Thorsten Krämer: Zu Ernst Stadlers Gedicht „Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Ernst Stadlers Gedicht „Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht“ aus Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung. −

 

 

 

 

ERNST STADLER 

Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht

Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang.
Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang,
Darein zuweilen Förderstellen blauen Lichtes jähe Horizonte reißen: Feuerkreis
Von Kugellampen, Dächern, Schloten, dampfend, strömend… nur sekundenweis…
Und wieder alles schwarz. Als führen wir ins Eingeweid der Nacht zur Schicht.
Nun taumeln Lichter her… verirrt, trostlos vereinsamt… mehr… und sammeln sich… und werden dicht.
Gerippe grauer Häuserfronten liegen bloß, im Zwielicht bleichend, tot – etwas muß kommen… o, ich fühl es schwer
Im Hirn. Eine Beklemmung singt im Blut. Dann dröhnt der Boden plötzlich wie ein Meer:
Wir fliegen, aufgehoben, königlich durch nachtentrissne Luft, hoch übern Strom. O Biegung der Millionen Lichter, stumme Wacht,
Vor deren blitzender Parade schwer die Wasser abwärts rollen. Endloses Spalier, zum Gruß gestellt bei Nacht!
Wie Fackeln stürmend! Freudiges! Salut von Schiffen über blauer See! Bestirntes Fest!
Wimmelnd, mit hellen Augen hingedrängt! Bis wo die Stadt mit letzten Häusern ihren Gast entläßt.
Und dann die langen Einsamkeiten. Nackte Ufer. Stille. Nacht. Besinnung. Einkehr. Kommunion. Und Glut und Drang
Zum Letzten, Segnenden. Zum Zeugungsfest. Zur Wollust. Zum Gebet. Zum Meer. Zum Untergang.

 

Tralala

1
1924 veröffentlicht der ungarische Arzt und Psychoanalytiker Sándor Ferenczi seinen Versuch einer Genitaltheorie, in dem er es unternimmt, Denkfiguren der Psychoanalyse auf die biologische Evolution zu übertragen. Ein einigermaßen abstruses Unterfangen, wie der folgende Auszug zeigt: 

Wir brauchen nur anzunehmen, daß bei den höheren Wirbeltieren (Reptilien, Vögeln, Säugern) die plazentale Kiemenatmung auf die Embryonalzeit beschränkt ist, so haben wir eine fortlaufende Entwicklungsreihe vom Fisch über das Amphibium bis zum Menschen, in der die Strebung nach der See-Existenz niemals voll aufgegeben wird, wenn sie auch bei den letzteren auf die Entwicklungszeit im Mutterleibe reduziert ist. Wir müßten nur noch hinzufügen, daß dieser thalassale Regressionszug auch nach dem Geborenwerden nicht rastet und in den Äußerungen der Erotik (insbesondere der Begattung), sowie, wie wir ergänzend bemerken und noch des weiteren ausführen wollen, in den Schlafzuständen sich kundgibt.

Dennoch hat dieses Werk, oder besser: eine Formulierung daraus, ein prominentes Echo gefunden, dessen Ursprung bei Ferenczi vor einigen Jahren der Germanist Wolfgang Riedel aufgedeckt hat: Den „thalassalen Regressionszug“ verkürzt Gottfried Benn zur „thalassalen Regression“ und beschließt damit sein Gedicht „Regressiv“; er kreiert damit ein Schlagwort, das einem auch angesichts der letzten Verse von Ernst Stadlers Gedicht in den Sinn kommen mag.
Das Meer bildet gleichermaßen den Zielpunkt von Fahrt und Text, der sich somit als teleologischer entpuppt. Die titelgebende Brücke? Bloße Durchgangsstation, wie überhaupt die ersten drei Viertel des Gedichtes. Ein bißchen Budenzauber, „Minengang und Eingeweid“, das lyrische Ich ahnt selber schon, daß es darum nicht gehen kann: Etwas muß kommen. Vielleicht wirkt deshalb der größte Teil dieses Textes so beliebig, ein bißchen hilflos auch im inflationären Einsatz von Auslassungs- und Ausrufezeichen, fast wie Expressionismus von der Stange? Sogar der Boden dröhnt plötzlich „wie ein Meer“, ausgerechnet der Boden, der doch der Antagonist des Meeres ist, und über diesem Dröhnen zerfällt auch der Text, bis erst am Ende deutlich wird, daß es von Anfang an eben nur um dieses Ende gegangen ist. Ein Ende, das man sich endgültiger nicht vorstellen kann, denn in ihm ist alles enthalten: „Zeugungsfest“, „Wollust“, „Kommunion“, „Untergang“, „Gebet“ – you name it. Ein Ende ist falsch – es ist das Ende, das totale Ende. Die Erlösungs- wird zur Zerstörungsphantasie, und umgekehrt.
Erfreulich ist das alles nicht. Mit dem Abstand eines Jahrhunderts kann man dieses Gedicht für den Ausdruck eines zum Totalitären driftenden Zeitgeistes halten, ohne deshalb den Autor als Proto-Nazi zu diffamieren. Indem Stadler im Gedicht vorführt, wie sehr ein solches aufs Totale gerichtete Denken auf Abschluß und Ausschluß zielt, ermöglicht er den Lesenden eine Distanz dazu, ob diese nun intendiert ist oder nicht. Die Regression wird als solche kenntlich, und Benn und die Nachgeborenen können sich später ihren Spaß mit ihr erlauben. 

