René Depestre: Aus dem Tagebuch eines Meerestieres

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von René Depestre: Aus dem Tagebuch eines Meerestieres

Depestre/Stürmer-Alex-Aus dem Tagebuch eines Meerestieres

CHRISTUS ANTWORTET MARILYN MONROE
Für Ernesto Cardenal

Herr,
wer immer es auch war, den sie anrufen wollte
und den sie nicht erreichte (und vielleicht war es
niemand
oder jemand, dessen Nummer nicht im
Telefonbuch von Los Angeles steht)
antworte, Du, ihrem Anruf!

(Ernesto Cardenal: „Gebet für Marilyn Monroe“)
– Hallo! Hallo! Ich möchte
Den Menschensohn sprechen!
– Hallo, ja! Am Apparat, ich höre!
– Herr, mein Name
Sagt Ihnen gewiß nichts: Ich bin Marilyn Monroe,
Filmschauspielerin, hören Sie mich?
– Ja, Madame, ich höre!
– Herr, Sie sind
Mein letzter Regisseur,
Mein letzter Fotograf,
Der letzte Dichter meiner Schönheit.
Geben Sie mir eine Rolle in irgendeinem
Ihrer Filme, die Sie im Himmel drehen.
Haben Sie Mitleid mit mir!
– Madame, Madame!
– Hallo! Hören Sie mich?
Ich sagte: Sie sind
Meine letzte Kamera:
Sehen Sie mich so, wie ich wirklich bin
Nackt und bloß zu Ihren erbarmungsvollen Füßen!
Sie kennen meine Geschichte, nicht wahr?
– Oh, nun ja, Ihre Geschichte, Madame
Gewiß, ich kenne sie…
– Ist wenig von Belang, ob Sie sich darum scherten.
Hier steh ich vor Ihnen. Ich selber weiß nicht, ob
Ich ernstlich existiere oder auf der Leinwand
Irgendeine Marilyn Monroe sich bewegen sehe.
Sie, der alles sieht, helfen Sie, daß ich mich
Wiedererkenne unter den hunderten Gesichtern meiner selbst,
Die in der Nacht der Welt kursieren!
– Wer sind Sie, Marilyn Monroe?
– Auch Sie stellen diese rituelle Frage
Die im Fernsehen mir tausendmal gestellte
Dabei ich jedesmal ein anderes Weib war.
Ich bin alle meine Rollen und deren keine.
Darum suche ich mein wahres Schicksal
In einem Film, den nur Sie zu drehen vermögen.
Ein jeder schuf mich nach seiner Laune
Ungeachtet mein Vergangen, meine Kindheit.
Jeder trägt in seinem Kopf eine Marilyn
Brühwarm sie dem gefräßigen Publikum zu servieren!
Niemand erahnte eine Marilyn
Mit einem Bürgerkrieg in ihrem Herzen!
Sie hören? Ich langweile, stimmts?
– Keineswegs. Sprechen Sie weiter, Miss Monroe!
– Eines Tages entdeckte einer
Daß in meinen Brüsten Brüste tausendfach erwachten
Daß tausend Beine in meinen Beinen schreiten
Und tausend Schenkel in meinen Schenkeln ansetzen
Zur Erstürmung der besten Gefilde des Lebens.
Da wurde ich nackt der Leinwand ausgeliefert
Wurde in meiner entleert und ausgestreut
In Tausenden von Kopien auf den Markt.
Und über Jahre hin wie eine Irre
Lief ich vergeblich hinterdrein einem kleinen Mädchen
Das vergewaltigt worden, das seinen Anfang genommen
In einem Provinzgeschäft mit
Der Berufung in seiner Brust zu großem Dichten
Und das von Männerarm zu Männerarm gereicht
Letztendlich landete in einem Studio
In Hollywood, wo es ein für allemal
Eingemauert wurde in einen glasierten Mythos
Fern seinem Blut, das zu Höhenflügen geboren,
Vereint mit den großen Schwingen der Schönheit!
