unglücklichen Hausherrin geht ein unvorstellbares Bacchanal von Worten, Gesten und Intonationen über die Bühne…
(IV, S. 115)

Mehr über Mandelstams damalige literarische Favoriten und Leidenschaften sagt der Bericht eines Zeitgenossen aus, die Erinnerungen Michail Karpovičs, der Mandelstam am 24. Dezember 1907 in einem Café am Boulevard Saint-Michel begegnet war. Karpovič erinnert sich, daß Mandelstam berauscht die Künftigen Hunnen des russischen Symbolisten Valerij Brjusov (1873–1924) und mit ebenso großer Begeisterung Gedichte von Paul Verlaine (1844–1896) rezitiert habe. Darüber hinaus hätte Mandelstam eine eigene Version des Verlaineschen Kaspar-Hauser-Gedichtes geschaffen.2 Aus dem Jahre 1907 sind keine Gedichte Mandelstams erhalten geblieben. Dies gilt auch für die von Karpovič erwähnte Kaspar-Hauser-Version, in welcher der sechzehnjährige Mandelstam offensichtlich Verlaine imitierte und eines der schönsten Gedichte des französischen Lyrikers in Russisch nachgestaltete. Hier zumindest das Original, das Mandelstam beschäftigt hat:

Gaspard Hauser chante:

Je suis venu, calme orphelin,
Riche de mes seuls yeux tranquilles,
Vers les hommes des grandes villes:
Ils ne m’ont pas trouvé malin. 

A vingt ans un trouble nouveau,
Sous le nom d’amoureuses flammes,
M’a fait trouver belles les femmes:
Elles ne m’ont pas trouvé beau.

Bien que sans patrie et sans roi
Et très brave ne l’étant guère,
J’ai voulu mourir à la guerre:

La mort n’a pas voulu de moi. 

Suis-je né trop tôt ou trop tard?
Qu’est-ce que je fais en ce monde?
O vous tous, ma peine est profonde:
Priez pour le pauvre Gaspard!
3

Und in einer deutschen Übertragung (es ist diejenige Stefan Georges) –

Kaspar Hauser singt:

Sanften blickes ein stiller waise
Zu großer städte getös
Kam ich auf meiner reise –
Niemand nannte mich bös. 

Im zwanzigsten Jahre ein grauen
(Man heißt es auch liebesglut)
Gab mir die Schönheit der frauen –
Sie waren mir nicht gut.

Wenngleich ohne heimat und erben
Wenngleich ich für tapfer nicht golt,
Im kriege wollt ich sterben…
Der tod hat mich nicht gewollt. 

Kam ich zu spät, zu frühe?
Ich weiß nicht wie mirs ergeht.
O ihr all! schwer ist meine mühe –
Sprecht für mich ein Gebet!
4

Auch wenn der junge Mandelstam mit seinem Enthusiasmus den Bereich des Symbolismus nicht verläßt, eröffnet sich ein kontrastreiches Programm: einerseits die entfesselten Träume des russischen Symbolisten Brjusov von einem „asiatischen“, von wildem und frischem Blut durchpulsten Rußland (das Gedicht „Die künftigen Hunnen“ stammt aus dem Jahre 1905), andrerseits die 1873 im Gefängnis geschriebene schlichte Selbstbefragung eines Gescheiterten und Orientierungslosen, aus Paul Verlaines Sammlung Sagesse. Der Brief Mandelstams an seinen Lehrer Vladimir Gippius vom 27. April 1908 bringt nur noch die Bestätigung der Vorliebe für Brjusov und Verlaine – die eine wird zur Kurzlebigkeit verurteilt, die andere der Wandlung fähig sein.

… wird Ihnen meine Begeisterung für die Musik des Lebens verständlich sein, die ich bei einigen französischen Dichtern und, von den russischen, bei Brjusov fand. (…)
Ich lebe hier sehr einsam und beschäftige mich mit nichts anderem als mit Dichtung und Musik.
Außer über Verlaine habe ich über Rodenbach und Sologub etwas geschrieben und habe vor, auch über Hamsun zu schreiben. Dann: ein wenig Prosa und Gedicht
e. (II, S. 484)

Von den französischen Dichtern steht wiederum Paul Verlaine im Vordergrund. Selbst in bezug auf die Musik des Lebens muß Mandelstam an Verlaine gedacht haben, da dessen Name in Rußland unverbrüchlich mit der Forderung nach Musik, nach dichterischer Musikalität verbunden war. Nachdem Brjusov schon in den neunziger Jahren Verlaines Gedicht „Art poétique“ – mit seinem markanten ersten Vers: „De la musique avant toute chose“ (Musik vor allen Dingen) – in Rußland eingeführt und verbreitet hatte, war der französische Dichter berühmt durch seinen Ruf nach musique und nuance. Unter den russischen Symbolisten hatte Verlaines „Art poétique“ neben Baudelaires Sonett „Correspondances“ (Entsprechungen) als symbolistischer Programmtext größte Bedeutung erlangt.5
Auch wenn die Begeisterung für Verlaine alles andere in den Hintergrund gedrängt zu haben scheint, gab es da noch andere zukunftsträchtige Pariser Begegnungen. Die eine fand am Collège de France statt, wo Henri Bergson mit seinen Philosophievorlesungen zu jener Zeit Triumphe feierte, die andere bestand aus Stein: die Kathedrale Notre-Dame hat in Mandelstams Werk unübersehbare Spuren hinterlassen. Im Gedicht „Notre-Dame“ seines ersten Gedichtbandes Der Stein (1913) wird der Russe überaus kühn seine dichterischen Pläne mit jenem Meisterwerk der gotischen Architektur verknüpfen, und auch im Manifest „Der Morgen des Akmeismus“, das um die Idee des Bauens kreist, steht Notre-Dame im Mittelpunkt der Betrachtung. Von der Bedeutung der gotischen Architektur für Mandelstam wird noch zu sprechen sein. Festzuhalten bleibt, daß der Dämon der Architektur, der Mandelstam sein ganzes Leben hindurch begleitet hat (II, S. 150), wie es in der Reise nach Armenien (1933) heißen wird, während der Pariser Zeit zum ersten Mal aufgetaucht war und auf das prägende Notre-Dame-Erlebnis zurückgeht. Im 1913 erschienenen Villon-Essay wirkt der Aufenthalt in der französischen Metropole ebenfalls nach. Es ist unverkennbar, daß der Autor, der da über den Pariser Poeten und Vagabunden Villon schreibt, dessen Stadt aus eigener Anschauung kennt und deren Wirkung selber verspürt hat.

Schon im 15. Jahrhundert war Paris jenes Meer, in dem man schwimmen konnte, ohne je Überdruß zu empfinden, und das restliche Weltall vergaß. (II, S. 304) 

Kaum je vergessen wurde Paul Verlaine: die Begeisterung für diesen Dichter hat den Aufenthalt Mandelstams in Paris überdauert – um in eine Phase schöpferischer Begeisterung einzutreten und, eine nach der andern, die unwahrscheinlichsten Metamorphosen durchzumachen.

 

Russische Romances sans paroles
Von Juni 1909 bis September 1911 hat Mandelstam an den Meister und Denker der Petersburger Symbolisten, Vjačeslav Ivanov (1866–1949), eine Anzahl von Briefen gesandt. Am aufschlußreichsten ist das Schreiben vom 30. Dezember 1909 aus Heidelberg, wo Mandelstam während zweier Semester mittelalterliche französische Sprache und Literatur studierte. Ein einzigartiges Dokument: für den Vorbildcharakter, den Verlaine für Mandelstam angenommen hatte, und für den bereits sich ankündigenden Willen zu einer eigenen, anverwandelnden Lektüre des Verlaineschen Œuvre. Dem Brief war ein Gedicht beigelegt:

„Auf einen dunklen Himmel, wie ein Muster…“ 

Lieber Vjačeslav Ivanovič!
Dieses Gedicht möchte eine „ROMANCE SANS PAROLES“ sein (DANS L’INTERMINABLE ENNUI…). Die „PAROLES“ – d.h. das Intim-Lyrische, Persönliche – habe ich versucht zurückzuhalten, zu zügeln mit dem Zügel des Rhythmus.
Mich beschäftigt, ob dieses Gedicht stark genug aufgezügelt ist.
Unwillkürlich erinnere ich mich Ihrer Bemerkungen über den anti-lyrischen Charakter des Jambus. Vielleicht anti-intimer Charakter? Der Jambus ist der Zügel der „Stimmung“.
In tiefer Verehrung 

O. Mandelstam (II, S. 490)

На темном небе, как узор,
Деревья траурные вышиты.
Зачем же выше, и все выше ты
Возводишь изумленный взор?

Вверху – такая темнота –
Ты скажешь – время опрокинула
И, словно ночь, на день нахлынула
Холмов холодная черта.

Высоких, неживых дерев
Темнеющее рвется кружево:
О месяц, только ты не суживай
Серпа, внезапно почернев.

(II, S. 445)6

Auf einen dunklen Himmel, wie ein Muster,
sind Trauerbäume gestickt.
Warum nur höher, immer höher
erhebst du den erstaunten Blick?

Da oben – welche Dunkelheit –
du würdest sagen – die Zeit hat er umgestürzt,
der kalte Strich der Hügel,
und ist wie die Nacht auf den Tag eingeströmt.

Von hohen, leblosen Bäumen
reißt ein die dunkelnde Klöppelspitze:
O Mond, verenge nur nicht
die Sichel, plötzlich schwarzgeworden.

Was hat Mandelstams Bezugnahme auf das französische Modell zu besagen? Ein Blick auf die Poetik von Paul Verlaines Romances sans paroles wird Erhellung bringen. Der 1872/73 entstandene Gedichtband kennzeichnet ein Ereignis, zeigt eine neue Richtung im Verlaineschen Schaffen.7 Nach der herkömmlich bekenntnishaft-intimen Lyrik der Sammlung La Bonne Chanson (1870) tut Verlaine hier den Schritt in die Moderne, wenngleich nicht in allen Teilen mit gleicher Kraft. Die Romances sans paroles sind geprägt von der aufwühlenden Begegnung mit Rimbaud und dessen Vorstellungen von einer neuen Sprache und Dichtung, mit seiner Forderung, der Dichter habe das „Feuer zu stehlen“, sich durch eine „lange, grenzenlose und durchdachte Zerrüttung aller Sinne“ zum „Seher“ zu machen, um zum „Unbekannten“ vorzustoßen und an der „Fülle des großen Traumes“ teilzuhaben (Brief an Paul Demeny, genannt „La Lettre du Voyant“, 15. Mai 1871).[footnoteRimbaud: Œuvres, S. 346[/footnote]  Rimbaud hatte verkündet, daß „Ich ein anderer“ und die Zeit der subjektiven Dichtung abgelaufen sei und daß die Moderne eine „poésie objective“ erfordern würde. (Brief an Izambard, 13. Mai 1871)8
Verlaine, weit entfernt von derart beunruhigender Radikalität, hat diese Lektion in den „Ariettes oubliées“, dem ersten Teil der Romances, auf eine ihm eigene Weise in seine Poetik integriert und sie mit einem persönlichen Programm verflochten. Diese Gedichte illustrieren die Forderungen seines manifestartigen „Art poétique“ (1874): Musikalität als bestimmendes Element, das Ungerade (in der Silbenzahl des Verses), das Unbestimmte-Unfaßbare, die Zwischentöne, die Nuance, das aller Rhetorik Bare.9 Der Logos, die ordnende, motivierende Kraft der Paroles wird entlassen zugunsten eines in der Chiffre „Romances“ aufgehobenen unmittelbaren Ausdrucks, wie er in der Musik möglich ist. Die Worte singen lassen: Lyrik ist Gesang, ist Lautmusik. Andrerseits sind auch Bezüge zur Malerei vorhanden. Entstehung und Veröffentlichung der Romances sans paroles fallen in die Epoche der großen Umwälzung, die der Impressionismus bedeutete (1870–1874). Verlaine wird zum dichtenden Weggenossen der impressionistischen Maler.10 Die Beschreibung weicht der Suggestion, nuancenreiche Farbflecke verdrängen die klare, logische Begrenzung, welche die Linie darstellt.
Das Gedicht, auf das Mandelstam in seinem Brief anspielt, befindet sich im modernsten Teil der Romances: es ist das achte Stück der „Ariettes oubliées“. Hier entfaltet sich Rimbauds „objektive“ Poesie, macht die Schwermut eines selbstbezogenen Ich einer kosmischen Schwermut Platz. Ein Ich erscheint hier nicht.

Dans l’interminable
Ennui de la plaine
La neige incertaine
Luit comme du sable.

Le ciel est de cuivre
Sans lueur aucune,
On croirait voir vivre
Et mourir la lune.

Comme des nuées
Flottent gris les chênes
Des forêts prochaines
Parmi les buées,

Le ciel est de cuivre
Sans lueur aucune.
On croirait voir vivre
Et mourir la lune.

Corneille poussive
Et vous, les loups maigres,
Par ces bises aigres
Quoi donc vous arrive?

