Valzhyna Mort: Kreuzwort

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Valzhyna Mort: Kreuzwort

Mort-Kreuzwort

KREUZWORT

Eine Frau streunt durch Wacholder, Hagebutte,
zwischen ihren Beinen hübsch gefaltet eine Pussy,
ihre Brüste schick wie spitze Schuhe
glänzen still im schweren Schrank.

Eine Amsel, eine Kuh, ein Pferd.
Die See pocht gegen wasserlose Wände.
Sie geht zu einer Telefonzelle, die wartet
nicht weit von allen drei Dörfern.

Ein Spiel, das sie vielleicht im Radio hörte:
eine Frage, eine Zahl, eine Antwort, ein Preis.
Ihre Pussy reckt sich, schaltet das Licht an im Bauch.

Aus dem Regen, sagt sie in die Muschel,
brachten wir weiße Tische und Stühle unters Dach,
stapelten sie wie ein Kreuzworträtsel
und setzten uns ins Raster ein.

Im Hörer ist es still. Der Vogel zappelt
wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb.
Ihre Stimme stolpert über geschwollene Drüsen.
Der Körper, der ins letzte Kästchen passt −
aus jedem Buchstaben saug ich seinen Namen
.

Alle drei Dörfer bedecken ihre Gesichter mit Wind.

 

 

 

Nach ihrem gefeierten Band Tränenfabrik (2009)

legt die weißrussische Lyrikerin ihre erste auf Englisch verfasste Gedichtsammlung vor. Sie schreibt ihre von Hunger und Verlust gezeichnete Familiengeschichte fort. Doch stärker als früher, dringlicher, aggressiver setzt sie auf Themen wie Lust, Gewalt, Fremdheit und Einsamkeit. Mit spürbarer Freude am Bearbeiten frischer Sprachmaterie erkundet sie eine in ständiger Verwandlung begriffene Welt, deren harte, strahlende Grenze aus Licht, Wasser, Sand geformt ist. Viele Gedichte umkreisen das Wesen der Sprache, hinterfragen die Autorität jener Instanzen, die entscheiden, wer spricht und wie er das tut.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2013

 

Das Meer ist ein Ei

Wenn der Körper sich im Raum verliert, gerät auch die Welt aus den Fugen. In einem kleinen Prosastück ihres neuen Buches beschreibt Valzhyna Mort die junge Shenja, eine Frau, die an einem gestörten Raumgefühl leidet. Das Ensemble der Türrahmen, Flure und Treppenhäuser hat für Shenja schnell keine Balance mehr. Kaum verlässt sie das Zimmer, schon läuft sie gegen Pfosten und Wände, und die Welt wird ihr zu einem fremden Lebewesen, das zu zittern beginnt:

Sie greift danach, zögernd zunächst, als sähe sie nach einem schlafenden Tier, dann klopft sie energisch gegen die Luft, schlägt auf die Luft ein, um sie zu einem Knauf, einem Tisch, einer Hand, einer Form zu verfestigen.

Man muss gar nicht Valzhyna Morts zarte Ironie teilen, um sich vorzustellen, dass Shenjas Wahrnehmung der Dichtkunst ihrer Erfinderin in einem durchaus emphatischen Sinne verwandt ist. Denn die Verse der jungen Dichterin aus Weissrussland speisen sich ebenfalls aus einem veränderten Raumempfinden. Und nicht nur der Raum scheint verschoben, auch die Wörter haben eine andere Temperatur. Bisweilen gibt es hier Bilder, in denen sich Vögel auf der Bordsteinkante von Matschklumpen nicht unterscheiden lassen. Und menschlicher Schweiss kann nach einer Liebesnacht unversehens lebendig werden, kann „aus Baumwollfalten kriechen, / sich ausbreiten und vermehren / wie Küchenschaben“. Valzhyna Mort macht die Welt wieder fremd. Sie schlägt zwar nicht auf die Luft ein, aber mit ihrer Sprache formt sie die Luft zu Klängen und rhythmischen Figuren, die den Leser aus seinen vertrauten Denkmustern holen.
Nicht weniger verschlungen als das Schreiben ist ihre eigene Geschichte. Valzhyna Mort wurde 1981 in Minsk geboren und wuchs in einer russisch sprechenden Familie auf. Das Weissrussische, die in der Sowjetunion unterdrückte Volkssprache, lernte sie erst in der Schule. Es sei das musikalische Moment, hat sie einmal erzählt, das sie an dieser Sprache so anziehe, die Möglichkeit, Vokale und Silben miteinander spielen zu lassen. Gleichwohl ist ihr Verhältnis zur weissrussischen Sprache nicht ungebrochen:

diese sprache hat nicht einmal ein system.
ein gespräch mit ihr zu führen ist unmöglich –
sie schlägt einem sofort in die fresse

So hat sie es in ihrer zweiten Gedichtsammlung formuliert, die auf Deutsch 2009 unter dem Titel Tränenfabrik erschienen ist. Dort setzte sie noch ganz auf das Weissrussische. Nun kommt die englische Sprache hinzu. Seit einigen Jahren wohnt Valzhyna Mort in Washington. Und so wie sie in ihrem neuen Band Prosa und Lyrik nebeneinanderstellt, verbindet sie die Sprache ihrer Kindheit mit jener ihres gewählten Wohnorts.
Aus dieser Mischung der Sagweisen und Genres gewinnt Mort einen eigenen, einmal kindlichen, dann wieder von Reflexion durchsträhnten Ton. „Koste keine Früchte vom Familienbaum!“, heisst es an einer Stelle. Obwohl die eigene Geschichte das Bild- und Klangreservoir ihres Schreibens ist, sind die Verse und Prosastücke doch alles andere als eine blosse Schilderung der Vergangenheit. Eher schon ist es eine Verwandlung, eine Übersetzung von Landschaft und Erinnerung in sprachliche Atmosphären. Ein wenig ruhiger nun, nicht mehr so ruppig wie in Tränenfabrik, schneidet sie Szenerien, Figuren und Gedanken in bildstarken Sätzen zusammen. Und findet vor allem Körpermetaphern, die Natur und Erinnerung verschmelzen:

Das Wasser liegt so flach wie Fell, das eine Katze leckte.
Ein Vogel, der sogar von weitem gross erscheint,
glaubt, das Meer wäre sein Ei.
Er sitzt geduldig auf dem Wasser,
fühlt seine leisen Stösse dann und wann

Uljana Wolf hat in ihren Übertragungen der Lyrik den scheinbar absichtslosen Rhythmus vieler Verse gut getroffen, ebenso die zahllosen Klangspiele.
Fast noch stärker als in den Gedichten gelingt es Valzhyna Mort in ihren Prosatexten, etwas nicht nur auszusprechen, sondern es durch die Art der Anordnung zu zeigen, durch Widersprüche, Nähe und Bruchstellen. Eines der intensivsten Stücke trägt den Titel „Tante Anna“. Kindheitsbilder voller Milchkannen, Mücken und „aufgewärmten Pfannkuchen“ finden hier mit Erinnerungen an die Familie und geschichtlichen Spuren zusammen. Es sind wundersame Konstellationen, in denen die Perspektive immer wieder wechselt. Am Ende vermischt sich die Trauer um die verstorbene Grossmutter mit den Details der Landschaft, die Katharina Narbutovic, die Übersetzerin der Prosa, in ein pulsierendes Deutsch verwandelt hat, in „Heckenrosenbüsche“, „flache Fischkörperfladen“ und „Festland mit abgezogener Haut“. So macht Valzhyna Mort noch einmal deutlich, was schon in der Erzählung von Shenja spürbar war: dass allem „ein gewisser Makel, ein Druckfehler, eine kaum sichtbare Unzugänglichkeit eigen ist“.