Nun, Herr, nach der Psychoanalyse,
Den großen Reisen, den Drogen, den Tranquillizern,
den Verheiratungen, den Safaris und den Whiskyskandalen
Nach den Pressekonferenzen, den extravaganten
Hotelrechnungen, den Aktfotos
In den Magazinen, den traurigen Bettgängen zu Viert
Oder zu Siebent und anderen weibtötenden Frivolitäten
Suche ich jetzt, o Herr, einzig
Friedvolle Abende ohne Schminke
Ohne Fernsehprogramme
Ohne anderes Kino als die armen
Bilder meiner Schönheit besiegt auf Ihren Knien!
Madame, Ihre Worte eines verlorenen Sterns
Rühren mich in tiefster Seele,
Was ich Ihnen zu sagen habe, es mag Sie
Sehr verletzen, doch ist es die einzige
Mir unter den Ruinen meines Himmels verbliebene Wahrheit:
Ich ebenfalls trug durch die Jahrhunderte
Unsäglichen Hunger nach Liebe und Zärtlichkeit in mir
Stattdessen versah die Welt
Auch mich mit einer großen Bühnenrolle.
Meine Religion der Liebe in diesem Feuerjahrhundert
Sie ist eine Superproduktion ohne Ende
Und meine Tempel es sind Tausende von Studios
Wo die Zinsen der einstigen dreißig Silberlinge
In den Händen Tausender 20th Century-Fox
Zu aber Millionen Dollar sich sammelten dank
Den Aktien auf das Petroleum, das Kupfer
Die Baumwolle, den Bauxit, das Zinn, den Kaffee
Und auf die unschuldigen Mädchen
Die das Pech haben, so zu sein wie Sie, Madame
Eine Mine im Tagebau, gerichtet auf das unsäglich
Dürstende Blut der Menschen!
Ich bin, gezeugt durch das fließende Sperma CHRIST & CO
Ich bin Großaktionär von Gesellschaften.
Ich besitze Bergwerke, Banken, Plantagen und Rohrzuckerfabriken
Und langher schon kehrte sich die gerühmte
Peitsche, mit der ich die Händler aus dem Tempel
Vertrieb, zornwütig gegen den nackten Rücken
Der Bauern und der Arbeiter aller Länder!
Heut bewach ich die Höhle der Diebe.
Ich bin deren einer, die Ihnen raubten
Die Kindheit und die kleinen Geheimnisse
Die auf sanften Hügeln Sie teilten
Mit den Blumen und den Schmetterlingen.
Und später raubt ich Ihnen Ihre Jungfernschaft
Und die übrigen Legenden der Jugend
Und später Ihre Küsse einer jungen Frau
Und diesen gellenden Schrei Ihres Herzinnern
Das nach dem Sonnenfeuer eines Kindes rief!
Ich bin der Regisseur
Des phantastischsten Kinos der Geschichte:
Ich bin ein Langfilm voll weitgespannter
Pläne des Kaufs und Verkaufs von Grundbesitz
Von parzelliertem Land selbst auf dem Mond!
Ich bin der blutige Gott der Monopole!
Meine zarten Arme eines Jordanflusses
Die so oft treidelten die Schiffe der Dichter,
Sie schlagen jetzt zu mit dem Degen
Und mit Nuklearraketen
Und mit den modernsten Waffen
Der Lüge und der Heuchelei,
Jetzt, da ich mir setze
Auf die Knie eine junge Frau
Die vom Leben so arg getreten
Anstatt ihr die Tränen zu trocknen mit
Dem süßen Schwamm des Erbarmens
Ziele ich meine Bugspitze auf die Seide
Die pulsend von ihrem Körper singt
Dran mein Blut sich in schönen Handlungen ergeht…
Hallo! Hallo! Legen Sie nicht auf!
Hallo! Ich bin nicht am Ende! Hallo
Legen Sie nicht auf, Marilyn Monroe!