Dans l’interminable
Ennui de la plaine
La neige incertaine
Luit comme du sable.
11

Die Regungen der Seele sind auf eine Landschaft projiziert. Innenwelt wird Außenwelt: die unendliche Ebene ist nicht mehr vom unendlichen ennui zu unterscheiden. Kein Ich setzt sich in Szene, keine Gefühle, Ängste oder Freuden werden zerfragt, sondern Dinge werden genannt, eine Atmosphäre wird suggeriert.
Die Entsprechungen im Dekor des zitierten Mandelstam-Gedichtes sind offensichtlich (nächtliche Landschaft, Bäume etc.), und nicht der sterbende oder sich verdunkelnde Mond soll uns aufhalten. Wie Verlaine versucht sich Mandelstam in einem kosmischen Impressionismus, ist um die objektivierte Impression bemüht. Die Trauer wird auf die Bäume projiziert. Doch Mandelstam will noch weiter gehen, will Persönliches noch weiter bändigen, bis in die Metrik hinein: der russische Jambus soll das Bekenntnishafte zügeln helfen. Diese Poetik der Zügelung und der Distanz zum Ich weist bereits auf das spätere Schaffen voraus.
Gewiß jedoch ist die Welt der frühen Gedichte Mandelstams noch nicht die sinnerfüllte des vom Kult des Bauens, der schöpferischen Tätigkeit durchdrungenen Akmeisten. Es ist eine von der Leere regierte Welt (I, S. 10), eine umrißhafte Welt der Schatten, von großer Zerbrechlichkeit und entmutigender Vergänglichkeit, und die oft wiederkehrende Trauer ist genau jene Trauer ohne Motiv, jene Schwermut eines jugendlichen, die ebenfalls in Verlaines Romances sans paroles zu ihrem Recht kommt, in der dritten der „Ariettes oubliées“: 

Il pleure sans raison
Dans ce cœur qui s’écœure.
Quoi! nulle trahison?
Ce deuil est sans raison
.12

Es ist das Ringen zwischen bekenntnishafter Ich-Lyrik und objektivierter Impression, das den achtzehnjährigen Mandelstam bei Verlaine angezogen hat. Gerade das Tauziehen der Poetiken Rimbauds und Verlaines in den Romances sans paroles hat ihn zur Schulung (Zügelung) des eigenen Ausdrucks angeregt, zur Schaffung von Romanzen ohne Worte in seiner, der russischen Sprache. Entgegen den gängigen Schul- und Handbüchern, die Verlaine auf das Klischee des sentimentalen Ich-Lyrikers festlegen und zurechtkürzen, hat Mandelstam schon früh einen komplexeren Verlaine erkannt, wertet sein Ringen gegenüber demjenigen der andern Modernisten auf. Auch Verlaine hat versucht, sich vom bekenntnisfreudigen Ich zu lösen und eine Dichtung jenseits des Persönlichen zu schaffen. Ein Brief aus dem Umkreis der Romances, datiert vom 16. Mai 1873, spricht von einem System, das darin bestünde, Dinge und Landschaften statt des Menschen auftreten zu lassen13 – was in dem von Mandelstam im Brief an Vjačeslav Ivanov erwähnten und hier zitierten Gedicht bereits verwirklicht ist.
Über jenes Ringen zwischen zwei gegensätzlichen Poetiken hinaus hat Verlaines Musikalität unverkennbar stark auf Mandelstam gewirkt. So befragt sich dieses oft von der Trauer heimgesuchte Ich in einem frühen Gedicht, warum die Seele so melodisch, so sangbar sei (I, S. 15). Mandelstam trägt Verlaines Gebot der Musikalität in seiner eigenen Dichtung mit noch größerer Radikalität vor. Im Gedicht „Silentium“ aus dem Jahre 1910 hat sein Dichterkollege Nikolaj Gumilev schon früh eine kühne Fortführung des Verlaineschen „Art poétique“ erkannt.14 Die letzte Strophe:

Останься пеной, Афродита,
И слово в музыку вернись,
И сердце сердца устыдись,
С первоосновой жизни слито!

(I, S. 9)

Bleib, Aphrodite, dieses Schäumen,
du Wort, geh, bleib Musik.
Des Herzens schäm dich, Herz, das seinem
Beginn und Grund entstieg.

(Übertragung: Paul Celan)15

Ein doppelter Dialog: außer mit Verlaine auch mit dem Russen Tjutčev (1803–1873), dem Schöpfer philosophischer Nacht- und Naturlyrik – durch die Übernahme des Titels eines seiner berühmtesten Gedichte („Silentium“, Lobpreis des Schweigens, des Unausgesprochenen) sowie durch das Thema des von diesem Lyriker oft beschworenen uranfänglichen, chaotischen Weltzustandes. Die Verbindung von Tjutčev und Verlaine war bereits früher besiegelt, in einem Programmgedicht des Jahres 1908. Der französische Dichter war dort jedoch in einer neuen, veränderten Gestalt in Erscheinung getreten.

 

Über die Kinderei des Dichters
1908 wird zum ersten Mal in Mandelstams Schaffen das Programm einer Verflechtung eines russischen mit einem französischen Modell entworfen. Von Anfang an manifestiert sich der Wille zur Synthese, der Gestus der Vereinigung von Gegensätzlichem. 

В непринужденности творящего обмена,
Суровость Тютчева – с ребячеством Верлена
Скажите – кто бы мог искусно сочетать,
Соединению придав свою печать?
А русскому стиху так свойственно величье,
Где вешний поцелуй и щебетанье птичье!

(IV, S. 12)

Sagt, wer könnte sie kunstvoll verbinden,
in der Ungezwungenheit eines schöpferischen Austausches,
die Strenge Tjutčevs und die Kinderei Verlaines,
und der Vereinigung seine eigene Prägung verleihen?
Und dem russischen Vers ist so sehr die Größe eigen,
wo Frühlingskuß und Vogelzwitschern sind!

Hier ist keine Rede von einer Nachahmung der beiden Modelle: angestrebt wird eine schöpferische Synthese mit eigenem Charakter, die eine Verwandlung der beiden Elemente mit sich bringen muß, des russischen wie des französischen. Einmal mehr wird dem Russischen (über den russischen Vers) die Eignung zu Umwandlung und Synthese bescheinigt: frühlingshafte Leichtigkeit wird Größe, Vergängliches und Flüchtiges erlangt eine neue Qualität. Tjutčevs bedeutende Rolle für den frühen Mandelstam ist bereits Gegenstand kritischer Reflexion geworden16 – seine Strenge wird hier außerhalb der Betrachtung bleiben. Die Kinderei Verlaines jedoch bedarf der Erläuterung. Was hat die auf den ersten Blick seltsam anmutende Bezeichnung zu bedeuten, welche Rolle spielt die mit Verlaine assoziierte Eigenheit im Kontext des Mandelstamschen Werkes?
Mandelstam ist allerdings nicht der erste, dem Verlaines Kindlichkeit und Kinderei aufgefallen ist. Wenn er sich während seiner Pariser Zeit vor allem mit Verlaine beschäftigt hat, dürften ihm die Zeugnisse der Zeitgenossen des Dichters, der damals gerade erst seit einem Jahrzehnt verstorben und dessen Legende nicht verhallt war, kaum entgangen sein:

Daß Verlaine sein ganzes Leben lang ein Kind gewesen sei, haben viele Zeugen bemerkt. Lantoine bewunderte seinen „herrlich kindlichen“ Blick. Byvanck notierte die kindliche Beweglichkeit seines Gesichts, Cazals zeichnete in amüsanten Skizzen die Lausejungenposen seines alten Freundes und Léon Bloy schrieb an Abbé Dewez: „Sie können sich keine Vorstellung von der Kinderei dieses großen Unglücklichen machen.“17

Ist nicht im Sinne eines literarischen Generationenkonflikts der Weg Paul Verlaines zu einer persönlichen Poetik, zur Musikalität, zum Liedhaften, zu einer (scheinbaren) Leichtigkeit als eine Revolte gegen Kühle, Ernst, akademische Ungerührtheit und „Erwachsenheit“ der vorangegangenen Schule, des französischen Parnasse (Leconte de Lisle, Théodore de Banville u.a.) zu verstehen?
Kindlichkeit als Revolte – auch bei Mandelstam? Tatsächlich ergibt sich eine Parallele in seiner Abkehr von einem altväterisch mystischen, prophetisch-erhabenen russischen Symbolismus. Das folgende Bekenntnis zum Kindlichen, das Erneuerung der Kräfte, ja Wiedergeburt verspricht, findet sich in einem Gedicht desselben Jahres 1908 – und Mandelstam hat das Bekenntnis nie widerrufen, hat es auch in spätere Ausgaben seiner Lyrik aufgenommen: 

Только детские книги читать,
Только детские думы лелеять,
Все большое далеко развеять,
Из глубокой печали восстать.

(I, S. 3f.)

Nur Kinderbücher lesen,
nur Kindergedanken hegen,
alles Große weit weg zerstreuen,
aus tiefer Trauer auferstehen.

Die rückhaltlos positive Sicht des Kindlichen wird noch in den letzten Gedichten Mandelstams bestätigt, ja erfährt gerade in den dreißiger Jahren Erneuerung und Steigerung. Aus der Auflehnung gegen den Symbolismus war jedoch existentieller Kampf geworden, Revolte gegen eine totalitär verwaltete Gegenwart. In den Gedichten der Verbannungszeit, den Woronescher Heften (1935–1937), werden Tiere (etwa im Stieglitz-Zyklus) und Kinder zu Verbündeten des verfemten Dichters gegen den Koloß der Stalin-Epoche. In einem Kurzgedicht des Jahres 1937 skizziert Mandelstam seine Auferstehung (Konstanz eines Motivs) als eine Auferstehung durch das Kleine – im Sinne einer Erhebung gegen das Monumentale, Gewaltige, Totalitäre seiner Zeit: 

Уходят вдаль людских голов бугры,
Я уменьшаюсь там – меня уж не заметят,
Но в книгах ласковых и в играх детворы
Воскресну я сказать, что солнце светит.

(I, S. 233)

In weite Ferne gehen Hügel: Menschenköpfe,
Mich wird man nicht mehr sehn, ich werd verschwindend klein –
Und doch, in Kinderspielen, Büchern, zärtlichen Geschöpfen
Werd ich einst auferstehend sagen, daß die Sonne scheint.

(Übertragung: RD)18

Ein noch eindrücklicheres Zeugnis einer auf die kindliche Weltsicht Bezug nehmenden Poetik tritt dem Leser im Gedicht „Die Geburt des Lächelns“ von Dezember 1936/Januar 1937 entgegen. Das beginnende Lächeln des Kleinkindes erhält hier eine kosmische Dimension, wird mit der Entstehung der Welt assoziiert, mit dem Ursprünglichen schlechthin – wie auch die Entdeckung der Dinge durch das Kind als Erkenntnis an ihrem Ursprung gewürdigt wird.

РОЖДЕНИЕ УЛЫБКИ

Когда заулыбается дитя
С развилинкой и горести и сласти,
Концы его улыбки, не шутя,
Уходят в океанское безвластье.

Ему невыразимо хорошо,
Углами губ оно играет в славе –
И радужный уже строчится шов
Для бесконечного познанья яви.

На лапы из воды поднялся материк –
У литки рта наплыв и приближенье –
И бьет в глаза один атлантов миг:
Явленья явного в число чудес вселенья.

И цвет и вкус пространство потеряло,
Хребтом и аркою поднялся материк,
Улитка выползла, улыбка просияла,
Как два конца их радуга связала,
И в оба глаза бьет атлантов миг.

(I, S. 234)

DIE GEBURT DES LÄCHELNS

Ein Kind beginnt zu lächeln, alles ist bereit,
Es teilt sich in ihm Bitterkeit und Süße,
Die Enden seines Lächelns reichen weit
Und werden (ohne Scherz) bis in die Meere fließen.

Ist mit dem Spiel der Lippenwinkel fein begabt,
Und nicht zu sagen ist die Freude: atmen können –
Schon steppt sich eine Regenbogennaht
Und will unendlich weiter diese Welt erkennen.

Und aus dem Wasser hebt sich Land zuletzt –
Der Schneckenmund, sein Andrang, Strom und Werden –
Und springt ins Auge her, atlantisch: Jetzt,
Die Dinge dieser Welt auf einer Wunder-Erde.

Der Raum geruchlos, fehlen ihm die Farben,
Das Festland hob sich: Rückgrat, Bögen, rund,
Ein Muscheltier kriecht aus, es strahlt ein Menschenmund,
Der Regenbogen bindet sie wie Garben –
Dann springt das Jetzt ins Augenpaar, bis in den Grund.

(Übertragung: RD)19

Wie eine Komplizenschaft des Kindes mit der Schöpfung besteht, so gibt es auch eine solche zwischen dem Dichter und dem Kind. Unverkennbares Signal ist das in der „Geburt des Lächelns“ auftauchende Motiv der sich bewegenden Lippen (Lippenwinkel, Mund, Muschelform), das bei Mandelstam einen steten Verweis auf den Akt des Dichtens, auf die Entstehung von Dichtung darstellt. Daß diese direkte Verbindung zur Schöpfungsgeschichte, diese Komplizenschaft mit einem urtümlichen Lebensprinzip auch einen politischen Beiklang hat – daß sie als Widerstand gegen eine vom gewaltsamen Tod, von der Massenhinrichtung geprägte Epoche zu lesen ist (der Terror der Stalinschen „Säuberungen“ hatte soeben begonnen), belegt ein weiteres Kurzgedicht, das in der Folge der „Geburt des Lächelns“ entstanden ist. Das Lächeln wird dort als unkäuflich und ungehorsam gepriesen – als Weigerung, mit dem Lebensfeindlichen und der Menschenverachtung einer vom Totalitarismus Stalins entstellten Zeit zu paktieren. 

Подивлюсь на мир еще немного
На детей и на снега
Но улыбка неподкупна, как дорога,
Непослушна, не слуга.