Nico Bleutge, Neue Zürcher Zeitung, 4.5.2013

Kreuzwort

In der belarussischen Kultur gibt es keinen festen Grund, der Boden bewegt sich unter deinen Füßen und du musst immer neu die Balance finden

erzählt die aus Weißrussland stammende, heute in Washington lebende Dichterin Valzhyna Mort. Sie schrieb ursprünglich in der zu Sowjetzeiten unterdrückten Volkssprache Weißrussisch („widersprüchliches Konstrukt aus Emanzipation und Einschränkung“), weil das musikalische Moment darin sie anzog, wie sie einmal sagte. Mittlerweile ist Englisch ihre zweite Schreib-Sprache, und der in diesem Jahr erschienene Band Kreuzwort, enthält Poesie und Prosa aus beiden Sprachen. Kreuzwort, so will es das Rätselspiel, ist der Ort, an dem sich Buchstaben, die gemeinsam ein Wort bilden, einzeln kreuzen mit je identisch scheinenden Buchstaben aus anderen Worten. Das größte Rätsel ist der „Körper, der ins letzte Kästchen passt“ – vertikal wie horizontal – der mithin die Fäden und Fragen des Einzelnen, des Buchstaben-Legers, bündelt.
Erinnerungen, Mythen und alltägliche Beobachtungen – alles was Valzhyna Mort mit ihrer Sprache berührt, wird lebendig, ja es verändert mitunter seinen Aggregatszustand. Denn dort, wo es keinen festen Grund gibt, können die Wesen und Dinge in andere Schwingungen geraten, wie bei Shenja in dem gleichnamigen Prosastück, die an einem „gestörten Raumgefühl“ leidet. Kaum verlässt sie das Zimmer, wirkt „die Welt der Türrahmen, Flure, Treppenhäuser und Wege… wie ein Widerschein des Mondes in dunklem Wasser“, und über den Mond heißt es in einem Gedicht: „der Mond trägt dein Gesicht zur Probe / für den nächsten Maskenball der Toten“. Nicht alle Mort’schen Wesen sind derart düster, doch auch in dem wohl intensivsten Erinnerungsfragment des Bandes Tante Anna, über das Leben russischer Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sind die physischen Marksteine die tiefen Erlebnisse von Geburt, Kindheit und Tod.
Valzhyna Mort lässt Vögel und Blumen zu einer einzigen Spezies verschmelzen, das Licht „Schatteneier unter Büsche legen“ und den Schweiß eines Mannes aus den „Baumwollfalten kriechen, sich ausbreiten und vermehren wie Küchenschaben.“ Dank der die Webstrukturen im Original grandios nachbildenden Übersetzungen von Katharina Narbutovič (Prosa) und Uljana Wolf (Lyrik) gewinnt Morts Bildwelt auf bewegtem Grund auch für uns Gestalt.