 

 

 

Nachwort

Im Aquarium des großen Zoo
schwimmt die Karibische See.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDies Tier
– Meeresbewohner und rätselvoll –
hat eine Krone aus Kristallen
sein Schwanz ist grün, der Rücken blau
der Bau aus kompakten Korallen
die Wirbelsturmflossen sind grau.
Im Aquarium hängt diese Inschrift hier:
„Vorsicht! Bissiges Tier.“

Nicolás Guillén, „Karibische See“

René Depestre ist ein Dichter französischer Sprache aus Haiti. Der Gegensatz von Sprache und Herkunft ist das Stigma seines Werkes. Wie Paul Eluard will Depestre „ein Dichter auf der Straße“ sein. Wie Aimé Césaire, wie Jacques Stéphen Alexis lebt Depestre von den Wurzeln seiner afrikanischen Herkunft. Aber was heißt das für einen Schwarzen aus der Inselwelt der Antillen. Alexis, von der Geheimpolizei des Diktators Duvalier 1965 ermordet, sagte einmal von sich:

Als Neger, Lateinamerikaner und Haitianer bis ins Mark bin ich bekanntlich das Produkt mehrerer Rassen und Zivilisationen. Vor allem aber bin ich ein Sohn Afrikas und bin zugleich der Erbe der Karibik und des amerikanischen Indianers, dank einer geheimen Wanderschaft des Blutes und des langen Überlebens der Kulturen nach ihrem Verfall. Auf die gleiche Weise bin ich zum gut Teil ein Erbe des alten Europa, Spaniens und vor allem Frankreichs… Das Denken und Fühlen Frankreichs ist mir nahe… Frankreich hat mir so viel gegeben, daß ich mich verpflichtet fühle, ihm das wenige, was ich anzubieten habe zu schenken…

René Depestre steht in der Tradition seines zu früh verstorbenen Freundes Jacques Stéphen Alexis. Sein lyrisches Werk befindet sich bis heute in einer ständigen Metamorphose. Hervorgegangen aus einer militanten Négritude, wird es zu einer solidarischen Weltdichtung im Sinne Eluards, der 1946 schrieb:

Das Wort Dichter ist heute gleichbedeutend mit dem Wort Bruder… Unsere Träume gehen mitten im Leben vor sich. Die Dichtung ist Aktion geworden… Man hat der Dichtung mißtraut, aber sie hat bewiesen, daß sie eins ist mit der Liebe zur Freiheit. Sie wird morgen für alle Menschen eins sein mit der Liebe zum Leben.