(I, S. 224)

Ein wenig staunen noch, sei’s nur für heute:
Über Kinder, Schnee und diese Welt –
Auf immer ungehorsam-ungebeugtes:
Dies Lächeln ist ein Pfad, den kauft kein Geld.

(Übertragung: RD)20

Dieser politischen Dimension des Lächelns wie des Kleinkindes in den Woronescher Heften war eine poetologische in den Werken der Moskauer Periode (1930–1934) vorausgegangen. Die Kleinkindsprache, das Lallen (russisch: lepet), wird dort zur Metapher für die Sprache der Dichtung schlechthin. Im Gespräch über Dante aus den Jahren 1933/34 etwa, wo Mandelstam auch seine eigene Poetik umreißt, findet sich folgende Notiz:

Was mich ebenfalls erstaunt hat, ist die Infantilität der italienischen Phonetik, ihre wunderbare Kindlichkeit, die Nähe zum Kleinkinderlallen, ein bestimmter uralter Dadaismus. (II, S. 366)

Große Dichtung, das Werk Dantes, als Stammeln von Lauten. Frische und Freude des Ausdrucks, ungehinderte Lautlichkeit sind für Mandelstam wesentliches Merkmal der Dichtung. In einem der poetologischen Achtzeiler vom November 1933 wird die Bedeutung des Lallens als einer Metapher für Dichtungssprache noch gesteigert durch lautliche Instrumentierung, wo über die Lautwiederholungen (l, p, t) das Lallen abgebildet und reflektiert wird – ein Beispiel sinnreichster Paronomasie, in dem alle Elemente durch das lautliche Material zueinander in Beziehung treten:

Он опыт из лепета лепит
И лепет из опыта пьет.

(I, S. 201)

Er formt Erfahrung aus dem Lallen
und trinkt Lallen aus der Erfahrung.

Die Kinderei Verlaines war nicht zufällig ins frühe Programm, ins Gedicht von 1908 geschlüpft. „Kindlichkeit wie Kinderei“ (russisch: detskost’ und rebjačestvo) sind nicht nur in einer bestimmten Schaffensperiode, sondern im ganzen Werk Mandelstams mit durchweg positiven Wertungen versehen. Die beiden Ausdrücke werden bei diesem Dichter semantisch nicht voneinander geschieden, und auch das zweite Element, die Kinderei (ebenso wie die Infantilität im zitierten Satz aus dem Gespräch über Dante), weist keinerlei pejorative Färbung auf. Im eingangs zitierten Gedicht ist Verlaines Kinderei ernstzunehmendes dichterisches Prinzip, steht ranggleich neben der Strenge Tjutčevs, Mandelstam bezeichnet die moderne Dichtung bei all ihrer Spitzfindigkeit als naiv – wie wir im folgenden Teilkapitel noch einmal sehen werden (und auch dort wird der Name Verlaine stehen). Daß er zudem das Adjektiv naiv wie selbstverständlich neben das Adjektiv klug stellt, bestätigt nur die hier skizzierte Deutung. So heißt es in einem Essay:

Mich zieht es noch immer zu Zitaten aus dem naiven und klugen achtzehnten Jahrhundert. (II, S. 277)

Eine Dichtung, deren Kennzeichen es ist, kulturumspannend zu sein, setzt sich der Gefahr aus, in die Summierung von Kulturgut, in kühle Intellektualität und Akademismus abzugleiten und ihren lyrischen Charakter einzubüßen. Deshalb wählt sich Mandelstam von Anfang an für sein Werk Verlaine und die ihm wesenseigene Kinderei als notwendiges und nicht zu verharmlosendes Korrektiv. So wird man denn diesem russischen Dichter auch nicht gerecht, wenn man ihn einen poeta doctus nennt, da diese Formel dem von ihm gewählten Korrektiv keinerlei Rechnung trägt. Die Frische und Lebendigkeit der schöpferischen Anverwandlung zeugt von einer kindlichen Offenheit des Dichters, ist durchweg poetisch und un-akademisch. Mandelstam ist der Dichter des intuitiven Wissens, nicht der Gelehrsamkeiten: 

Ни о чем не нужно говорить,
Ничему не следует учить,
И печальна так и хороша
Темная звериная душа:

Ничему не хочет научить,
Не умеет вовсе говорить
И плывет дельфином молодым
По седым пучинам мировым.

(I, S. 7f.)

Keine Worte, keinerlei.
Nichts, das es zu lehren gilt.
Sie ist Tier und Dunkelheit,
sie, die Seele, gramgestillt.

Nicht nach Lehre steht ihr Sinn,
nicht das Wort ists, was sie sucht.
Jung durchschwimmt sie, ein Delphin,
Weltenschlucht um Weltenschlucht. 

(Übertragung: Paul Celan)21

Verlaine ist unter den Modernisten der am wenigsten von der Intellektualität belastete. Hat ihm Mandelstam gerade deshalb die Treue gehalten, weil dieser Franzose einer ursprünglichen Bestimmung der Poesie, Gesang und Musik, intuitiv, ganzheitlich, unmittelbar „kindlich“ mitgeteilte Botschaft zu sein, am treuesten geblieben war? Mag Mandelstam oft als dunkler und schwieriger Dichter aufgenommen worden sein – seine gewollte Gegenposition darf nicht vergessen werden: die Leichtigkeit, die erfrischende Kinderei ungewohnter, neuer Bilder, seine Nähe zum Kleinkinderlallen, sein Bestehen auf dem seligen sinnlosen Wort, für das er in der sowjetischen Nacht betet. (I, S. 86)
Wenn ein unabdingbares Element der Mandelstamschen Synthese von Anfang an mit dem Namen Verlaines verknüpft erscheint, ist es naheliegend, von einem Einfluß des französischen Dichters zu sprechen. Es soll hier auch geschehen, jedoch in jenem weiten und strengen Sinne von André Gide, daß der Einfluß an sich nicht schöpferisch sein könne und daß er nur das aufzuerwecken und zu bestätigen vermöge, was im Aufnehmenden bereits vorhanden sei.

Der Einfluß erschafft nichts: er erweckt.22

 

Verlaines Verwandlungen
Mandelstam hat im fremden Dichter das Verwandte gesucht. War die Verwandtschaft entdeckt, gab es keine Veranlassung, dem fremden, das Eigenes bedeutete, untreu zu werden. Diese Beständigkeit ist jedoch nicht mit der Erstarrung eines einmal fixierten Bildes zu verwechseln – gerade die Wandelbarkeit der Erscheinungsform des fremden Dichters ist Indiz für ein besonderes Verhältnis zu ihm. In Mandelstams Essay über François Villon zeigt sich deutlich, daß die Verlaine-Rezeption in eine neue Epoche tritt. Der Text stammt aus dem Jahre 1913, aus dem Jahr der Manifeste des Akmeismus. Mandelstam ist hier unverkennbar bemüht, auch Paul Verlaine von seiner symbolistischen Periode in die akmeistische hinüberzuretten. Gleich zu Beginn des Essays werden die literarischen Rollen Villons und Verlaines verglichen:

Die Schwingungen dieser beiden Stimmen sind sich verblüffend ähnlich. Außer der Klangfarbe und der Biographie jedoch verbindet diese Dichter eine beinah gleiche Mission in der Literatur ihrer Zeit. Beiden war es beschieden, in einer Epoche gekünstelter Treibhausdichtung aufzutreten, und ähnlich wie Verlaine die SERRES CHAUDES (Treibhäuser; RD) des Symbolismus durchschlug, warf Villon der mächtigen Rhetorischen Schule, die man mit vollem Recht als den Symbolismus des 15. Jahrhunderts auffassen darf, seine Herausforderung entgegen. (II, S. 301)

Von den französischen Symbolisten in ihrem Manifest von 1886 als wahrer Vorfahre gefeiert,23 wird Verlaine bei Mandelstam zu einem Überwinder des Symbolismus umgedeutet. Für den Franzosen ergibt sich eine (scheinbar) paradoxale Rolle. Ist Mandelstam hier wirklich auf der falschen Fährte? Prüft man die Dokumente jener Epoche, stellt sich heraus, daß die Rollenverteilung des Akmeisten so widersprüchlich nicht ist. Verlaine hat tatsächlich eine pamphletarische Ballade gegen den Symbolismus und für die 1891 von Jean Moréas gegründete Ecole Romane verfaßt, die sich als Überwinderin des Symbolismus verstand und somit in dieser Beziehung als eine ferne Verwandte des russischen Akmeismus gelten kann. Verlaines Ballade ist eine kategorische Kampfansage an den Symbolismus und eine begeisterte Begrüßung der Überwinderin („Salut à l’école romane! (…) Et vive l’école romane!“): 

A bas le symbolisme, mythe
Et termite, et encore à bas
Ce décadisme parasite
Dont tels rimeurs ne voudraient pas!
A bas tous faiseurs d’embarras!
Amis, partons en caravane,
Combattons de taille et d’estoc,
Que le sang coule comm’ d’un broc
Pour la sainte école romane!
24

Der Aufruf zum heiligen Krieg gegen den Symbolismus war allerdings durch kein sehr tief empfundenes Glaubensbekenntnis abgestützt: Verlaine hielt auch der bejubelten Ecole Romane nicht allzu lange Zeit die Treue.25 Der Bruch war bereits vorprogrammiert, und das einzige, was in jenen heiligen literarischen Kriegen zu obsiegen vermochte, war Verlaines Unabhängigkeitsstreben, oder seine Unfähigkeit, „Schule zu machen“, Jünger um sich zu scharen oder selber ganz und gar für eine der streitbaren Parteien einzustehen. Verlaine ist schwierig einzuordnen und durchbricht tatsächlich das Glas der Treibhäuser literarischer Sekten oder literarhistorischer Etikettierungsversuche. Oder liegt dieses Proteische, unfaßbare Wandelbarkeit und Unabhängigkeit in der Poesie selber begründet? Jedenfalls erscheint Verlaine dem zweiundzwanzigjährigen Mandelstam im Jahr der Manifeste des Akmeismus als ein keineswegs ungeeigneter Weggenosse. Im selben Text, wo diese Adoption sich vollzieht, umreißt der Russe auch die dynamische Poetik François Villons (1431–1463) mit einer Variation des Verlaine-Verses „De la musique avant taute chose“ aus dem „Art poétique“, um die beiden verehrten Franzosen auch unter sich noch weiter zu verbrüdern:

Wäre Villon in der Lage gewesen, sein dichterisches CREDO formulieren zu müssen, hätte er zweifellos in der Art Verlaines ausgerufen: DU MOUVEMENT AVANT TOUTE CHOSE! (II, S. 306)

Und noch immer ist es Verlaines „Art poétique“, der acht Jahre später in einem der wichtigsten Essays, in „Das Wort und die Kultur“ (1921), beigezogen wird – diesmal jedoch, um einen Begriff aus Mandelstams eigener Poetik zu illustrieren: das innere Bild, frühestes Stadium bei der Entstehung des Gedichtes, ein Zustand, welcher der Formgebung und Ausgestaltung weit vorausgeht und Bild in einem umfassenderen Sinne ist, der mit der Rhetorik und ihren Tropen nichts gemein hat. Deshalb zur Eröffnung die strikte Ablehnung einer oberflächlichen Beredsamkeit, die Mandelstam aus dem Programm Verlaines übernimmt (bei Verlaine allerdings lautet der Vers genau: 

Prends l’éloquence et tords-lui son cou!): 

PRENDS L’ELOQUENCE ET TORDS LUI LE COU!
Schreibe bilderlose Verse, wenn du kannst, wenn du dazu imstande bist. Der Blinde erkennt ein einmal liebgewonnenes Gesicht, kaum hat er es mit sehenden Fingern leicht berührt, und Freudentränen, die Tränen einer echten Freude des Wiedererkennens, strömen aus seinen Augen nach der langen Trennung. Das Gedicht ist lebendig durch das innere Bild, durch jenen klingenden Abdruck der Form, der dem geschriebenen Gedicht vorausgeht. Noch kein einziges Wort ist da, doch das Gedicht klingt bereits. Es klingt das innere Bild, das vom Gehör des Dichters betastet wird.
(II, S. 226f.)

Der zu Beginn der zwanziger Jahre geäußerte Vorschlag, bilderlose Dichtung zu schaffen, ist gewiß auch polemisch gegen eine Gruppe von zeitgenössischen Dichtern gerichtet: gegen den Imaginismus, dessen Vertreter (Šeršenevič, Esenin, Mariengof u.a.) ab 1919 in ihren Manifesten und Texten neue, kühne, schockierende Bilder zum Zentrum ihrer Poetik erhoben hatten.26 Mandelstam ist offensichtlich bemüht, seine vom inneren Bild genährte und klanglich-musikalisch geprägte Dichtung von der Bilderflut der Imaginisten abzugrenzen und vor dem Metaphernkult zu warnen, in dem sich eine wirkliche Dichtung nicht erschöpfen dürfte.
Das Zitat des befreienden Ausrufs wider eine gewundene Eloquenz ist jedoch nicht die einzige Huldigung an Verlaine im zentralen Essay „Das Wort und die Kultur“. Gegen den Schluß dieses Textes erweist sich erneut der Modellcharakter des französischen Dichters.