2
„Und was riefen die Griechen, als sie endlich das Meer sahen? Tralala, tralala? Nein! Θάλαττα, θάλαττα!“ So die berühmteste Stelle aus Xenophons Anabasis in der launigen Darstellung meines Griechischlehrers am Gymnasium. Pennälerhumor. Gibt es den heute noch? Wenn man von den frühen Toden der Generation der expressionistischen Dichter spricht, dann zumeist wegen der Tragik, die darin liegt. Seltener kommt in den Blick, daß dies allesamt junge Männer waren, die noch kaum Gelegenheit gehabt hatten, ihre schulische Prägung hinter sich zu lassen. Ernst Stadler ist eine Ausnahme, er hatte bereits die Seiten gewechselt und unterrichtete selbst an der Universität, als er als Reserveoffizier eingezogen wurde.
Oder ist dies sogar die trostlosere Variante: vom gymnasialen Habitus der Jahrhundertwende so nahtlos zum professoralen zu wechseln? Der Bildungsernst der Institutionen produziert immer auch eine spezifische Form der Albernheit, die nicht als Korrektiv, sondern als Komplement fungiert. Einige seiner dichtenden Zeitgenossen, etwa Alfred Lichtenstein, haben diese Albernheit in ihren Texten erfolgreich ins Groteske überführt; bei Stadler jedoch bleibt sie ausgeblendet, was leider immer etwas beschränkt wirkt. Denn wo der Ernst den Unernst meidet, da er ihn für seinen Widersacher hält, kippt Pathos schnell ins unfreiwillig Komische, schlimmstenfalls ins Lächerliche. Das Verhältnis von Ernst und Unernst ist nicht antagonistisch, sondern symbiotisch; auch das kann man anhand der expressionistischen Dichtung sehr gut studieren.

3
„Anabasis“ ist auch der Titel eines Gedichts von Paul Celan aus der 1963 veröffentlichten Sammlung Die Niemandsrose. Alain Badiou widmet diesem Text in seinem Buch Das Jahrhundert eine längere Passage, da er im letzten Wort des Gedichtes, „Mitsammen“, einen Schlüsselbegriff für eine Form der Gemeinschaft sieht, die an die Stelle des totalitären Gemeinschaftsbegriffes treten könnte, der das 20. Jahrhundert mit so fatalen Folgen geprägt hat:

Bei Celan steht das ,Wir‘ nicht unter dem Ideal des ,Ich‘, weil, als winziger Appell, die Differenz in ihm enthalten ist. Das ,Wir‘ ist aleatorisch mit einer Anabasis verbunden, die außerhalb jedes präexistenten Wegs jenem ,Mitsammen‘ zustrebt, das noch die Alterität enthält.

Die Zugfahrt ist das Paradebeispiel eines präexistenten Wegs: Das am Boden fixierte Gleis legt fest, wohin es geht. Auch die Züge werden unterschieden anhand ihres Bestimmungsortes, den sie fast wie einen Namen tragen. Kein Wunder also, daß Stadler mit dem Zug unterwegs ist auf seiner Reise in den Untergang. Für Differenz bietet dieser, in seiner wollüstigen Auslöschung aller Gegensätze, keinen Platz.
Die Alterität, von der Badiou, Celan auslegend, spricht, sie findet sich indes an anderer Stelle, nämlich in der Idee der Anthologie. So wie „Mitsammen“ im Gedicht als „Zeitwort“ bezeichnet wird, läßt sich auch die Anthologie als ein Zelt verstehen, mit allen nomadischen Konnotationen: Sie bietet den Dichtern (es sind bis auf Else Lasker-Schüler tatsächlich nur Männer in der Menschheitsdämmerung vertreten) eine temporäre Unterkunft. Dabei spielt es keine Rolle, wohin es im Anschluß weitergeht, oder wo die Reise angetreten wurde – es geht allein um die Anwesenheit an diesem Wegpunkt, in diesem Moment. Wenn die Anthologie in diesem Sinne verstanden wird und nicht als formende Sammlung, Kohorten bildend, bloße Exekutive einer Programmatik, dann kann sie das leisten, was dem einzelnen Gedicht nur sehr schwer gelingen kann: der Alterität einen Raum zu geben, ohne sie zu vereinnahmen. 

4
Seit einigen Jahren hat sich die Hohenzollernbrücke, über die Stadlers nächtliche Fahrt höchstwahrscheinlich führt, zu einer Art partizipativer Sehenswürdigkeit entwickelt: Pärchen aus aller Welt bekunden ihre Liebe, indem sie ein Vorhängeschloß an der Brücke befestigen. Geschätzt 150.000 solcher so genannter ,Liebesschlösser‘ hängen mittlerweile zu beiden Seiten an den Zäunen, mit denen die Schienen von den Fußgängerwegen getrennt werden. Ein 40 Tonnen schweres Monument der Monogamie. Wo Stadler immerhin noch „Wollust“ und „Untergang“ am Horizont sah, verstellt nun Biederkeit den Blick. Und nicht Celans „Mitsammen“, sondern „Zweisamkeit“ ist hier im wahrsten Sinn das Schlüsselwort, dem auch die „Äußerungen der Erotik (insbesondere der Begattung)“ untergeordnet werden. So hat jede Zeit ihre eigene Form der Regression. 

Thorsten Krämer, Schreibheft, Nr. 92, Februar 2019

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