Auf der Suche nach seiner Identität entdeckt der junge Dépestre eine in den Farben schwarz und weiß geteilte Welt, in der er ein Fremder ist. Wer aber wollte heute eine afro-amerikanische Kultur in Frage stellen? Spätestens seit unserer Kenntnis vom Jazz erliegen wir alle ihrer Faszination. Schlagworte wie Negrismo oder Négritude beschäftigen internationale Konferenzen. Dabei erzeugt die versuchte Definition dieser Begriffe keineswegs die Harmonie, die aus dem aufklärenden Wort kommt, eher zuweilen Aggressivität auf der einen, schlechtes Gewissen auf der anderen Seite. Denn der Beitrag des weißen Mannes ist schuldbeladen, seit man im Neuen Indien mit der Ausrottung der schwachen, an Kolibri und Orchidee erinnernden indianischen Ureinwohner den Sklavenhandel begann, jenen vom Profit diktierten Holocaust der Jahrhunderte nach Columbus. Schwarzes Erz nennt René Depestre die Negersklaven, die nun die Arbeit der toten Indianer verrichten müssen. Was die so unterschiedlichen Völker Afrikas nach Amerika bringen, Sprachen, Sitten, Religionen, Tänze, wird eingeschmolzen in der Geste des Hasses, der Abwehr. Aber seltsam, die Widersprüche der Négritude erlauben keine einseitige Optik. Alexis wie Depestre, die beide die Literatur ihres Landes so glänzend vertreten, fühlen sich als Erbe einer Kultur, die im Geben und Nehmen entstanden ist. Die Befreiung, die sich in der Kulturwelt der Antillen noch vor den Dekreten der Französischen Revolution ankündigt, ist im Spott, im Gelächter, in der karikierenden Imitation enthalten. Einmal im Jahr, zum Karneval, vermischten sich auf Kuba oder Haiti die Rassen- und Klassensphären. Die Mode, jene Krinolinen und Sonnenschirme, maskierte und verbarg Schwarz und Weiß. Die Rhetorik des Sagens und Gebietens, nicht zuletzt das Überredungsritual der Kirchen, tauchte bei den Schwarzen verfremdet auf, in der Übertreibung, der Verdrehung der Sätze und in einer Wortalchimie, die verborgene Sprengsätze enthielt und zum Vokabular von Geheimsekten wurde. Diese doppelwertige Sprache ist bis heute dem Jazz geblieben, auch wenn die geheime Rebellion sich vermarktete. Guilléns frühe Gedichte auf Tänzerinnen und Boxer enthalten bei aller Bewunderung eine Spur des Bedauerns, wenn sich schwarze Schönheit und Stärke für Dollars verkauft. Depestre gibt ein Beispiel dieser bedrohenden Zaubersprache in den spöttischen Zeilen auf den Diktator von Haiti, Papa Doc. Die Zauberkulte des Voudou, die Depestre einmal mit dem Surrealismus verglichen hat, verleihen ihre subversiven Kräfte an die schwarze Dichtkunst. Die zumeist im Exil entstandenen Gedichte Depestres verleugnen diese Herkunft nicht, sie sind leicht zu lesen und weiterzusagen – auch in einem Land wie Haiti, das nach neueren Statistiken 77 Prozent Analphabeten aufweist.
Haiti, das René Depestre 1946 verläßt, um ins Exil zu gehen, scheint ein von der Welt vergessenes Land zu sein, irgendwo im Archipel der karibischen Inselwelt. Bestenfalls eine Kulisse grauenhafter Absurdität, geeignet für die wunderbaren Kolportageromane eines Graham Greene. Columbus hatte die Insel auf seiner ersten Reise am 6. Dezember 1492 entdeckt und Hispaniola getauft, der Ähnlichkeit mit Spanien wegen. Die Spanier glaubten einen Teil vom irdischen Paradies entdeckt zu haben, wo die Menschen schön und friedlich waren, die Winde mild wie im April in Kastilien, die Gewässer fischreich, die Felder bis hoch in die Berge bebaut. Zehn Jahre später ist die Insel eine Folterhölle, die Einwohner (etwa eine Million) sterben dahin, von Hunden gehetzt, verbrannt und erschlagen. Das Gesuch des spanischen Paters Las Casas, Negersklaven einzuführen, wird von Karl V. gebilligt, und das erste Schiff mit menschlicher Beute landet im Jahre 1505. Im 17. Jahrhundert bietet die gebirgige Insel französischen Seeräubern Schutz. Frankreich annektiert 1697 den Westteil der Insel. Von nun an deckt Saint Domingue, wie die Franzosen die Insel nennen, über zwei Drittel des französischen Kolonialhandels. Zuckerrohr, Kaffee, Baumwolle, Indigo machen die französischen Pflanzer und Händler reich. Im Revolutionsjahr 1789 beherrschen 50.000 Siedler 500.000 Negersklaven. Der Sklavenhandel floriert weiter, solange die Todesfälle auf der Insel die Geburtenrate übertreffen. Unvorstellbare Grausamkeiten sind an der Tagesordnung. 1790 kommt es zum Aufstand der Mulatten gegen die „Grands Blancs“, die reichen Pflanzer. Ein Jahr später führt der ehemalige Kutscher und Aufseher Toussaint Louverture eine Revolutionsarmee an. In Paris beschließt der Nationalkonvent die Aufhebung der Sklaverei. Toussaint geht einen Schritt weiter, er beseitigt den feudalen Großgrundbesitz und will die Vereinigung mit der unter spanischer Herrschaft verbliebenen Inselhälfte, der heutigen Dominikanischen Republik. Als Napoleon an die Macht kommt, wird Toussaint verhaftet und nach Frankreich deportiert, wo er elend in einem ungeheizten Kerker des französischen Juragebirges stirbt. Sein Nachfolger im Kampf gegen die Franzosen, Dessalines, erklärt am 1. Januar 1804 die Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie, die sich nun zur Erinnerung an die Ureinwohner Haiti nennt (indianisch „Bergland“). Dessalines wird zum Generalgouverneur auf Lebenszeit ernannt und wenig später ermordet. Die schwarze Republik reproduziert die Widersprüche aus der Kolonialzeit, Mulatten und Schwarze kämpfen um die Vorherrschaft. Im Süden entsteht eine Mulattenrepublik, die den Unabhängigkeitskampf Simón Bolívars in Lateinamerika unterstützt. Im Norden entsteht ein operettenhaftes Königreich, das von einer goldenen Kugel beendet wird, mit der sich der Monarch aus Angst vor einem Putschversuch erschießt.