Die moderne Dichtung ist, bei all ihrer Komplexität und der ihr innewohnenden Spitzfindigkeit, naiv:
ECOUTEZ LA CHANSON GRISE…
Als der synthetische Dichter der Moderne erscheint mir nicht Verhaeren, sondern irgendein Verlaine der Kultur. Für ihn ist die ganze Komplexität der alten Welt noch einmal eine Pusckinsche Schalmei. In ihm singen Ideen, wissenschaftliche Systeme, Staatstheorien ebenso genau, wie in seinen Vorgängern Nachtigallen und Rosen gesungen haben.
(II, S. 227)

Eine doppelte Huldigung liegt hier vor. Zunächst verschmelzt Mandelstam zwei Gedichte Verlaines zu einem Vers: einmal mehr den „Art poétique“ mit seinem Lob der Zwischentöne und des Unbestimmbaren („Rien de plus cher que la chanson grise / Où l’Indécis au Précis se joint“) und dann das Gedicht XVI aus der Sammlung Sagesse:

Ecoutez la thanson bien douce
Qui ne pleure que pour vous plaire.
Elle est discrète, elle est légère:
Un frisson d’eau sur de la mousse!
27 

Darauf folgt die Antwort auf Valerij Brjusovs begeisterten Ausruf, der belgische Symbolist Emile Verhaeren (1855–1916) sei der wahre Dichter der Moderne. Brjusov hatte in seinem Essay „Ein Dante der Moderne“ von 1913 verkündet, Verhaeren sei nicht nur ein Meister der Form, Denker, Wissenschaftler, Soziologe usw., sondern dichterische Verkörperung des gesamten modernen Lebens.28
In Mandelstams Formel ein Verlaine der Kultur wird der französische Dichter erneut zum notwendigen Element einer Synthese, hat die Frische und Kindlichkeit des Schöpferischen einzubringen, Leichtigkeit, Liedhaftigkeit, Musikalität – die Nennung eines Musikinstrumentes als des Sinnbildes für die Poesie des größten russischen Dichters (die Puschkinsche Schalmei) verstärkt nur diese Komponente. Auch wo der moderne Dichter sein Werk mit Kultur, mit Ideen, Systemen, Theorien nährt, hat er die Obliegenheit, die Dinge in ihm singen zu lassen, der ursprünglichen, in der Chiffre Verlaine aufgehobenen Bestimmung der Lyrik treu zu bleiben. Mandelstam verweist nicht – wie etwa Brjusov auf Verhaeren – auf einen lebenden, zeitgenössischen Dichter. Eine Synthese wird entworfen. Einen jedoch gibt es, der dem umschriebenen Modell eines Verlaine der Kultur 1921 bereits verblüffend ähnlich sieht: Ossip Mandelstam. In einer Teilidentifikation mit dem französischen Dichter erreicht die Verlaine-Verehrung Mandelstams zu Beginn der zwanziger Jahre ihren eigentlichen Höhepunkt.
Der Beständigkeit der Rezeption durch die Jahre hindurch steht die Wandelbarkeit der Gestalt Verlaines gegenüber: seit Beginn seiner dichterischen Tätigkeit hatte Mandelstam den Willen bekundet, den französischen Dichter von einer Phase seiner künstlerischen Entwicklung in die nächste mitzunehmen – von der symbolistischen in die akmeistische und von da in eine entwickelt-akmeistische mit, wie im Essay „Das Wort und die Kultur“ formuliert, neoklassizistischer Ästhetik und einer vertieften Poetik der Kultur. Mandelstam anerkennt damit in Verlaine eine Fülle von Facetten und die Fähigkeit zur Verwandlung – und gibt uns eine nicht zu unterschätzende Lektion: der von der Kritik nachlässig duldsam behandelte und gegenüber den großen Modernisten deutlich unterbewertete Verlaine erhält bei diesem Russen eine von Literaturgeschichten und Handbüchern nie wirklich zugegebene Komplexität und Vielgestaltigkeit zurück. Auch im Essay über André Chénier von 1914/15 kommt im Zusammenhang mit einer romantischen „Poetik des Unerwarteten“ Verlaine und seinem ironischen Liedchen (II, S. 296) ein Ehrenplatz zu, und Mandelstam fügt den bisherigen eine weitere Facette hinzu. Doch die Verwandlungen der Proteusgestalt Verlaine innerhalb des Mandelstamschen Werkes sind noch nicht vollzählig versammelt. Kehren wir aus den Essays ins Gedicht zurück: 1913 war Verlaine in einem akmeistischen Gedicht als Stoff erschienen, als Figur einer Legende.

 

„Fröhliches Elend“ – Verlaine als Figur einer Legende
Jedes Ding hat seine eigene Poesie und kann Gegenstand des akmeistischen Gedichtes werden, ohne im Sinne einer Baudelaireschen Entsprechung (Baudelaires Sonett „Correspondances“ war für die russischen Symbolisten ein Schlüssel zur Welt gewesen) auf Analoges, Metaphysisches, Jenseitiges zu verweisen. Nikolaj Gumilev hatte in seinem Manifest den Eigenwert jeder Erscheinung hervorgehoben.29 Laut Mandelstam ist das akmeistische Gedicht nicht mehr ein „Gang durch den Wald der Symbole“ (II, S. 323): sein Gegenstand ist im Diesseits verankert, gehört dem Planeten Erde. Das Gedicht „Der Alte“, 1913 entstanden und in die erste Ausgabe des Bandes Der Stein aufgenommen, ist einem in den Manifesten skizzierten reinen, ursprünglichen Akmeismus verpflichtet.
Der Alte: ein alltäglicher, betrunkener Zeitgenosse, Herumtreiber und Nachtschwärmer, der im frühmorgendlichen Petersburg oder Paris sein Heim sucht, wo ihn eine zänkische Gattin erwarten wird. Nichts Lyrisch-Intimes, Bekenntnishaftes – dieser Text eines 22jährigen ist eine Provokation, der ironisch pointierte Wille, dem Gedicht eine andere Ästhetik zu geben als die vorangegangene Dichtergeneration. Das akmeistische Gebot einer romanischen, hellen Ironie30 ist im Gedicht „Der Alte“ verwirklicht.

СТАРИК 

Уже светло, поет сирена
В седьмом часу утра.
Старик, похожий на Верлена –
Теперь твоя пора!

В глазах лукавый или детский
Зеленый огонек;
На шею нацепил турецкий
Узорчатый платок.

Он богохульствует, бормочет
Несвязные слова;
Он исповедоваться хочет –
Но согрешить сперва.

Разочарованный рабочий
Иль огорченный мот –
А глаз, подбитый в недрах ночи,
Как радуга цветет.

Так, соблюдая день субботний
Плетется он, когда
Глядит из каждой подворотни
Веселая беда;

А дома – руганью крылатой,
От ярости бледна,
Встречает пьяного Сократа
Суровая жена!

(II S. 25)

DER ALTE 

Schon ist es hell, Sirenen krähn
Um sieben Uhr im Morgenlicht.
Du Alter, ähnlich Paul Verlaine –
Nun wird es Zeit für dich! 

In kindlichen und schlauen Blicken
Ein grüner Feuerschein –
Gemustert: Tuch, den Hals umwickelnd,
Es muß wohl türkisch sein.

Er lästert los und murmelt her
Viel losen Faden des Gesprächs;
Er möchte Beichte tun so sehr –
Doch sündigen zunächst.

Ein arg enttäuschter Schwerarbeiter
Oder ein Prasser, leicht betrübt –
Ein Augenring, tief nachts verbläuter,
Als Regenbogen blüht.

So wahrt er seine Feierstunden
Und schleppt sich weiter, laut-
hals, wenn aus jedem Türspaltgrunde
Ein Elend fröhlich schaut.

Zuhaus – Geschimpf, geflügeltes,
Wenn bleich, von ihrer Wut gedrängt,
Den öfter trunknen Sokrates
Die finstre Frau empfängt!

(Übertragung: RD)

Bei aller manifestkonformen Anlage des Gedichtes kann sich Mandelstam nicht verleugnen. Die Erscheinung in ihrer plastischen, irdischen Konkretheit genügt ihm nicht er konfrontiert sie mit kulturellen Gegebenheiten, hier – mit der literarischen Anekdote und der Dichterlegende. Es ist nicht der Musik und Lyrik verschmelzende Verlaine der Romances sans paroles oder des „Art poétique“, dem dieser Alte ähnlich sieht – es ist Verlaine als Existenzfigur, der Verlaine aus der Legende vom alternden Dichter: ein nicht unsympathischer Herumtreiber und zwischen Einsamkeit und Geselligkeit hin- und herpendelnder, etwas alberner Alkoholiker, wie ihn so manche Zeitgenossen porträtiert haben, und unter ihnen wohl am treffendsten Paul Valéry in seinem Text „Passage de Verlaine“ aus dem Jahre 1921.

Doch ich sah ihn fast jeden Tag vorbeigehen, wenn er seine groteske Höhle verlassen hatte und gestikulierend irgendeine Winkelkneipe in der Nähe des Polytechnikums aufsuchte. Dieser Verworfene und Gesegnete ging hinkend und beschlug den Boden mit dem schweren Stock der Vagabunden und Gebrechlichen. Jammergestalt und Träger von Flammen in seinen gestrüppüberwachsenen Augen, verblüffte er die Straße durch seine brutale Majestät und das Erschallen ungeheuerlicher Äußerungen. (…) Verlaine entfernte sich mit den Seinen in einem widrigen Geklapper von Galoschen und Knütteln und entwickelte einen prächtigen Zorn, der sich manchmal, wie durch ein Wunder, in ein Lachen verwandelte, das fast so neu war wie das Lachen eines Kindes.31

Als sei der Gestalt dieses Dichters nur in paradoxen Wendungen wirklich beizukommen… Wie Valérys acht Jahre später entstandenes Erinnerungsstück lebt auch Mandelstams Gedicht vom Aufeinanderprall der Gegensätze, vom poetischen Reiz des Oxymorons. Der Ausdruck „fröhliches Elend“ aus dem Gedicht selber resümiert es aufs prägnanteste: das verführerische Nebeneinander von Glanz und Armseligkeit, Kindlichkeit und Durchtriebenheit, Frömmigkeit und Sündigkeit, von Schmuck (das gemusterte Tuch) und verkaterter Gangart („schleppt er sich dahin“), von Schmerz (das wundgeschlagene Auge) und Schönheit (der Regenbogen). Der Gestus des Oxymorons – die rhetorische Figur bedeutet griechisch „scharfsinnigdumm“ – wird bis zum Schluß, bis hin zur finsteren Gattin und deren „geflügeltem Geschimpfe“ durchgehalten.
Einige Züge des Alten stammen zu stark von der Verlaine-Legende ab, als daß der Hinweis auf den französischen Dichter im dritten Vers zufällig hätte ins Gedicht geschlüpft sein können. Das obligate Epitheton „kindlich“ (Vers 5) soll uns hier nicht mehr aufhalten. Auf Verlaines Familiendrama oder seine fast sprichwörtliche Trunksucht einzugehen, wäre ebenfalls wenig originell. Mandelstams Vertrautheit mit der Verlaine-Legende erweist sich jedoch deutlich in deren Vermischung mit der Legende vom betrunkenen Sokrates (Vers 23), eine Kreuzung, die das Werk der Zeitgenossen Verlaines war und der Mandelstam wohl während seines Aufenthaltes in Paris begegnete. Die Assoziation geschah keineswegs immer in schmeichelhaftem Zusammenhang und in Tönen der Bewunderung. So schreibt etwa Jules Renard:

Der entsetzliche Verlaine: ein moderner Sokrates und ein schmutziger Diogenes; ein wenig Hund und Hyäne.32

Wie hätte Mandelstam eine ganze Periode von Existenz und Schaffen des wankelmütigen Verlaine besser charakterisieren können als mit den Zeilen: „Er möchte beichten – / doch sündigen zunächst“? Mandelstam führt dem Leser in aller Kürze den Verlaine eines Doppellebens vor Augen: den bekehrungswilligen, demutsvoll mystisch-religiöse Verse schreibenden Verlaine der Sammlungen Sagesse (1880) und Amour (1888) – und parallel dazu (der entsprechende Gedichtband trägt den Titel Parallèlement und wird von einer ganzen Serie ähnlich inspirierter Werke gefolgt) den Verlaine des Skandals, Prophet des Lasters und der erotischen Ausschweifungen. Das scheinbar so harmlose und leichtsinnig-frische Gedicht von 1913 gewinnt dadurch, daß es sich an der Verlaine-Legende nährt, eine plötzliche Tiefe.
Die fröhliche und erbärmliche Doppelheit des „Alten“ geht im Werk Mandelstams nach 1913 nicht verloren. Im Jahre 1931 taucht in den Moskauer Heften unvermittelt ein Gedicht auf, das ein Motto aus einem Verlaine-Gedicht trägt: „Ma voix aigre et fausse…“ (Meine schrille und falsche Stimme…)33

Я скажу тебе с последней
Прямотой:
Все лишь бредни, шерри-бренди,
Ангел мой!

Там где эллину сияла
Красота,
Мне из черных дыр зияла
Срамота.

Греки сбондили Елену
По волнам,
Ну, а мне соленой пеной
По губам!

По губам меня помажет
Пустота,
Строгий кукиш мне покажет –
Нищета.

Ой-ли, так ли, – дуй ли, вей ли, –
Все равно –
Ангел Мэри, пей коктейли,
Дуй вино!

Я скажу тебе с последней
Прямотой –
Все лишь бредни, шерри-бренди,
Ангел мой!

(I, S. 161)

„Ma voix aigre et fausse…“
Paul Verlaine

Dir nur sag ich hier inständig
Offenheit:
Alles Unsinn, Cherry Brandy,
O Engel mein!

Griechen fanden dort die Schönheit,
Strahlenspur,
Hier für mich – aus schwarzen Höhlen
Qualen nur.

Fuhren Helena weit über
Wellenland,
Wo ich meinem Mund nur trüben
Salzschaum fand.