Marie Luise Knott, perlentaucher.de, 19.12.2013

Ein Niemand sein

− Über Exile: Die weißrussische Dichterin Valzhyna Mort in Berlin. −

Seit Jahren schon lebt und lehrt die junge weißrussische Dichterin Valzhyna Mort in Washington, D.C., mittlerweile schreibt sie auch auf Englisch. Sie hat in Deutschland und in den USA Preise bekommen, der New Yorker hat Hymnen auf ihre Lyrik verfasst und das amerikanische Magazin Poets & Writers hat ihr eine Titelgeschichte gewidmet. In ihrer Heimat Weißrussland indes ist es still um sie. Als Valzhyna Mort in der vergangenen Woche ihre Antrittsvorlesung für die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Berliner Humboldt-Universität gehalten hat, ging es deshalb um ihr Lebensthema: das Exil.
Wobei Valzhyna Morts Exilbewegung vom totalitären Osten in den individualistisch-freiheitlichen Westen fast schon verspätet anmutet. Edward Snowden, der derzeit berühmteste Exilant der Welt, schreibt da vielleicht gerade die globalisiertere Emigrationsgeschichte, schließlich ist er auf der eurozentristisch aufgefächerten Weltkarte links über das Ende der Welt hinausgeflogen, um ganz rechts in Hongkong wieder rauszukommen. Derzeit hält er sich, nach allem, was man weiß, in Moskau auf, und von dort ist es nicht weit nach Minsk, wo wiederum Valzhyna Morts Reise angefangen hat. Sollte Snowden demnächst tatsächlich in Venezuela oder Nicaragua Unterschlupf finden, hätte er sie also quasi überholt.
Dass die Welt Snowdens Flucht gerade so gebannt verfolgt, als handele es sich um einen Graham-Greene-Roman, mag vielleicht auch daran liegen, dass er im Grunde nur das auslebt, was uns ohnehin allen vorbewusst jeden Tag aufs Gemüt schlägt. Denn letztlich sind wir alle Exilanten, die sich stets außerhalb eines Ideals aufhalten, das uns wahrscheinlich glücklicher machen würde.
Für Valzhyna Mort ging dieses Gefühl, Opfer einer Vertreibung zu sein, schon in der Kindheit los: Jeden Sommer wurde sie von ihrer Familie in Minsk für drei Monate zur Großmutter aufs Land geschickt, die in der Nähe des alten Familienbauernhofs lebte, der, seitdem er in der örtlichen Kolchose kollektiviert wurde, brachlag. In ihrer Familie wurde zudem Russisch gesprochen, die Sprache der kulturellen Invasoren, das Weißrussische begegnete ihr erst in der Schule.
Insofern befand sich sogar Morts Sprache im eigenen Land im Exil, denn das Weißrussische ist mit dem Russischen eher entfernt verwandt: Im Jahre 1552 hatte der mittelalterliche Drucker Francysk Skaryna mit seiner Bibelübersetzung die ruthenische Hochsprache geprägt, aus der das heutige Weißrussisch hervorgegangen ist und die bis ins späte 17. Jahrhundert die Amtssprache im Großfürstentum Litauen war, das weite Gebiete des heutigen Weißrussland umfasste. Jahrhundertelang bündelte sich das geistig-jüdische Leben, in dessen Tradition sich die 1981 geborene Valzhyna Mort sieht, in Vilnius. Allein: „Wenn ein weißrussischer Dichter heute nach Vilnius reisen möchte, braucht er ein Visum“, wie Mort in Berlin sagte. Schon der Begriff „Belarus“ sei aus dem kolonialen Narrativ im Moskau des 17. Jahrhunderts entstanden. Valzhyna Mort nannte dieses Verhältnis: „Exil deines eigenen Namens“. Minsk zu verlassen, bedeute daher für jeden weißrussischen Dichter, den verlorenen Garten Eden zu suchen. Sie sei heute eine Fremde in den USA, aber auch in ihrer Heimat sei sie eine Fremde gewesen.
„Ein Poet steht außerhalb der Gesellschaft“, so Mort, Schreiben bedeute, ein Niemand zu sein. All das hat Edward Snowden, der erste große Exilant des pazifischen Jahrhunderts, nach seinem patriotischen Sündenfall sozusagen ungefragt dazubekommen. Sein US-amerikanischer Pass ist ungültig, Snowden ist derzeit staatenlos. Er hat sich aus einem System zurückgezogen, das ihm im Tausch für sein Gewissen einen gut bezahlten Job auf Hawaii angeboten hat und versteckt sich vorläufig in der Hauptstadt jener Großmacht, vor der Valzhyna Mort nach Washington geflohen ist. Die Konstellation wirkt wie ein Gefangenenaustausch, der tatsächlich in einem Graham-Greene-Roman stattfinden könnte. Der Unterschied liegt in den Routen der Exilanten: Die Weltkarte sieht nicht mehr aus wie ein Tennisplatz, auf dem Spione, Flüchtlinge und Verräter von rechts nach links fliegen. Heute fliegen sie im Kreis, immer in Richtung Horizont.

Felix Stephan, Süddeutsche Zeitung, 9.7.2013

Lieber Syphilis als eine Identität

– Sie besitzt zwei Pässe und schreibt Gedichte in einer Sprache, die es offiziell gar nicht gibt. Valzhyna Mort ist eine der großen Hoffnungen der internationalen Lyrik. –