Seitdem ist die Geschichte von Haiti eine Kette von Staatsstreichen und Machtkämpfen zwischen den Eliten der Schwarzen und Mulatten, die auf dem Rücken der armen Landbevölkerung ausgetragen wurden. Deren Elend hat sich in den 175 Jahren seit der Unabhängigkeit stetig vergrößert: heute gehört Haiti zu den sogenannten Habenichtsen der Dritten Welt, mit der höchsten Analphabetenrate, der größten Kindersterblichkeit und der niedrigsten Lebenserwartung des Kontinents. Die „zweitälteste Republik der Neuen Welt“ ist heute das Armenhaus Amerikas. (H.C. Buch)

Von 1915 bis 1934 fällt Haiti in die Hände der nordamerikanischen Monopole. Präsident Roosevelt schreibt dem Land eigenhändig eine neue Verfassung. Mit der Gründung der kommunistischen Partei (1934), den ersten Streiks und Studentenunruhen beginnt in Haiti eine neue Form des Unabhängigkeitskampfes. 1957 geht aus sogenannten freien Wahlen der Landarzt Duvalier (Papa Doc) als Sieger hervor. Er entrechtet die linke wie die rechte Opposition, entmachtet die Armee und ersetzt sie durch die berüchtigten Tontons Macoutes (wörtlich „Onkel Menschenfresser“). Der Voudou-Kult wird zu einer Staatsreligion erhoben. 1971 wird Duvaliers Sohn Jean-Claude (Baby Doc) mit 19 Jahren zum Präsidenten auf Lebenszeit ernannt. Die Nachbarschaft des sozialistischen Kuba genügt, damit die USA auch dieses korrupte System unterstützen und am Leben erhalten.
Die Geschichte Haitis wird zum Stenogramm im lyrischen Werk Depestres, zur Formel einer ständigen Beunruhigung, die eine private Äußerung des Dichters sogleich zum Thema einer allgemeinen Betroffenheit macht. In dem frühen Gedicht, „Ich hier Bürger der Antillen“, notiert der neunzehnjährige René Depestre sein Programm:

Ich frag das Vergangene
entstelle was gegenwärtig
bekränze was sein wird
Sonne atmet mein ganzes Sein!