Meinen Mund bestreicht nun einzig
Leeres Nichts,
Armut zeigt mir höhnisch-reizend
Ihr Gesicht.

Hoppla, weiter, auch mich lockt es –
Alles eins.
Engel Mary, trink die Cocktails,
Kipp den Wein!

Dir nur sag ich hier inständig
Offenheit:
Alles Unsinn, Cherry Brandy,
O Engel mein!

(Übertragung: RD)

Das vorangestellte Motto ist ein Vers aus der Serenade in Verlaines erstem Gedichtband Poèmes saturniens (1866). Auch wenn der Vers vom jungen Verlaine stammt, situiert er sich für Mandelstam nicht in der Linie des vielgepriesenen Versmusikers Verlaine. Hier findet er den Alten wieder, den mit sich zerfallenen, doppelten Verlaine, dessen Gebrochenheit bis in seine Stimme hin sich abbildet. Ein Motto ist bedeutsam, hat die Rolle eines Signals, stellt eine Beziehung des vorliegenden Textes zu einem früheren her.
Verlaines Gedicht, das sich als „grausames und einschmeichelndes Chanson“ bezeichnet (cette chanson / cruelle et câline),34 lebt aus einer Brüchigkeit, aus einem Nebeneinander von Erhöhung und Erniedrigung, das sich bis in die Anrede der besungenen Frau auswirkt: sie wird mit mein Engel und gleich darauf mit Frauenzimmer tituliert („Mon Ange! – ma Gouge!“). Auch Mandelstams Gedicht richtet sich mit mein Engel an eine Frau, die zum Trinken aufgefordert wird, da ohnehin alles eins sei.
Doch plötzlich mischt sich ein weiterer Dialog in den bereits zustande gekommenen. In der mit dem Namen Mary angesprochenen Frau feiert eine Gestalt aus Alexander Puschkins Kurzdrama Das Gastmahl während der Pest von 1830 ihre Auferstehung,35 ein Versstück, das seinerseits mit dem Werk eines Engländers Kontakt aufnimmt, mit dem Drama The City of the Plague (Die Pest-Stadt) von John Wilson (1785–1854). In dieser Verschränkung der dichterischen Dialoge, in diesem Zeit und Raum überwindenden Gespräch zwischen zwei Russen, einem Engländer und einem Franzosen, formt sich einmal mehr das ab, was für Mandelstam auch in den finstersten Momenten der Stalin-Epoche höchstes Anliegen blieb: die europäische Kultur.
Daß es auch im zweiten Gedicht um mehr geht als um eine simple Belustigung, ist nicht zu überhören, und wie das Verlaine-Gedicht „Serenade“ klingt „wie die Stimme eines Toten, der auf dem Grunde seines Grabes singt“, und Styx und Lethe, Totenfluß und Strom des Vergessens in sich trägt, so ist auch Mandelstams Serenade Ausdruck einer Krise, Befund unguter Veränderungen. Neben der Trinkfröhlichkeit und der Schönheit Helenas als einer Verkörperung europäischen Altertums (hier mischt Homer sich ins Gespräch!) erscheinen Dinge im Gedicht – Schmach, salziger Schaum auf den Lippen, Leere, Armut – die einen sonderbar bitteren Beiklang haben, denkt man an die Hetzkampagne, der Mandelstam ab 1928 im stalinistischen Sowjetrußland ausgesetzt war.
Gerade weil die Äußerung des alles eins nicht charakteristisch sein wird für Mandelstams spätes Schaffen, für seine von Mut und Beharrlichkeit geprägte Dichtung der dreißiger Jahre, braucht er in diesem Gedicht die Maske. Es ist, als hätte sich der Russe in diesem Trinklied, dessen „Fröhlichkeit“ das Elend der genannten Befunde nicht vergessen läßt, Verlaines brüchige und falsche Stimme ausgeliehen, um seiner Verstörung Ausdruck zu verschaffen. Bis in die Brüchigkeit hinein, die sich in Mandelstams Gedicht selbst im Vokabular spiegelt, in der Vermengung von Pathos und Vulgarität, hat dieser russische Dichter der Proteusgestalt des Franzosen Verlaine die Treue gehalten.
Allein schon die Anzahl der Texte Mandelstams (seien es Gedichte, Essays, Briefe), in denen Hinweise und Anspielungen auf die Poetik, Persönlichkeit oder Legende Verlaines zu finden sind, wäre Indiz für dessen Vorrangstellung unter den französischen Modernisten. Mandelstam hat Verlaine mit all seinen Masken adoptiert und ihn sehr eigenwillig dem sonst so gefeierten Dreigespann der Begründer moderner Dichtung vorgezogen.

 

Und Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé?
Voller Anerkennung rückt Mandelstam in seinem spätesten Essay, dem Gespräch über Dante (1933/34), die französischen Modemrnisten Rimbaud, Verlaine und Baudelaire in die Nähe des alles überragenden Dante und verweist deren literaturgeschichtlich unmittelbare Vorgänger, die Dichter des Parnasse, schmählich an den Gegenpol.

In der europäischen Dichtung haben sich namentlich diejenigen Dichter am weitesten von der Methode Dantes entfernt und sind ihr, meine ich sogar, polar entgegengesetzt, die man Parnassiens nennt: Hérédia, Leconte de Lisle. Bedeutend näher ist ihr Baudelaire. Noch näher Verlaine, und am allernächsten in der ganzen französischen Dichtung – Arthur Rimbaud. Dante ist seiner Natur nach der Dichter, der den Sinn des Bildes ins Wanken und dessen Ganzheitlichkeit zum Einsturz gebracht hat. Die Komposition seiner Gesänge erinnert an den Plan eines Luftverkehrsnetzes oder den unermüdlichen Umlauf der Brieftauben. (II, S. 384f.)

Keinerlei Wertschätzung für die Parnassiens: Mandelstam war ihnen nicht wie sein Kollege Nikolaj Gumilev zugetan, der Théophile Gautier zu einem der Stammväter des Akmeismus erhoben und ihm einen Essay gewidmet hatte (1914 erschien zudem Gautiers Gedichtband Emaux et Camées in Gumilevs russischer Übertragung). Daß der Name Mallarmés in diesem zentralen Text fehlt, ist bereits ein Signal. Die noch in den dreißiger Jahren anhaltende Wertschätzung Verlaines zeigt sich darin, daß er in bezug auf die Modernität und Komplexität der Bildsprache über Baudelaire gestellt (!), als „dante-näher“ empfunden wird. Andrerseits ist jedoch natürlich, daß Verlaine mit seinen Attributen (Musikalität, Leichtigkeit, Abschaffung der Eloquenz) in einem Essay, in dem der Autor das Wesen des dichterischen Bildes in immer neuen Metaphern befragt, nicht im Zentrum des Interesses stehen kann. So ist die Ursache für die hohe Stellung Rimbauds, für dessen schmeichelhafte Nachbarschaft zu Dante, in der Kühnheit und Dynamik seiner Bildsprache zu suchen. Und noch einmal wird im Gespräch auf eine der dichterischen Errungenschaften Rimbauds angespielt, auf die Farbenlehre des Sonettes „Voyelles“ (Vokale). Rimbauds Bemühung um das Farbhören, um die Wahrnehmung von Farben, visuellen Reizen in den Lauten der Sprache stellt Mandelstam neben die Farbgebung Dantes, der zwar auch schon „die Farbe mit dem Vollaut artikulierter Rede konjugiert“ habe, dessen koloristischer Elan sich jedoch eher auf Gewebestrukturen, Textilien (und den Text?) denn auf das Alphabet beziehe. (II, S. 407) Im Jahre 1933 wird Rimbaud durch die Nachbarschaft zum Giganten wieder zu Ehren gebracht. Ein Jahrzehnt zuvor jedoch hatte sich Mandelstam den synästhetischen Experimenten Rimbauds gegenüber irritiert gezeigt, wie im Kapitel „Der Bücherschrank des Rauschens der Zeit“ nachzulesen ist:

Die Farbe Puschkins? Jede Farbe ist zufällig – welche müßte man sich für ein Sprachengemurmel ausdenken? Ach, dieses idiotische Farbenalphabet Rimbauds! (II, S. 58)

Der schalkhafte Unmut Mandelstams richtet sich hier gegen das von den Symbolisten gepflegte Denken in Analogien, in „Entsprechungen“ (noch einmal sind Baudelaires „Correspondances“ gemeint, mit denen die Einheit und Schlüssigkeit des Universums leicht herzustellen war) – ein Denken, dem sich die Akmeisten mit ihrem Prinzip der Identität verweigerten.
Dreimal noch erscheint Baudelaire in Mandelstams Essays, und dreimal ist er der Dichter einer vergangenen Epoche. In „Sturm und Drang“ (1923), wo allerdings eine bereits objektivere Sicht des Symbolismus angestrebt wird (die Zeit der Manifeste war vorbei), steht Baudelaire neben E.A. Poe, Mallarmé, Swinburne und Shelley als Inspirator für den frühen russischen Symbolismus mit seinen großen Themen und den „Begriffen mit Großbuchstaben“ (II, S. 340) – angespielt wird auf Baudelaires Neigung zur Allegorie: Temps, Beauté, Douleur, Mort etc.
Der Essay „Das neunzehnte Jahrhundert“ (1922), Kritik einer Zeit, deren Buddhismus Mandelstam nicht akzeptieren kann, wird mit dem Bild des seinem angestammten Element entrissenen Meeresvogels Albatros aus dem gleichnamigen Gedicht Baudelaires eröffnet („Exilé sur le sol au milieu des huées, / Ses ailes de géan: l’empêchent de marcher):36

Auf das neunzehnte Jahrhundert sind Baudelaires Worte über den Albatros anwendbar: „Durch das Zelt seiner gigantischen Flügel wird er an die Erde gepreßt“. (II, S. 276)

Der zweifellos interessanteste Kontext, in dem der Name Baudelaires auftaucht, findet sich im Essay „Das Wort und die Kultur“ (1921). Sein Werk wird mit der Décadence in Verbindung gesehen, jedoch mit betont christlichen Vorzeichen, was bei Mandelstam einer durchaus günstigen Wertung gleichkommt – auf dem Hintergrund seines Essays „Puschkin und Skrjabin“ (1915), der eine Apologie der Freiheit des christlichen Künstlers und seiner „freien und freudigen Nachahmung Christi“ (II, S. 315) darstellt.

Doch die Dekadenten waren christliche Künstler, gleichsam die letzten christlichen Märtyrer. Die Musik der Verwesung war für sie die Musik der Auferstehung. Die CHAROGNE Baudelaires ist ein hohes Beispiel christlicher Verzweiflung. (…) (übrigens, da ich Baudelaire genannt habe, möchte ich seiner Bedeutung gedenken als der eines asketischen Glaubensstreiters, im ursprünglichsten christlichen Sinne des Wortes MARTYRE) (II, S. 225)

Bei aller respektvollen Würdigung der Mission Baudelaires läßt Mandelstam keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er in diesem französischen Dichter nicht den Auftakt zu einer neuen Ära erkannte, nicht den Beginn der Modernität in der Dichtung, sondern den Vertreter einer verflossenen Epoche (das neunzehnte Jahrhundert, der Symbolismus, letztes christliches Märtyrertum), einen Abschluß, nach dem erst das Neue folgen kann.
Glückloser Mallarmé: wird Baudelaire noch unverhohlen Respekt gezollt, erfährt sein bedeutender Nachfahre beim russischen Dichter nur Mißverständnis und Nichtbeachtung. Gewiß findet sich zu einem sehr frühen Zeitpunkt, im Tagebuch seines Zeitgenossen S.P. Kablukov unter dem Datum des 18. August 1910, Mandelstams Urteil große Dichter – über Innokentij Annenskij und Stéphane Mallarmé.37
Doch Mallarmés weiteres Schicksal? Daß die beiden erwähnten Namen so eng beieinander stehen und im gleichen Atemzug genannt werden, ist kein Zufall. Es war Innokentij Annenskij (1856–1909), eigenwilliger Spätsymbolist und von den Akmeisten verehrter Lehrer, der in seinen Übertragungen Mallarmé nach Rußland zu vermitteln suchte. Trotz dieser Bemühungen hat Mallarmé in Rußland nie wirklich Fuß fassen können. Im Essay „Über die Natur des Wortes“ (1922) kommentiert Mandelstam die Wirkungslosigkeit der Übersetzer- und Vermittlertätigkeit des im übrigen sehr geschätzten und im selben Essay mit allem Ruhm bedachten Innokentij Annenskij.