Die Frau zwischen den Gräbern grinst. Es riecht nach nassem Laub. Die Bänke unter den Bäumen sind feucht vom letzten Regen. Auf einem Berliner Friedhof erzählt die Dichterin Valzhyna Mort von einem Moment, der sie bis heute beschäftigt. Zwei ältere Professoren wollten ihr zeigen, wo Bertolt Brecht begraben liegt. „Auf dem Weg dorthin sagten sie zueinander: Was denkst du über dieses Grab? Und wie gefällt dir das dort? Sie verhielten sich wie Mädchen in einem Schuhgeschäft.“ Als ob sie sich unter den Toten schon fast zu Hause fühlten.
Auch Mort hat einen Friedhof als Station für einen Spaziergang gewählt. Nicht weit von der Kreuzberger Wohnung, wo sie seit Juni mit Mann und Tochter lebt. Sie ist als Siegfried-Unseld-Professorin zu Gast in Berlin. Nach Tränenfabrik von 2009 erschien bei Suhrkamp vor Kurzem ihr zweiter Gedichtband Kreuzwort. Eigentlich lebt sie in Amerika. Sie dichtet, übersetzt und lehrt als Assistenzprofessorin an der Cornell University, Ithaka. Unter Kritikern gilt sie als große Hoffnung in der Lyrik. Bereits 2008 zierte sie mit Bubikopf und wachem Blick das Cover des US-Magazins Poets & Writers.
Mort hat sich die Welt mit Worten erobert. Sie stammt aus Belarus, einem Land, das im toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung liegt. 1981 wurde sie in der Hauptstadt Minsk geboren, heute besitzt sie die belarussische und amerikanische Staatsbürgerschaft. So selbstverständlich wie zwischen Kontinenten bewegt sie sich auch durch Kreuzberg.
In ihrer Lyrik verrücken Räume, Perspektiven verschieben sich. Das Meer stürzt „wie ein Kettenhund“ auf die Möwen, eine Insel wird „von der Sonne über die Schulter der Welt gespuckt“, „Bücher verwitwen“, ein Vogel „glaubt, das Meer wäre sein Ei“.

Schmetterlingsjagd und de Sade
Noch im August fliegt Mort zurück nach Amerika. „Meine ganze Kindheit hindurch habe ich entweder Akkordeon geübt oder Unkraut gejätet“, sagt sie. Als Kind verbringt sie den Sommer auf dem Land. Sie erinnert sich an ihre erste Nabokov-Lektüre und eigene Schmetterlingsjagden mit Plastiktüte. An verregnete Augustabende auf der Ofenbank, wo sie mit Großmutter und Schwester auf Lichter in der Ferne sieht. Ganze Nächte sitzen sie so zusammen, spielen Bingo oder Domino. „In der Kindheit ist Zeit unendlich“, sagt Mort, „jeder Moment bedeutet ein Stück Ewigkeit. Das können wir nie mehr zurückholen.“
Familie, Landleben, Kindheit, später werden es Schlüsselthemen in Morts Lyrik. Im Gedicht über eine Großmutter heißt es:

ihr körper ist wie eine rebe um einen stab
gerankt ihr haar – dünn wie bienenflügel
sie schluckt sonnenflecken als tabletten
nennt das internet telefon nach amerika.

Mit 13 Jahren zieht sie aus dem Minsker Bücherschrank der Eltern ein Werk des Marquis de Sade und versteckt es unter dem Kopfkissen. „Es gab darin Bilder von Frauen, die wie Prinzessinnen gekleidet waren“, sagt sie, „das hat meine Aufmerksamkeit erregt.“
In sowjetischen Literaturzeitschriften liest sie Verrisse experimenteller Poeten. Und notiert fasziniert die zitierten Verse, mit denen die Kritiker ihre Abscheu begründen. Derweil verfassen die etablierten Dichter ideologische Texte. Für Lyrik gibt es Spielregeln. Eine lautet: Als junge Frau schreibt man nicht über Sex. Mort tut es trotzdem.
Gleichgesinnte findet sie mit 19 Jahren in der Minsker Künstlergruppe Bum-Bam-Lit. Da studiert sie bereits Literatur und Linguistik. „Hier konnte ich alles machen“, sagt Mort. „Je mehr du schockiert hast, desto besser war es.“ Doch bald genügt es ihr nicht mehr, nur zu provozieren.
Ihre Gedichte verfasst sie heute in Englisch oder Belarussisch. Trotz der subversiven Komponente, die diese Sprache in der politischen Landschaft hat, wehrt sich Mort gegen jegliche Instrumentalisierung. Sie mischt ältere und neuere Varianten, schreibt ein Belarussisch, das es so offiziell gar nicht gibt. Zum Ärger mancher Puristen.
Geburt, Erotik, Körperlichkeit ziehen sich als wichtige Komponenten durch viele Texte in Kreuzwort. Sei es „der Koffer eines Körpers, beklebt mit Narbenstickern aus der ganzen Welt“, der Geist, der „durch den langen schmalen Korridor ihres Körpers“ huscht oder „Schweiß aus Baumwollfalten“, der sich vermehrt „wie Küchenschaben“.

