Ulla Hahn: Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Genazzano“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Genazzano“ aus Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke in Sieben Bänden. Band V: Die Gedichte. –

 

 

 

 

MARIE LUISE KASCHNITZ

Genazzano

Genazzano am Abend
Winterlich
Gläsernes Klappern
Der Eselshufe
Steilauf die Bergstadt.
Hier stand ich am Brunnen
Hier wusch ich mein Brauthemd
Hier wusch ich mein Totenhemd.
Mein Gesicht lag weiß
Im schwarzen Wasser
Im wehenden Laub der Platanen.
Meine Hände waren
Zwei Klumpen Eis
Fünf Zapfen an jeder
Die klirrten.

 

 

Spiel des Lebens, Spiel der Deutung

Gedichte der Kaschnitz neigen bisweilen zum Spruchhaften, zur Selbstentschlüsselung, wobei die letzte Zeile dem Leser dann nicht selten den Dietrich fast gewaltsam in die Hand drückt. So etwa in „Torre San Lorenzo“, das in der Sammlung Neue Gedichte dem hier gewählten vorausgeht: Nach Bildern von Mond und Meer heißt es:

Alles äonenlang
Nur wir vergehen.

Nicht so in „Genazzano“. Hier vertraut die Dichterin ganz auf die Kraft der Bilder. Bilder, die ohne ihre geliebten Adjektive auskommen: golden, marmorn, magisch, bleich. Gefährliches Schmieröl der Poesie.
Ortsangaben als Titel finden sich in der Lyrik der Kaschnitz häufig. Genazzano, ein Dorf von fünftausend Seelen etwa fünfzig Kilometer südlich von Rom, muß man nicht kennen. Nach wenigen Worten haben wir ein romanisches Bergstädtchen vor Augen; beinah nature morte, wäre da nicht das Klappern der Eselshufe. In der winterlich starren Stadt ist Bewegung, wenn auch nur hörbar und nur von einem Tier, das dem Menschen dient. Kein Lachen, kein Rufen, keine Stimmen. Die Skizze kommt in den ersten fünf Versen ohne Verben aus; sie würden den Ort in der Zeit verankern, doch er liegt außerhalb von ihr.
In der Zeit hingegen lebt das Lyrische Ich. Dreimal wird der Gegensatz beschworen zwischen dem zeitlosen Ort, dem dauernden „ Hier“, und dem zeitverfallenen Ich, das um seine Vergänglichkeit weiß. Es steht nicht, es „stand“ am Brunnen und „wusch“. Nicht „Hier“ und jetzt, sondern „Hier“ und einst. Das alterslose Dorf, das gealterte Ich. Zeile sechs und sieben halten die Stimmung der Erinnerung in der Schwebe. Noch könnten „Brunnen“ und „Brauthemd“ heitere Bilder auslösen, wehmütigen Rückblick. Doch dies macht die nächste Zeile zunichte:

Hier wusch ich mein Totenhemd.

Aus der Zeitlosigkeit in die Vergangenheit versetzt, gerät der Leser in die Verstörung. Aus welcher Zeit spricht dieses Ich? Wo ist eine Gegenwart? Ist das Ich auch aus der Zeit gefallen? Tot? Die folgenden Zeilen lassen beide Deutungen offen: das Lyrische Ich als Erinnerndes; das lyrische Ich als Wiedergängerin. Die Bilder sind so gehalten, daß sie auf eine Tote so gut wie auf eine waschende Frau zutreffen können. Das Gesicht kann ein Spiegelbild sein oder wirklich „weiß / Im schwarzen Wasser“ liegen. „Im wehenden Laub der Platanen“ zeigt sich Natur in ihrer Vergänglichkeit. Doch „wehend“ ist auch die immerwährende Bewegung des Windes, äußerster Gegensatz zu dem dann folgenden Schlußbild.
Anders als der Entwurf des Orts in den Eingangszeilen ist dieses letzte Bild Vergangenheit: Die „Hände waren / Zwei Klumpen Eis“, eine umgangssprachliche Metapher, unheimlich erst durch ihre Weiterführung: fünf Finger werden zu „fünf Zapfen“, die „klirrten.“ Wer dächte da nicht an Hölderlin, wer hörte nicht sein „Weh mir“ bis an den Brunnen in den Zeilen von „Genazzano“. Doch wo bei Hölderlin „klirren die Fahnen“ sind es hier vereiste Finger, die ein Geräusch erzeugen, ähnlich dem Klappern der Eselshufe. Anders als in Hölderlins späten Versen aus den „Nachtgesängen“ ist das Leben hier nicht abgestorben. Eis kann wieder in Bewegung geraten, Wasser werden, in den Kreislauf des Lebens zurückkehren.
Die Erstarrung ist zeitweilig, Leblosigkeit vorübergehend, das Lebendige wartet. Denn das Lyrische Ich hat die Zeit der Vereisung überwunden, es spricht als Wiedergeborenes. Wiedergeboren in „Genazzano am Abend“, in die Zeitlosigkeit, wo das „Klirren“ aufgeht im „gläsernen Klappern“. Der einzelne vergeht, aber der Tod ist kein Ende, sondern ein Wendepunkt, eine Station. Das Spiel des Lebens zwischen „Brauthemd“ und „Totenhemd“ kann aufs neue beginnen, der Kette des Seins ein weiteres Glied hinzugefügt werden.
„Den Werdegang eines gelungenen Gedichts zu erklären… ist schlechthin unmöglich“, schreibt der Dichter Peter Huchel in seinem Nachwort zu den Versen der Kaschnitz, sein Gelingen bleibe „Geheimnis“. Daß „Genazzano“, jedem Versuch seiner „Entschlüsselung“ zum Trotz, dieses „Geheimnis“ zu wahren weiß, macht seine verstörende Eindringlichkeit aus, die zu immer neuen Deutungen herausfordert. Ganz im Sinne der Dichterin:

Das gedruckte Gedicht, die gedruckte Geschichte sind Freiwild, sie gehören mir nicht mehr, und jeder kann sie sich auslegen, wie er will.

Das Spiel des Lebens, das Spiel der Deutung, wir müssen uns hineinbegeben, nur so halten wir uns und die Dichtung lebendig.

Ulla Hahnaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002

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