Die Unfähigkeit Annenskijs, irgendwelche Einflüsse zu ermöglichen, Vermittler, Übersetzer zu sein, ist geradezu verblüffend. Mit äußerst originellem Griff hatte er das Fremde gepackt, und noch in der Luft, aus großer Höhe, ließ er hochmütig die Beute aus seinen Krallen gleiten, erlaubte ihr, selber niederzugehen. Und der Adler seiner Dichtung, der Euripides, Mallarmé, Leconte de Lisle gepackt hatte, brachte uns in seinen Klauen nichts anderes her als einige Handvoll trockener Gräser. (II, S. 252)

Die Wirkungslosigkeit der Mallarmé-Vermittlung für die russische Dichtung hatte eine Parallele in Mandelstams persönlichem Bereich. Die Anekdote ist durchaus bedeutsam: Annenskij empfahl Mandelstam in dessen Jugendjahren, Mallarmé zu übersetzen, da dies sehr lehrreich sei. Mandelstam hat sich auch hingesetzt und wenigstens zehn Verse des Gedichtes „Brise marine“ („La chair est triste, hélas! et j’ai lu tous les livres“) ins Russische übertragen. (IV, S. 37) Als sich aber in einem Vers ein amüsantes unfreiwilliges Wortspiel ergab, habe Mandelstam die lehrreiche Übung beendet und Mallarmé in der Folge als „Spaßmacher“ bezeichnet.38 Die Anekdote legt den Gedanken nahe, Mandelstams Ablehnung Mallarmés sei nicht zuletzt durch seine Abneigung gegen die Versübersetzung bedingt gewesen. Mandelstam hat sich nie als Dichter-und-Übersetzer verstanden. Eine laut Nadeschda Mandelstam ernsthafte Ausnahme, die für Mandelstam einiges bedeutet habe, wird uns auf diesen Seiten noch begegnen: die Auswahl von Gedichten Auguste Barbiers.39
Ein bemerkenswertes Paradoxon: eine um Vergleiche ringende Kritik greift zuallererst nach den Namen Mallarmé und Valéry, um den Russen Mandelstam zu charakterisieren.40
Mandelstam als russischer Mallarmé? Ein verführerisches Etikett, um so mehr, als sich gewiß Parallelen in Dichtung wie poetologischer Reflexion aufzeigen lassen. Die Bemühung um die Magie der Worte, um ihre Beschwörungskraft, das Beharren auf ihrem Eigenleben, auf den Möglichkeiten ihrer freien Begegnung, ihrer gegenseitigen Kenntnisnahme und Beeinflussung verbindet durchaus den Russen mit dem Franzosen. Ein Abschnitt Mallarméscher Reflexion, aus dem zentralen Text „Crise de vers“ (in „Variations sur un sujet“): 

Das reine Werk bringt das Verschwinden der Rede des Dichters mit sich, der die Initiative den Wörtern überläßt, die durch den Zusammenprall ihrer Ungleichheit bewegt werden; sie entzünden sich an ihrem wechselseitigen Widerschein (…) Ich sage: eine Blume! und aus dem Vergessen heraus, wohin meine Stimme jeden Umriß verweist, hebt sich, als etwas anderes denn die gewußten Blumenkelche, musikalisch, Idee an sich und anmutig, die aus allen Sträußen Abwesende (…).
Der Vers, der aus mehreren Vokabeln ein umfassendes Wort macht, neu, der Sprache fremd und wie beschwörerisch, vollendet die Vereinzelung des Ausspruchs: mit souveränem Strich den Zufall verneinend, der an den Wörtern haftenbleibt trotz des Kunstgriffes ihres abwechselnden Eintauchens in Sinn und Lautlichkeit, und ruft in einem die Überraschung hervor, noch niemals ein solches Teilstück in gewöhnlicher Rede vernommen zu haben, wobei gleichzeitig die Erinnerung des genannten Gegenstandes in einer neuen Atmosphäre schwebt.41

Und auch Mandelstam, der 1912 im Manifest „Der Morgen des Akmeismus“ die Bedeutung des Wortes, den Logos als vollwertige Form gegen Symbolisten wie Futuristen verteidigt hatte, gibt durch seinen erweiterten und bereicherten Akmeismus, wie er 1921 im Essay „Das Wort und die Kultur“ zum Ausdruck kommt, dem dichterischen Wort seine Freiheit, sein Eigenleben, seine Fähigkeit zu schillern, seine poetische Mehrwertigkeit zurück:

Der Zweifel des Thomas. Warum muß man alles unbedingt mit den Fingern befühlen können? Und zum Wesentlichen: warum sollte man das Wort mit dem Ding identifizieren, mit dem Gras, mit dem Gegenstand, den es bezeichnet? Ist denn das Ding Herr des Wortes? Das Wort ist Psyche. Das lebendige Wort bezeichnet den Gegenstand nicht, sondern wählt frei, gleichsam als Behausung, diese oder jene gegenständliche Bedeutung, Dinglichkeit, einen geliebten Leib. Und um das Ding herum irrt das Wort in Freiheit, wie die Seele um den abgelegten, doch nicht vergessenen Leib. (II, S. 226)

Die Parallelen mögen sich als einnehmend zeigen – die Gegensätzlichkeiten jedoch sind nicht von geringerem Gewicht. Mallarmés syntaktisch geraffte, bewußt dunkle, auf die Schaffung von Mysterium angelegten Texte besagen eine andere Verschlossenheit als Mandelstams von einer Mehrzahl semantischer Stränge durchlaufene, durch vielfache Bezüge zur literarischen Tradition geprägte Gedichte. Mallarmé schafft in der Dichtung einen Raum reiner Idealität und Virtualität. Es ist eine Dichtung der ent-rückten Gegenstände, des Nicht-Seins, der Abwesenheit, des Körperlosen. Mandelstams Dichtung vor allem der zwanziger und dreißiger Jahre ist, um als „reine Dichtung“ zu gelten, zu stark von Existentiellem, von Grenzerfahrungen, Schmerz, Angst, Tod gezeichnet (in der „Griffelode“ von 1923 steht inmitten des Bilderreichtums mit seltener, betroffen machender Direktheit: „Hier schreibt die Angst“ (I, S. 107) – und dabei geradezu vitalistisch, von der Bejahung des Lebens bis in seine Körperlichkeit und einer verzweifelt-beharrlichen Heiterkeit bestimmt.
Das auf den ersten Blick verblüffende Mißverständnis, die Verkennung der Größe Mallarmés, dessen schroffer Ausschluß aus der literarischen Genealogie Mandelstams, vollzieht sich denn nicht ohne eine gewisse unerbittliche innere Logik. Paul Valéry sollte mit seiner strikten Unterscheidung recht behalten: 

(…) zwei weite Klassen: die der Getreuen Verlaines und die der Schüler Mallarmés. (…)
Verlaine – ist doch ganz das Gegenteil. Nie könnte es einen wirklicheren Kontrast geben. Sein Werk strebt nicht danach, eine andere, reinere und unverweslichere Welt als die unsrige zu umreißen, eine, die in sich vollkommen wäre, sondern es nimmt die ganze Vielfältigkeit der Seele als solche in die Dichtung auf. Verlaine gibt sich so intim wie nur möglich; er ist voller Unbeständigkeiten, die ihn dem Leser unendlich nahe bringen.42

Verlaine oder Mallarmé… Mandelstam hat sich ohne jeden Zweifel für Verlaine entschieden. Dem Idealen und Esoterischen, das bei allem Willen zur Magie intellektuelles Konstrukt bleibt, hat er das Lebens-Nahe wie kindlich Liedhafte vorgezogen. Der „russische Mallarmé“ – als ob es einen solchen geben könnte! – wählt sich Verlaine und verwirft dessen Antipoden.
Die Absage an einen Zweig der modernen Dichtung, der seinen Aufenthalt an der Grenze zum Schweigen wählt, geht Seite an Seite mit der Preisung der Frische und Lebendigkeit des dichterischen Ausdrucks, mit dem Lob der „Bewegung der Lippen“. Und noch einmal ist das Wort: „reine Heiterkeit“ (I, S. 47). Mandelstam läßt einen verstummenden Modernismus hinter sich zurück, um seine eigene Poetik zu verwirklichen, sein eigentümliches Amalgam von Modernität und Klassizität. 

 

 

 

Einführung

Nur eine Zugehörigkeit hat Ossip Mandelstam (1891–1938) gegen Ende seines Lebens beansprucht, nämlich die Zugehörigkeit zur russischen Dichtung, auch wenn er sie – als Verfemter und Totgeschwiegener – prophetisch in der Zukunft anzusiedeln hatte:

Das Wichtige mit Lappalien mischend, schwimme ich nun bereits ein Vierteljahrhundert auf die russische Dichtung zu; bald jedoch werden meine Verse mit ihr zusammenfließen, nachdem sie einiges an ihrem Bau und ihrer Beschaffenheit verändert haben werden. (III, S. 280f.)43 

Die Voraussage findet sich in einem der letzten Briefe Mandelstams aus der Woronescher Verbannung und ist datiert vom 21. Januar 1937. Bereits ein Jahrzehnt zuvor hatte Mandelstam mit Beharrlichkeit von der künftigen Wirkung seiner Dichtung gesprochen und für sich eine persönliche Avantgarde definiert: ein unzeitgemäßes, der Zeit vorauseilendes Schaffen. In der Antwort auf eine Zeitungsumfrage unter sowjetischen Schriftstellern hält er 1928 fest, er fühle sich als Schuldner der Revolution, bringe ihr jedoch Gaben dar, die sie vorläufig noch nicht benötige. (II, S. 217)44
Am 27. Dezember 1938 ist Mandelstam auf dem Weg in ein sibirisches Zwangsarbeitslager, in der Nähe von Wladiwostok umgekommen – auch er ein vergeudeter Dichter, um jenes treffende, noch immer unersetzliche Wort aufzugreifen, das Roman Jakobson nach dem Freitod Vladimir Majakovskijs geprägt hat.45 Waren Mandelstams Voraussagen nur Vermessenheit, nur ein unglücklicher Versuch, sich eine Legende zu formen? Zu einem guten Teil ist das Prophezeite bereits eingetroffen, hat eine östliche und eine westliche Erfüllung erfahren. In weiten Kreisen der heutigen sowjetischen Intelligenzia wird die Dichtung Mandelstams nicht nur hoch geschätzt – sie hat sich bereits selbst überschritten, ist zum Symbol geworden, zum Symbol für die Unbeirrbarkeit und Ungebrochenheit eines ästhetisch wie ethisch bedeutsamen künstlerischen Schaffens. Offiziell hingegen tut man sich immer noch und schon wieder schwer mit diesem Dichter. Der 1973, fünfzehn Jahre nach seiner Ankündigung im Taumel des Tauwetters, fünfundvierzig Jahre nach der letzten, noch zu Mandelstams Lebzeiten veröffentlichten Gedichtsammlung, in Leningrad erschienene Auswahlband kann bei seinem bescheidenen Umfang, einer äußerst geringen Auflage und einem geschichtsklitternden Vorwort auch für den kühnsten Optimismus keine dem dichterischen Rang Mandelstams entsprechende Würdigung darstellen.
In seinem Heimatland mögen die Handabschriften seiner Werke unglaubliche Dunkelziffern erlangt haben – editorisch bleibt Ossip Mandelstam ein Dichter des Exils. Beredter Ausdruck für diesen Umstand ist die dreibändige New Yorker Ausgabe (1967–1971), die bisher beste Annäherung an eine Mandelstam-Gesamtausgabe, wobei die letztere Bezeichnung von vorneherein dazu verurteilt ist, Utopie zu beschildern. Seit 1981, seit dem Erscheinen eines Ergänzungsbandes in Paris, kann immerhin gesagt werden, die meisten und wichtigsten Texte Mandelstams seien nun veröffentlicht – was allerdings Verluste nicht ungeschehen und wie auch immer geringe Lücken nicht weniger bedauerlich macht.
In der westlichen Kritik besteht heute kein Zweifel mehr darüber, daß Ossip Mandelstam als einer der bedeutendsten russischen Dichter überhaupt zu gelten hat. Nicht wenige Kenner der russischen Literatur betrachten ihn als den größten russischen Lyriker dieses Jahrhunderts.46 Seit den sechziger Jahren – und ab dem Beginn der siebziger Jahre mit dem unverkennbaren Auftrieb durch die Veröffentlichung der Memoiren Nadeschda Mandelstams, der Witwe des Dichters – ist in zahlreichen Aufsätzen und einigen umfänglicheren Untersuchungen von Spezialisten die Entdeckung der Fülle dieses Werkes an die Hand genommen worden.47 Mandelstam ist allmählich jedoch eine nicht nur von Exilrussen, Slawisten und Russisten gehegte Erscheinung, und auch ein des Russischen unkundiger, literarisch interessierter deutscher Leser kann auf eine Anzahl von Übersetzungen zurückgreifen.48