Mit Witz gegen „Identitätsschubladen“
Manchmal, sagt Mort, wäre es einfacher, eine Frau aus dem Westen zu sein. Ohne den Akzent im Englischen. Ohne die Vorurteile von Fremden, die denken, eine Belarussin esse Wölfe und arbeite im Bordell. „Der belarussische Pass ist blau und golden wie der amerikanische“, sagt sie. Wenn sie ihn an der Grenze oder im Hotel vorzeigte, hielten die Menschen sie deshalb schon vor ihrer Einbürgerung für eine Amerikanerin. „Doch sobald sie den Pass aufschlugen, schwand das Lächeln aus ihren Gesichtern. Plötzlich waren sie unsicher: Welche Regeln gelten nun, welche Papiere werden gebraucht?“
Journalisten steckten sie bis heute gerne in Identitätsschubladen. Als Tränenfabrik 2008 in den USA in einer belarussisch-englischen Ausgabe erschien, schrieb der New Yorker, sie thematisiere „den Kampf um eine klare Identität für Belarus und seine Sprache“. Gegen Klischees kämpft sie mit Wortwitz, ihrer besten Waffe: „Ich hätte lieber Syphilis als eine Identität.“
Mort will Weißrussland nicht erklären müssen, will sich nicht vereinnahmen lassen, will nicht über Präsident Lukaschenko diskutieren, den die Welt als „letzten Diktator Europas“ kennt. „Der Poet dient keinem politischen Zweck, nur der Poesie“, sagt Mort. „In der belarussischen Kultur gibt es keinen festen Grund, der Boden bewegt sich unter deinen Füßen und du musst immer neu die Balance finden.“ Diese Erfahrung hat sie geprägt.
Doch letztlich ist ein Land für sie sowieso nur ein „Detail“: „Ein Dichter lebt in der Welt, in der Fantasie, in der Kindheit“, sagt sie. Am meisten liebt sie Literatur, mit der sie „wie Odysseus in unbekanntes, verbotenes Territorium“ aufbrechen kann. „Es ist eine Erfahrung wie im Märchen, wenn das Kind den Wald betritt und dort auf Baba Jaga trifft, diese Figur, die mit einem Bein in der Welt der Lebenden steht, mit dem anderen in der Welt der Toten.“

Carmen Eller, Die Zeit, 8.8.2013

Alles steht hier durcheinander.

Kreuzwort ist ein Buch der Verwirrung: Dissonanzen und Wohlklänge treffen aufeinander, Rhythmen und Abbrüche spielen miteinander, jedes Bild und jede Anspielung kann sich dem Gefühl nach jederzeit in viele Richtungen umkrempeln. Dieser Modus beständiger Verwandlungen setzt auch die Familiengeschichte Valžyhna Morts in Bewegung, die wie schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Band Tränenfabrik die Grundlage aller Widersprüche bildet. Valžyhna Mort ist 1981 in Minsk geboren, das in der Sowjetunion unterdrückte Weißrussisch hat sie erst spät gelernt. Heute lebt sie in Washington und schreibt ausschließlich in ihren zweiten Sprachen, auf Weißrussisch und Englisch. In den Übersetzungen von Katharina Narbutovic und Uljana Wolf erscheinen die Prosastücke und Gedichte des Bandes in all ihren Sprüngen und Drehungen wie notwendig fließend, als Dokumente großer Dringlichkeit.

Florian Kessler, Lyrik-Empfehlung 2013

 

 

Uljana Wolf: Poesiegespräch mit Valzhyna MortDer singende Knochen

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Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Autorenarchiv Susanne Schleyer
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Valžyna Mort liest in Broklyn am 29.8.2008.

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