René Depestre wird am 29. August 1926 in der kleinen Hafenstadt Jacmel, im Südwesten Haitis geboren. Sein Vater, ein Apothekergehilfe, stirbt 1936 und hinterläßt fünf Kinder. Das Paradies der Kindheit, von Depestre in Gedichten und Erzählungen immer wieder beschworen, ist ein Paradies der Armut. Die Singer-Nähmaschine eine Gottheit, der mit unermüdlicher Arbeit geopfert wird. Der Zehnjährige wird im Haus der Großmutter aufgenommen und von ihr erzogen. Die später im Exil aufbrechende „Suche nach der verlorenen Zeit“ verwandelt diese Jahre im Lichte der tropischen Landschaft, des gewaltigen Meeres, der Himmel voller drohender Zyklone. An dieser Verwandlungskunst Depestres, die an die surrealistische Methode eines Breton erinnert, ist die Emblematik eines religiösen Kults beteiligt, des Voudou. Denn mit den Sklaven waren die Götter aus Afrika gekommen, die noch heute die Namen ihrer Herkunftsländer tragen: Kongo, Ibo, Wangol (Angola). Der Voudou-Kult ruft diese von den christlichen Heiligen verdrängten Götter auf die Erde zurück, sie nehmen Besitz von den in Trance versetzten Tänzern, sie reden aus ihrem Munde in den alten afrikanischen Sprachen, und sie befreien sie aus ihrer gegenwärtigen Gestalt und somit aus ihrem Sklavendasein.
Für die französischen Pflanzer in Haiti hatten diese, immer wieder vergeblich verfolgten Kult-Handlungen etwas Bedrohliches. Die im Voudou-Kult eintretende sprachliche Entfremdung schien der Beginn einer tödlichen Magie zu sein, so als könne das Wort töten. Aber auch die revolutionären Anführer wie Toussaint und Dessalines verdammten den Kult ihrer schwarzen Brüder. Auch wenn die Priester den Kämpfern versicherten, daß sie im Tode zum Leben in Afrika zurückkehren würden, so sah Toussaint mit den Augen der Aufklärung auf einen religiösen Aberglauben herab, der jeden Realitätssinn lähmte. Und genau dieser Rauschzustand des Voudou ist es, der den Diktator Duvalier bewog, den Voudou-Kult in Haiti zur Staatsreligion zu erklären. Für Depestre ist die magische Seite des Voudou ein faszinierender Ansatz, das dichterische Wort zu verwandeln, ihm die beschwörende Gefährlichkeit zu geben – wie in seinem Gedicht gegen den menschenfressenden Diktator Papa-Doc.
1945 erscheint in der Hauptstadt Haitis, Port-au-Prince. Depestres erster Gedichtband Etincelles (Funken). Der junge Dichter wird über Nacht berühmt und bekannt mit den namhaften Dichtern Haitis, allen voran Jacques Stéphen Alexis. Aimé Césaire, der namhafte Dichter aus Martinique, nennt den jungen Depestre „einen Fluß der Hoffnung, der das Erdreich und die Arbeit des Menschen bewässert“. Zusammen mit Alexis, Baker und Bloncourt gründet Depestre die Wochenschrift La Ruche (Der Bienenkorb). Depestres Universitäten sind die Bücher. André Breton, der „Wortführer des Surrealismus“, beeindruckt ihn durch seine anti-bürgerliche Haltung, den Spott auf die kulturellen Werte der großen Nation. Was in Frankreich den Bürger schrecken sollte, wird von Depestre zum Problem der eigenen Rasse, Die Négritude, dieses Schlagwort einer schwarzen Kultur, wird von Depestre dichterisch erklärt im Selbstbewußtsein der eigenen Schönheit und in der Abwehr gegen die „weiße Kultur“. Ein spätes Echo findet sich noch in jenem Abrechnungskatalog mit der weißen Kultur:

Nieder Einstein und sein Mozart!