Nicht nur das Werk eines außergewöhnlichen Dichters gilt es zu würdigen – auch seine Epoche, sein Hintergrund darf für sich Beachtung fordern. Ob man die vier zwischen 1892 und 1932 liegenden Jahrzehnte der russischen Dichtung als silbernes Zeitalter, als Renaissance oder gar als zweites goldenes Zeitalter nach der Plejade um Alexander Puschkin (1799–1837) bezeichnen will49 – zumindest im Westen unbestritten ist die Tatsache, daß diese Epoche begünstigter Moment, Zeit der Vielfalt und des Reichtums, eine Periode besten künstlerischen Gedeihens war. Die Umwandlung der ästhetischen Normen und literarischen Ausdrucksformen, eine Wiedergeburt der Dichtung nach der von der Prosa beherrschten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war in Rußland ab 1892 im Gange. Das neue Bewußtsein des dichterischen Wortes wurde von der Lektüre Ibsens, Strindbergs und Nietzsches begleitet, beeinflußt von der Aufnahme des französischen wie europäischen Symbolismus, von der Offenbarung, welche die Namen Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und Paul Verlaine trug.50
Mit dem Symbolismus vermochte sich der russische Modernismus nicht zu erschöpfen: die nach-symbolistischen Strömungen (Akmeismus, Futurismus, Imaginismus usw.) fügen sich, als Erben des russischen Symbolismus in einem weiteren Sinne, ganz organisch in die silberne Epoche ein, die erst 1932 mit der Gleichschaltung des literarischen Schaffens in der Sowjetunion und 1934 mit dem Absolutheitsanspruch der Doktrin des sozialistischen Realismus ihr Ende fand.
Der Reichtum dieser Periode der russischen Literatur ist weit davon entfernt, gänzlich ausgelotet und erforscht zu sein – und so wird dieser Zeitabschnitt die Ära der ungehobenen Schätze, die Ära der möglichen Überraschungen bleiben. Als Überraschung der sechziger Jahre darf man auch den Akmeismus und seine Hauptvertreter Nikolaj Gumilev, Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam bezeichnen, deren Wiederentdeckung noch immer andauert. Was bedeutet Akmeismus? Der Name leitet sich vom griechischen akmā ab (Spitze, Höhepunkt, Blüte, Reife) und bezeichnet eine literarische Gruppierung in der Nachfolge des russischen Symbolismus, der sich um 1910 erschöpft hatte.51 In Petersburg gründete Nikolaj Gumilev 1911 die Dichtergilde, eine Gesprächsrunde jüngerer Dichter, aus der 1912 der Akmeismus hervorging. Der Jenseitsbezogenheit der zweiten Symbolistengeneration, ihren religiösen Spekulationen (Theosophie, Okkultismus), einer mystisch-entrückten Dichtung und dem Denken in Symbolen und Analogien hielten die Akmeisten ihr Programm entgegen: Rückkehr zum Irdischen, Organischen, zum konkreten, plastisch-dreidimensionalen Gegenstand, Rückkehr zum Prinzip der Identität, zur kunstvollen Genauigkeit des Handwerks und zu apollinischer Klarheit – sowie nicht zuletzt zu einer Bejahung dieser Welt, als der einzigen, die dem Menschen und Dichter zugänglich sei. 1913 erschienen in der Petersurger Kunstzeitschrift Apollon zwei Manifeste zur Verkündung dieses Programms. Als Autoren zeichneten Nikolaj Gumilev und Serge  Gorodeckij. Ossip Mandelstams Manifest „Der Morgen des Akmeismus“ – gedanklich schärfer, origineller und dichter als die Texte seiner älteren Kollegen – wurde aus unbekannten Grünen erst 1919 gedruckt, ist aber zweifellos 1912 oder 1913 Umkreis der Manifeste von Gumilev und Gorodeckij entstanden.52
In der Überwindung des Symbolismus hatten die Akmeisten, die sich auf Vorläufer und Verbündete in der weltliterarischen Tradition beriefen, von Anfang an eine bedeutende, sich weitaus radikaler gebärdende Konkurrenz: die Gruppe der Futuristen (Velimir Chlebnikov, Vladimir Majakovskij u.a.) pflegte den kulturrevolutionären Gestus, verfocht den Neubeginn beim Nullpunkt und fegte erst einmal die gesamte Tradition von Bord des Schiffes der Gegenwart.53 Über der Frage, wer denn die wahren Überwinder des Symbolismus seien, die Akmeisten oder die Futuristen, ist schon früh ein Streit entbrannt, der noch heute in der Debatte um den Ehrentitel Avantgarde – wem er nach welchen Gesichtspunkten zu verleihen oder strikte nicht zu verleihen sei – fortlebt.54 Der Disput um Titel und Ehren darf nicht vergessen lassen, daß ein Dichter von Format ohnehin dazu neigt, dazu neigen muß, den engen Rahmen von Manifestwortlaut und Schuldoktrin zu sprengen. So haben denn die beiden wichtigsten Akmeisten, zwei so verschiedene Dichter wie Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam, auch wenn sie sich immer zum Akmeismus bekannt haben, die ursprüngliche Bewegung entwickelt, bereichert – und im besten Sinne verformt, indem sie ihr eine stark persönliche Prägung zu geben vermochten. „
Das Weltgefühl ist indessen für den Künstler nur Werkzeug und Mittel, wie etwa der Hammer in den Händen des Maurers, und das einzig Reale ist das Werk selbst“, hält Mandelstam im „Morgen des Akmeismus“ fest. (II, S. 320) Auch wenn dieser Akmeist in seinem Werk, sei es durch die Form seines Verses oder seines Gedichtes, bewußt auf das Erbe der russischen Klassiker Deržavin, Batjuškov und Puschkin zurückgreift, wird er – angesichts der Kühnheit und Modernität seiner Bildsprache – nicht selten als Avantgardist betrachtet.55 Mandelstams Bildsprache vermochte schon die Zeitgenossen zu verwirren: 1921 nannte Viktor Žirmunskij Mandelstam einen „großartigen Phantasten sprachlicher Bilder“, verschiedene Kritiker versuchten die Nähe des bedeutendsten Akmeisten zum Futurismus zu zeigen und selbst Boris Pasternak soll 1932 nach einer Lesung bewundernd zu Mandelstam gesagt haben, er sei ein „neuer Chlebnikov“56 – Chlebnikov (1885–1922) war unbestritten die überragende Figur des russischen Futurismus gewesen. Die Urteile der verblüfften Zeitgenossen sind nur ein Indiz dafür, wie sehr Mandelstam in seinem Werk die Grenzen von Symbolismus, Akmeismus und Futurismus sprengt und diese Strömungen zu einer neuen Synthese führt – so daß gerade er die moderne russische Dichtung des silbernen Zeitalters würdig zu vertreten vermag. 

Ein bestimmender Zug der Epoche zwischen 1892 und 1932 liegt darin, daß sie sich – und dies betrifft Dichtung, Malerei wie Musik – nicht im Nationalen isolierte, sondern bei aller Respektierung des unverkennbar Eigenen das Über-Nationale, Verbindende, den Dialog mit Westeuropa suchte. Die Moderne des 20. Jahrhunderts ist in der Intensität des Gesprächs zwischen Rußland und Westeuropa entstanden. Die Gleichschaltung des künstlerischen Schaffens in der Sowjetunion des Jahres 1932 bedeutete auch und vor allem: erneute Isolation, Abtrennung von Europa, Tilgung einer künstlerischen Suche, die bereits reichste Früchte getragen hatte. Wenn gleich zu Beginn dieser EINFÜHRUNG die Zugehörigkeit Mandelstams zur russischen Dichtung betont wurde, so geschah dies gerade nicht mit dem Ziel einer Eingrenzung ins Nationale, sondern vielmehr vorausnehmend zur Bekräftigung des Gedankens, daß eine Nationalliteratur gerade dort künstlerische Höhepunkte zu erlangen vermag, wo sie sich am wenigsten isoliert, wo sie am offensten ist für Dialog und Einfluß – das goldene Zeitalter der Generation Alexander Puschkins und die von Experiment und Neuerung geprägte Epoche von Symbolismus, Akmeismus und Futurismus mitsamt ihren Erben sind dafür nur die lohnendsten Beispiele.
Im Werk Ossip Mandelstams ist die Bereitschaft zum Dialog besonders augenfällig: der Leser nimmt eine Reise durch die Kulte und Kulturen wahr, die in der europäischen und in einer utopischen einen Weltkultur aufgehoben sind. Den jüdischen, christlichen, hellenistischen, klassisch-römischen und italienischen Mythen, Themen, Motiven und Bildern in Mandelstams Dichtung ist bereits Beachtung geschenkt worden.57 Die vorliegenden Seiten sind ein Versuch, die Bedeutung der französischen Kultur für das Werk Mandelstams zu erschließen. Dieses Interesse steht somit gewiß nicht isoliert und erratisch da, sondern fügt sich in ein Ganzes – doch läßt sich gerade an ihm die Beziehung Mandelstams zu einer „fremden“ Kultur neu beleuchten und lesbar machen: die französischen Werke haben Mandelstam während seiner ganzen dichterischen Tätigkeit begleitet – Zeugnisse werden sich aus allen von diesem Dichter gewählten literarischen Genres und aus sämtlichen Schaffensperioden beibringen lassen.
Es war bereits bekannt, daß der russische Symbolismus von französischen Dichtern fruchtbare Impulse empfangen hat58 – hier nun läßt sich unter anderen Dingen zeigen, daß die französische Literatur auch im nachsymbolistischen russischen Modernismus, auch nach 1910 ihre Wirkung entfaltet hat. Mandelstam ist ein nicht zu unterschätzendes Glied im Kulturdialog zwischen Moskau und Paris in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts – einem besonders ertragreichen Austausch zwischen privilegierten Partnern, durch den die Moderne des 20. Jahrhunderts wesentlich mitgestaltet worden ist.59
Darüber hinaus steht Mandelstams Werk hier auch in einem allgemeineren Sinne als Modellfall der Komparatistik – es läßt alle Formen literarischer Wirkung sehen, alle Arten der Kontaktnahme von Werken über die Grenzen der Nationalliteraturen hinweg: von der Übersetzung und Nachahmung bis hin zur Reminiszenz, vom sich unmittelbar öffnenden bis zum verschlüsselten Zitat.
Die Suche nach den literarischen Quellen und Dialogpartnern eines Dichters, der Versuch einer Ergründung seiner Genealogie, wird von Mandelstam selber legitimiert. In seinem Essay „Der Dachsbau“, einer Würdigung Alexander Bloks zu dessen erstem Todestag am 7. August 1922, heißt es:

Die Bestimmung der literarischen Genesis eines Dichters, seiner literarischen Quellen, seiner Verwandtschaft und Herkunft führt uns unverzüglich auf festen Boden. Auf die Frage, was der Dichter sagen wollte, darf ein Kritiker allenfalls auch nicht antworten, auf die Frage jedoch, woher er kam, ist er zu antworten verpflichtet… (II, S. 207f.)

Seien wir strenger als Mandelstam: die Beantwortung der Frage nach dem Ursprung wäre zu einem nicht unbedeutenden Teil ihres Sinnes beraubt, bemühte sie sich nicht zugleich um das Sein des Dichters, um das Was? seiner dichterischen Botschaft. Diesem doppelten Anspruch zu genügen, sollen beide Hauptteile des vorliegenden Essays bestrebt sein, die Konzentration auf Mandelstams französische Genealogie wie auch eine einleitende Skizze der Zusammenhänge von Poetik und Kultur in seiner Dichtung.

Ralph Dutli, Vorwort

Ein Schlußwort 

Dichtung unterscheidet sich gerade dadurch von einer automatischen Rede, daß sie uns weckt und aufrüttelt in der Mitte des Wortes. Dann erweist dieses sich als weitaus länger, als wir gedacht haben, und wir erinnern uns, daß Sprechen bedeutet – immer unterwegs zu sein.
Mandelstam: „Gespräch über Dante“

Daß es möglich ist, zugleich ein bedeutender russischer und ein europäischer Dichter zu sein, hat bereits im neunzehnten Jahrhundert Alexander Puschkin (1799–1837) in aller Fülle erwiesen. Das eine wird das andere nie ausschließen können. Ossip Mandelstam als europäischen Dichter zu zeigen, war auf den vorliegenden Seiten eines der bestimmenden Anliegen. Daß dieser Russe einem europäischen Denken verpflichtet war, könnte noch, falls nicht alles hier Versammelte dies getan hätte, ein Aufsatz belegen, der erst vor wenigen Wochen – der Überraschungen ist kein Ende – nach langem Verschollensein wiederaufgetaucht ist. Er trägt den Titel „Menschenweizen“ und stammt aus dem Jahre 1922:

Jegliche Nationalidee ist im gegenwärtigen Europa zur Nichtigkeit verurteilt, solange sich dieses Europa nicht als ein Ganzes gefunden hat und sich als eine sittliche Persönlichkeit empfindet. Außerhalb des gemeinsamen, gleichsam auf eine Mutter bezogenen europäischen Bewußtseins ist keinerlei kleinere Völkerschaft möglich. Der Ausweg aus dem nationalen Zerfall (…) hinzu einer universalen Einigkeit, zu einer internationalen Vereinigung, führt über eine Wiedergeburt des europäischen Bewußtseins, über die Wiedereinsetzung des Europäismus in unserer großen Völkerschaft.60

Keinen Augenblick lang habe Oswald Spenglers Theorie vom Untergang des Abendlandes Mandelstam zu betören vermocht, hält Nadeschda Mandelstam in ihren Erinnerungen fest.61 Europa ist für diesen Russen ein der Erneuerung fähiger Organismus, nicht das überkommene und Veraltete, sondern – Aufgabe, notwendiges Ziel einer modernen Gemeinschaft.
Die unerschrockene Antwort Mandelstams auf die Frage, was denn Akmeismus sei, die ihm 1933 provokativ gestellt wurde, als durch die Gleichschaltung der sowjetischen Literatur auch der Dialog mit Westeuropa bereits unterbunden war und das silberne Zeitalter der russischen Dichtung sein Ende gefunden hatte, ist Signal und Manifest: Akmeismus sei Sehnsucht nach Weltkultur (S. 19). Dies ist ganz im Sinne Goethes zu verstehen, als Verlangen des Menschen nach einem freien geistigen Handelsverkehr62 zwischen den Literaturen und den Kulturen, die sie verkörpern:

Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.63

Der neu erzwungenen, vom Staate diktierten Isolation der russischen Literatur hielt Mandelstam auch in den dreißiger Jahren noch beharrlich seine Poetik entgegen, seinen von Anfang an bekundeten Willen, in der Dichtung die Grenzen des Nationalen einstürzen zu lassen. (S. 34f.)
Am Ursprung der Poetik Mandelstams liegt das Prinzip der Reise, der Wunsch, sich dem Fremden auszusetzen und es anzunehmen, durch das Fremde hindurch ins Eigene und Wesentliche zu gelangen, bis Fremdes und Eigenes nicht mehr zu trennen sind. Dieses Prinzip der Reise ist für Mandelstam in den Körper des Menschen eingeschrieben durch die Zirkulation des Blutes, das in seiner Salzigkeit den Menschen organisch mit der Weite des Ozeans verbindet. Hier sein Gedanke zu jener Rede des Odysseus, die sich im XXVI. Gesang von Dantes Inferno befindet:

Dies ist ein Gesang über die Zusammensetzung des menschlichen Blutes, in dem das Salz des Ozeans enthalten ist. Das Prinzip der Reise liegt im System der Blutgefäße begründet. Das Blut ist planetarisch, solar, salzig… (II, S. 388)

In einem Brief von 1931, wo Mandelstam vom Wesen seines Buches Die Reise nach Armenien spricht, ist diese Notwendigkeit als unumstößlich festgehalten: Man muß immer reisen, und nicht nur nach Armenien und Tadschikistan (III, S. 169).64 Sein Prosatext führt darauf im Überfluß vor, was dieser Orakelsatz meint: was alles Reise werden kann, wie viele Reisen in der einen aufgehoben sind. Der Satz ist ein Plädoyer für Neugier, Interesse, intellektuelle Leidenschaft (seine Formulierung). Goethe und Dante sind Reisen. Die Kapuzinerkresse, die als Pflanze für Mandelstam Klang bedeutet, wie er in der Reise nach Armenien festhält, und jene Koschenillelaus, aus der man den roten Farbstoff gewinnt, sind nicht weniger bedeutsame Reisen als Monet und Cézanne, Gluck und Mozart. Musik, Malerei, Biologie und Dichtung gehen auf in der einen Kunst, der Reisekunst. Und Wortkunst, die Dichtung, wird im Gespräch über Dante als ein Unterwegssein im Worte erklärt (vgl. den Denkspruch zu diesem Schlußwort).
Wenn der Russe Mandelstam im vorliegenden Essay auf einer Reise gezeigt wurde, die über die Grenzen einer Nationalliteratur hinausgeht, hinauszugehen gewillt ist, konnte es sich in keinem Augenblick darum handeln, ihn einer Abhängigkeit zu überführen, ihm eine Bevormundung durch westeuropäische Dichter nachzuweisen. Des Flaschenpostlesers und providentiellen Gesprächspartners (S. 41) Bereitschaft zum Dialog mit seinen französischen Dichterfreunden aus allen Epochen, mit Villon, Racine, Chénier, Barbier, Verlaine und anderen, benimmt ihm nicht seine Eigenständigkeit und Originalität, sondern steigert diese nur, erweist ihre Fülle und ihre Weite. Die Dynamik dieses Dialoges, die Bedeutsamkeit der schöpferischen Anverwandlung für Mandelstam kann nicht genug betont werden.

Das beste Genie ist das, welches alles in sich aufnimmt, sich alles zuzueignen weiß, ohne daß es der eigentlichen Grundbestimmung, demjenigen was man Charakter nennt, im mindesten Eintrag tue, vielmehr solches noch erst recht erhebe und durchaus nach Möglichkeit befähige

– schreibt Goethe am 17. März 1832 an Humboldt.65 In der französischen Tradition haben Montaigne, Chénier und Gide unermüdlich auf den Reichtum dessen hingewiesen, der sich dem Einfluß nicht entzieht, der das Fremde zwar als Gültiges annimmt, dessen Endgültigkeit jedoch als Verarmung empfände. André Gide in seiner Apologie des Einflusses:

In seinem Verkehr mit den Autoren der Antike vergleicht sich Montaigne mit den Bienen, die „einmal hier und einmal dort die Blumen plündern“, doch darauf den Honig herstellen, „der ganz der ihre ist“ – dies sei nicht mehr, so sagt er, „Thymian noch Majoran“. – Nein: es ist Montaigne, umso besser.66

Und Mandelstam selber begibt sich in die Tradition eines solchen Denkens, wenn er den unmittelbaren Vorläufer und Lehrmeister der Akmeisten, Innokentij Annenskij (1856–1909), mit den Worten ehrt:

… Innokentij Annenskij war bereits ein Beispiel dessen, was der organische (= akmeistische; RD) Dichter zu sein hat: ganz Schiff, das aus fremden Bohlen gefügt ist, doch eine völlig eigene Gestalt hat. (III, S. 34)

Noch in diesem Bild greift Mandelstam einen seit der Antike wirkenden Topos auf: den Vergleich der Dichtung mit der Schiffahrt. Dichten heißt die Segel setzen.67  Mandelstam vergleicht direkt den Dichter mit einem Schiff, verleiht damit dem Topos eine ganz eigene Gestalt und setzt seine persönliche Reisethematik fort.
Der Hafen dieses Schiffes liegt nicht in einem Niemandsland. Wenn Mandelstam am 21. Januar 1937, nicht lange vor seinem Tod, in einem seiner letzten Briefe, seine unabdingbare Zugehörigkeit zur russischen Dichtung voraussagen kann (der Brief ist in der EINFÜHRUNG, auf S. 9 zitiert), so entspringt dies der Sicherheit eines Wissens: nur deshalb kann sein Werk untrennbar mit der russischen Dichtung verwachsen und deren Stamm beeinflussen und verändern, weil es in ihr verwurzelt ist. Schon 1915, als Vierundzwanzigjähriger, hatte Mandelstam in seinem Essay über den russischen Philosophen Čaadaev (1794–1856) neben der bereichernden Reise in die Kultur Westeuropas die Rückkehr nach Rußland gepriesen:

Čaadaev war der erste Russe, der wahrhaftig, mit seinen Ideen, im Westen geweilt und den Rückweg gefunden hat. (II, S. 291)

Mit dem Thema der Rückkehr kommt auch unsere Reise, unser Text zu seinem Ausgangspunkt zurück, zu jenem einzelnen Vers, der diesem Essay vorangestellt ist, da er den ganzen Mandelstam in sich trägt. Doch hier noch, im Abschluß, tritt ein Dialog Mandelstams mit einem französischen Gesprächspartner des 16. Jahrhunderts zutage, eröffnet den immer nur scheinbaren Abschluß aufs neue. Joachim Du Bellay (1522–1560), der neben Ronsard bedeutendste Dichter der französischen Plejade, hat im einunddreißigsten Sonett seiner Sammlung Les Regrets von Rom aus, wo er in diplomatischer Mission weilte und die ewige Stadt als Exil erlitt, in der Rückkehr des Odysseus alle Rückkehr besungen:

Heureux qui, comme Ulysse, a fait un beau voyage,
Ou comme cestuy la qui conquit la toison,
Et puis est retourné, plein d’usage et raison,
Vivre entre ses parents le reste de son aage!
68 

Am Schluß jenes Mandelstamgedichtes nun, das aus dem Jahre 1917 stammt, fällt nach den Bildern von der Halbinsel Krim (das alte Tauris) die Frage:

Goldenes Vlies, wo bist du, goldenes Vlies? (I, S. 64)

Genau wie bei Du Bellay ist Iason, der mit den Argonauten das goldene Widderfell aus Kolchis zurückzuholen hatte, nur in der Umschreibung gegenwärtig (qui conquit la toison – der das Vlies eroberte), nur in dieser Frage. Dann beschwören Mandelstams Verse den Moment der Rückkehr des Odysseus, den Moment, wo er sein Schiff verläßt. Bei Du Bellay war der Mann aus Ithaka voller Erfahrung und Verstand zurückgekehrt. Auch bei Mandelstam tritt er nicht unverändert auf das Ufer. Hier ist keine Rede vom Ende einer Irrfahrt – der Reisende ist durchdrungen von dem, was er gefunden hat, bereichert und erfüllt: 

Одиссей возвратился, пространством и временем полный.

Odysseus ist zurückgekehrt, voller Raum und Zeit. 

Ralph Dutli, Nachwort, Dezember 1983

 

Inhalt

EINFÜHRUNG

POETIK UND KULTUR 

– Europäische Kultur und das Prinzip der Anverwandlung
– Fremdsprache – Muttersprache
– Gesprächspartner über Raum und Zeit hinweg

 

DIALOG MIT FRANKREICH

Französische Gouvernanten, ein erstes Frankreichbild

Der Dichter als Proteusgestalt (Paul Verlaine)

– Paris 1907–1908
– Russische „Romances sans paroles“
– Über die Kinderei des Dichters
– Verlaines Verwandlungen
– „Fröhliches Elend“ – Verlaine als Figur einer Legende
– Und Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé? 

Faszination des Klassischen und modernes Bewußtsein der Gebrochenheit (Jean Racine)

– Ein Weg zum Klassizismus
– „Ich kam zu spät zur Festlichkeit Racines“
– Die Metapher der Schuld: Phädra als schwarze Sonne
„Als schwarze Kerze brennen“ – das Spätwerk und die Tragödie
– Molières Monsieur Jourdain (ein Nachtrag zur Komödie)

Modell einer Dichtkunst der Synthese und des „literarischen Zoms“ (André Chénier)

– Eine „geniale Lektüre“ Puschkins
– Der Zusammenschluß von Geist und Furie
– Hellenismus und Dichtkunst der Synthese
– Gespräch zu dritt
– Ein Modell des literarischen Zorns

Eine Revolution und ihre Erträge (Auguste Barbier)

– Das Jahr 1923
– „Dies ist die Macht“
– Die Sprache des Pflastersteins

Die Suche nach einer Prosapoetik (Mandelstam und die französischen Romanciers des „buddhistischen“ 19. Jahrhunderts)

– Kunst der Assoziation
– Die Sprengung des literarischen Genres
– Prosa als Reflexion über Prosa
– Der Roman des „buddhistischen“ 19. Jahrhunderts

Unanimismus – ein Ausweg? (Jules Romains)

– Die Aufhebung der Sezier-Perspektive
– „Ich vergaß das unnötige Ich“
– Duhamels „Ode an einige Menschen“

Lebenslange Freundschaft (François Villon, das französische Mittelalter)   

– Die Gefängnispoesie des Vagabunden Villon
– François Villon – der erste Akmeist
– Gotische Kathedrale, bezwungener Raum (Mandelstams „Dämon der Architektur“)
– „Und nur ein Gleichrangiger wird mich töten“ (Mandelstam und das altfranzösische Epos)
– Blutsfreund und Verbündeter in der Terrorzeit

Letzte Gespräche

– „Als riefe man mich bei meinem Namen“ (Mandelstam und die Maler des Impressionismus)
– Abschied von Frankreich

Ein Schlußwort

ANMERKUNGEN

LITERATURVERZEICHNIS   

I. Texte Ossip Mandelstams   

II. Literatur über Mandelstam   

III. Varia   

POSTSCRIPTUM   

Ossip Mandelstam: FRANÇOIS VILLON (1910/1913)   

NAMENREGISTER

 

 

Über dieses Buch

Kultur sei „ein Tontopf, eine Ofengabel, ein Krug mit Milch, auch die Wärme eines Herdes und jegliche Kleidung, die über jemandes Schulter gelegt wird“, heißt es im Werk eines der bedeutendsten Dichter dieses Jahrhunderts. Der in der Stalin-Epoche in einem Lager umgekommene russische Lyriker Ossip Mandelstam (1891–1938) hat zeit seines Lebens Kultur nicht als Bildungsvehikel und Museumsgut verstanden, sondern als das warme, zweckvolle Gerät, mit dem der Mensch sich umgebe und dessen er sich frei und schöpferisch bediene. Mandelstams ganzes Werk ist Dialog, ein Gespräch über zeitliche und nationale Grenzen hinweg, mit Freunden und Vorläufern aus vergangenen Jahrhunderten und rn.it seinen Lesern.
Ralph Dutli spürt in seinem Essay diesen Dialogen nach, Mandelstams Gespräch mit der europäischen, insbesondere der französischen Kultur, seinen Flaschenpost-Autoren vom Mittelalter bis in die Moderne – mit der archaischen Welt des Rolandsepos aus dem 11. Jahrhundert, mit Francois Villon, dem Poeten und Vagabunden des 15. Jahrhunderts, mit dem musikalischen Dichter Paul Verlaine und anderen mehr. Das Buch enthält bisher unveröffentlichte Gedichtübertragungen Ralph Dutlis und im Anhang die deutsche Erstübertragung von Ossip Mandelstams Aufsatz über François Villon von 1913.
Ralph Dutlis Essay über Ossip Mandelstam ist eine anregende, leichtverständliche Einführung in das Werk des großen russischen Dichters.

Fischer Taschenbuch Verlag, 1990

 

 

Frank Diamand: Die Jahrhunderte umgeben mich mit Feuer. Osip Mandelstam, 1976.

 

Joseph Brodsky spricht über Mandelstam.

 

Zum 70. Todestag von Ossip Mandelstam:

Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019

Fakten und Vermutungen zu Ossip Mandelstam + Dichterstimmen+
KLfGIMDb + Internet Archive 1 & 2 + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.

 

Johann-Heinrich-Voß-Preis 2006 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für Ralph Dutli mit der Laudatio von Jochen-Ulrich Peters, der Dankrede von Ralph Dutli und dem Urkundentext.

Preis der LiteraTour Nord 2014 für Ralph Dutli mit der Laudatio von Martin Rector und der Dankrede von Ralph Dutli.

Deutscher Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung zur Pflege der Reinheit der deutschen Sprache. Dankesrede von Ralph Dutli: Die unreine Poesie

Fakten und Vermutungen zum Autor
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Antrittsrede + Johann-Heinrich-Voß-Preis
Porträtgalerie: Autorenarchiv Susanne Schleyer + Keystone-SDA +
Autorenarchiv Isolde Ohlbaum

 

Ralph Dutli liest aus dem Buch Fatrasien.

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