Albert von Schirnding: Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Nicht mutig“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Marie Luise Kaschnitz’ Gedicht „Nicht mutig“ aus Marie Luise Kaschnitz: Kein Zauberspruch. 

 

 

 

 

MARIE LUISE KASCHNITZ

Nicht mutig

Die Mutigen wissen
Daß sie nicht auferstehen
Daß kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Daß sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Daß nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig

 

 

Macht der Mutlosigkeit

Sieben Verneinungen, die gegen die Artikel des christlichen Credos gerichtet sind, soweit sie die Auferstehung der Toten betreffen. Ein Siebengesang des Todes im Sinne des „Es kommt nichts nachher“. Das Gedicht findet sich in dem zwei Jahre vor dem Tod der Kaschnitz erschienenen Band Kein Zauberspruch (1972), wo es hinter einem Theodor W. Adorno nachgerufenen Vers steht. Mit „Nicht mutig“ wagt sich die Dichterin weit hinaus auf das Terrain eines aufgeklärten Wissens von der Unhaltbarkeit der Glaubensverheißung, die dem Karfreitag einen Ostersonntag folgen läßt.
Im Licht naturwissenschaftlicher Erkenntnis ist der Verlust des geliebten Mannes, dem Marie Luise Kaschnitz in ihrem Band Dein Schweigen – meine Stimme (1961) ein lyrisches Requiem ohnegleichen widmete, endgültig. Die christliche Auferstehungshoffnung erweist sich angesichts physikalischer und biologischer Forschungsergebnisse als illusionär. Sie fanden in der Botschaft, die der französische Nobelpreisträger Jacques Monod in seinem 1970 erschienenen Buch Zufall und Notwendigkeit verkündete, ihren schonungslos zusammenfassenden Ausdruck:

Der Mensch weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

„Die Mutigen wissen…“: Hier klingt das ehrwürdige „Sapere aude!“ an. Die Antworten der modernen Naturwissenschaft auf die alten Menschheitsfragen, ob sie uns in Schwarze Löcher und Milliarden von Galaxien oder in das nicht weniger unheimliche Universum unseres Genoms und Gehirns blicken läßt, konfrontierten uns mit bestürzenden, unseren Wünschen und Werten zuwiderlaufenden Tatsachen. Also braucht es Mut, ihnen ins Auge (hätten sie nur eines!) zu sehen.
Auffällig ist die Umkehrung des traditionellen Motivs der Befreiung von der Angst durch Aufklärung. Eigentlich müßte die Vorstellung von Höllenstrafen, wie sie kein Dichter grausamer geschildert hat als Dante, quälende Furcht erregen. Bei Marie Luise Kaschnitz gehört jedoch die „Folter“ (ergänze: der Hölle) mit der „Seligkeit“ (des Himmels) zusammen, weil beide ein Leben nach dem Tod voraussetzen und die Existenz einer göttlichen Gerechtigkeit anzeigen. Auf diesen Glauben, auch auf die mit ihm verbundene Angst, zu verzichten ist gerade das Mutige.
Die überraschende Pointe des Gedichts liegt in seinen beiden letzten Zeilen. In einem äußersten Lakonismus („Ich / Bin nicht mutig“), der sich als Negation der vorausgehenden Verneinungen präsentiert, wird der Inhalt der im Ton der Unwiderlegbarkeit vorgetragenen daß-Sätze aufgehoben. Das heißt freilich nicht, daß an die Stelle der zurückgewiesenen Wissens-Gewißheit auch nur die bescheidenste Glaubens-Gewißheit träte. Das Festhalten am religiösen Trost hat seinen Halt allein in der Schwäche des hier sprechenden Ichs, das auf diesen Trost nicht zu verzichten vermag: Das Wort „Ich“ steht denn auch ganz für sich in der vorletzten Zeile. Würde eine derartige Verteidigung eines christlichen Glaubensinhalts von einem Theologen in diskursiver Rede vorgetragen, könnte sie nur Achselzucken hervorrufen. Im Gedicht, dem Ort radikaler Subjektivität wird sie möglich.

Albert von Schirndingaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

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