Im toleranten Paris der Nachkriegsjahre, wo Depestre ein paar Semester politische Wissenschaften und Literatur an der Sorbonne belegt, fällt diese Haltung ins Leere. In Paris aber lernt Depestre die Wortführer der Négritude kennen, die sich vor allem um die Zeitschrift Présence Africaine scharen. Frankreich, das seine Kolonien in Algerien und Zentralafrika nicht in die Selbständigkeit entlassen will, ist empfindlich für jede politische Manifestation seiner exotischen Kinder. Depestre wird ausgewiesen und geht für ein paar Jahre nach Prag. Hier lernt er Neruda, Amado, Ehrenburg kennen. Amado wie Neruda sind reifer als er; der Riß, der durch die Welt geht, ist für sie der zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Farbschattierungen haben da längst ihre historische Relevanz verloren. 1951 kommt Depestre nach Berlin, wo er als Gast der Weltfestspiele ein Gedicht vorträgt und einen Preis gewinnt – „Verabredet mit dem Leben“. Aber das Exil dauert an. Das vorrevolutionäre Kuba weist ihn aus. Frankreich erklärt ihn zum unerwünschten Ausländer. Nach einer Reise durch Argentinien läßt sich Depestre für zwei Jahre in Brasilien nieder, wo er eine Zeitlang der Sekretär Jorge Amados wird. Womit beschäftigt er sich? Einer der führenden Mitarbeiter von Présence Africaine, Frantz Fanon, veröffentlicht in diesen Jahren ein Buch zum Thema der Négritude: Die Verdammten dieser Erde. Es ist eine Abrechnung mit Politik und Ideologie der weißen Kolonialvölker und zugleich eine Ermunterung, den Kampf für mehr Gerechtigkeit über die Rassengrenzen hinweg fortzusetzen.
Jean-Paul Sartre, der 1965 in seiner Zeitschrift Les Temps Modernes Gedichte von Depestre abdruckte, hatte Fanons Buch mit Zustimmung begrüßt. Jene Aufbruchstimmung Rimbauds, „Europas blasse Strände zu verlassen“, wird bei Fanon zu einem Aufruf an seine Rassenbrüder:

Verlieren wir keine Zeit mit sterilen Litaneien oder ekelhafter Nachäfferei. Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft… Ganze Jahrhunderte lang… hat es im Namen eines angeblichen ,geistigen Abenteuers‘ fast die gesamte Menschheit erstickt.

Und Sartre folgert:

Ein ehemaliger Eingeborener ,französischer Zunge‘ biegt diese Sprache zu neuen Forderungen um, benutzt sie und wendet sich nur an die Kolonisierten: „Eingeborene aller unterentwickelten Länder, vereinigt euch!“ Was für ein Abstieg! Für die Väter waren wir die einzigen Gesprächspartner; die Söhne finden nicht einmal, daß sich ein Gespräch mit uns lohne: wir sind nur noch die Gegenstände der Rede.

Es spricht für Depestres Sensibilität, daß er in seinem Werk bei diesem Programm Fanans nicht stehengeblieben ist. 1958 kehrt er nach mehr als elf Jahren Exil nach Haiti zurück. Papa Doc versucht den weitgereisten Intellektuellen für sich zu gewinnen. Depestre weigert sich und organisiert den geheimen Widerstand gegen die Diktatur. Schon einmal hatte er in seiner Jugend im Gefängnis gesessen, nun aber ist sein Leben bedroht, und er geht, um dem Schicksal seines Freundes Alexis zu entkommen, abermals ins Exil. Nach dem Sieg der kubanischen Revolution lebt Depestre für viele Jahre „wie ein Kubaner“ in Havanna. Er unterrichtet an der Universität. Übersetzt Guillén und andere kubanische Dichter, kämpft 1961 in der Revolutionsarmee und beteiligt sich an der Zuckerrohrernte. Frucht dieser Jahre ist der 1976 erscheinende Band Dichter in Kuba. Seine Themen haben die Grenzen der Négritude verlassen. Das Paradies der Kindheit muß nun wiedererobert werden, und sei es mit Hilfe des „Genossen Eros“. Der Dichter wird empfindlich gegen alle Kräfte, die uns aus diesen Paradiesen der Menschheit vertreiben wollen. Seine Gedichte begleiten die tagespolitische Aufklärung. Ein Dank an Kuba, das Depestre 1979 verläßt, ist seine Kantate auf Ernesto Che Guevara.
Depestre aber ist ein Dichter französischer Sprache. Wie im Werk Stendhals soll auch seine Dichtung die Zukunft tragen. Und wie für Paul Eluard, den er in Paris kennengelernt hatte, soll Dichtung ein Bündnis mit dem Menschen sein, Ausdruck unserer Befreiung.
In Paris arbeitet Depestre für die UNESCO. 1979 erscheint sein erster Roman Der Schlaraffenbaum (VVW 1982). Sein Erzählungsband Alléluia pour une femme-jardin (1982) erhalt den angesehenen Preis Bourse Goncourt de la nouvelle.
Die vorliegende Auswahl der Gedichte René Depestres mag sich dem Leser wie eine Fortsetzung jener späten Novellen von Anna Seghers, den Drei Frauen aus Haiti, anbieten. Das Segel, das Schiff, beides von Depestre bevorzugte Metaphern, sind die Elemente einer dichterischen Phantasie, die uns die getrennten Hemisphären unserer Welt nahebringen.

Fritz Rudolf Fries, Nachwort, Juni 1985

 

René Depestre

Als Mackandal, der haitianische Voudoupriester und Rebell, 1758 öffentlich hingerichtet worden war, glaubten die Leute aus dem Volk nicht an seinen Tod. Für sie wurde er Baum und Strauch, Bär und Schildkröte, die Kraft der Winde und des Meeres, lebte weiter in Göttern und Menschen als wehrhafter Bruder des Künftigen. Die magische Beschwörung menschlicher Wandlung und Verwandlung, die in der heidnischen Wunderwelt der haitianischen Kosmogonie wurzelt, bestimmt den Reiz und die Originalität der Dichtungen René Depestres. In der Nähe surrealistischer Poesie eines Breton und Eluard stehend, hebt er die sinnliche Exotik der Bilder aus dem „Garten der Kindheit“ ins Moderne und verleiht uns, dem europäischen Leser, die Flügel seiner grenzenlosen Phantasie.

Dichter ist man
wenn man Füße hat
um pausenlos zu übermitteln
die guten Nachrichten
von der Zärtlichkeit.

René Depestre wurde am 29. August 1926 in der kleinen Hafenstadt Jacmel im Südwesten Haitis geboren. 1946 gründete er gemeinsam mit dem bekannten Romancier Jacques Stéphen Alexis die Zeitschrift La Ruche und nahm am Aufstand der Jugend teil, der zum Sturz der Diktatur von Elie Lescot führte. Mit seinen Gedichtbänden Etincelles (1945) und Gerbe de sang (1946), die in Haiti erschienen, wurde er in seinem Land berühmt. Seitdem schreibt Depestre, ein entschiedener Gegner der blutigen Diktatur Duvaliers, aus dem Exil. Paris, Prag, Sao Paulo, Havanna waren die wichtigsten Stationen. Heute lebt er als Mitarbeiter der UNESCO in Paris. Neben der Lyrik entstanden Erzählungen, der Roman Le mât de cocagne (1979, dt. Der Schlaraffenbaum, VVW 1982) und Essays zur karibischen Kultur und Literatur. Mit dem vorliegenden Band Aus dem Tagebuch eines Meerestieres wird das dichterische Schaffen René Depestres in einer repräsentativen Auswahl erstmalig im deutschen Sprachraum vorgestellt.

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1986

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
Porträtgalerie: Keystone-SDA

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