Verlags-ABC

Verlags-ABC

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Delta der Lyrikverlage“

Im Delta der Lyrikverlage

Wenn man aufmerksam dem poetenladen im Netz folgt, wird man in regelmäßigen Abständen auf den Namen Theo Breuer stoßen, sei es unter Lyrik, Essay, Kritik oder Porträt. Schnell stellt man fest, dass man es hier mit einem höchst seltenen Exemplar aus der Spezies der hypomanischen Lyrikleser und -kenner zu tun hat. Er wird natürlich auch schon einmal als „Lyroholic“ bezeichnet. Das alles sagt natürlich nichts darüber aus, was Theo Breuer wirklich tut. Das erfährt man am besten, wenn man sich z.B. sein 500-seitiges eng beschriebenes Kompendium Aus dem Hinterland genauer anschaut. Genau das haben wir getan und können jetzt einen lang gehegten Wunsch erfüllen: die Vorstellung von Lyrikverlagen im deutschsprachigen Raum bei einem „radikal subjektiven Standpunkt“ (O-Ton des Autors). In regelmäßigen Abständen, sagen wir wöchentlich, werden wir unter der Rubrik „Im Delta der Lyrikverlage“ eine Anleihe bei Theo Breuers Werk aufnehmen. Für eine gute Rendite ist damit gesorgt. Für Nachhaltigkeit sorgen die 49 + 10 Verlage (Stand 2005) selbst. Vielleicht gibt es aktuell auch noch eine Kapitalaufstockung auf 56 + X. Den Grundstein legen wir heute mit Theo Breuers einführenden Worten. Dann geht es mit Alkyon in Session I „Autor, Gedichtbuch, Sammelband“ weiter bis zum Verlag im Wald unter „Programme, Reihen, Editionen“.

 

Im Delta der Verlage für Lyrik

DER AUTOR UND SEIN VERLEGER

Verleger: Warum so trüb?
Autor: Ach, Freund, mir stahl ein Bösewicht
Mein ungedrucktes Lehrgedicht.
Verleger: Der arme Dieb.

GOTTLIEB CONRAD PFEFFEL (1736–1809)

Auch unsere Dichter sind heute Funktionäre der Dichtung geworden. Sie dichten nicht mehr, aber sie funktionieren. Jeder hält seinen Nabel für den Mittelpunkt der Welt, um den sich alles dreht, gräbt in seinen Eingeweiden herum und ist stolz, wenn lauter Dreck dabei herauskommt. Der Mensch hat sich ausgehöhlt, sich überlebt. Von ihm ist nicht viel nachgeblieben. Er kann nur die eigenen Exkremente produzieren. Er hält das für Poesie. Was nicht stinkt, das ist verlogene Romantik. Und was sich noch reimt – ein albernes Spiel für schwachsinnige Trottel. Wer etwas auf sich hält, dem genügt ein Gedankenstrich, ein Komma, ein Punkt. Vielleicht auch ein Doppelpunkt. Synthetische Dichtung aus der Retorte, nicht aus dem Herzen. Diese Gehirnakrobaten und Kartoffelkäfer bohren unentwegt in der eigenen Nase und sind viel zu impotent, etwas Lebendiges hervorzubringen. Sie schließen sich in Gruppen und Grüppchen zusammen, veranstalten „Begegnungen“, sogar „Kongresse“, heben sich gegenseitig auf das Schild der „Publicity“, die sie für Unsterblichkeit halten. Natürlich wollen sie immer an der Spitze sein, und deshalb nennen sie sich auch gern „Avantgardisten“. Armselige Radfahrer, die immer im Kreise rennen, ohne es zu merken! Die wirklichen Dichter sind ausgestorben – wir brauchen sie nicht mehr…

So schwadroniert der Antiheld in Siegfried von Vegesacks Roman Die Überfahrt (Langen und Müller, München und Wien 1967), und es ist am Ende keine Überraschung, daß dieser Mensch sich heimlich davonstiehlt, indem er sich über Bord wirft, denn das Leben ist für ihn schon lange vorbei. Wenn ich mich tagtäglich dem stellen muß, was die Engländer „ratrace“ nennen, kommen mir in mancherlei Hinsicht ähnliche Gedanken wie die eben zitierten, und ich verfluche – pardon – Gott und die Welt. Die Dichtung ist für mich zeitlebens der Zufluchtsort gewesen, an den ich mich zurückziehe, wenn Depression, Melancholie und Überdruß wieder einmal die Oberhand gewinnen. Ich bin zuversichtlicher denn je, daß die Gedichte auch in Zukunft die Firewall erzeugen, die Spione, Viren und Trojaner halbwegs aus meinem Leben fernhält. Wem außer den wohlwollenden und verständnisvollen Menschen, denen es ähnlich geht, kann ich begreifbar machen, daß ich mich beispielsweise nicht über einen bürgerlichen Brötchenberuf definiere, sondern als Bestandteilchen einer Welt, die mir mit ihren Wörtern, Bildern, Klängen und Rhythmen, mit ihren Formen und Spielen, Gefühlen und Gedanken realer vorkommt als das, was gemeinhin „Realität“ genannt wird. [Wie sehr ich damit auch Romantiker bin, beweist dieser Ausspruch von Novalis: „Die Dichtung, das ist das absolut Reale.“ Und bei Philippe Soupault heißt es: „Indessen spielen diese ungenauen, vernachlässigten, allgemein (nur nicht von den Psychopathen) als wertlos betrachteten Bilder (Traumbilder, Träumereien, Hirngespinste) eine entscheidende Rolle bei der Entdeckung der Welt. Man trifft sie in allen Lebensbereichen an. Man hört, man sieht sie an jeder Straßenecke und auch in dem, was man die Kunst der Rede nennt. Sie sind in aller Mund, und es gibt kein menschliches Wesen, das nicht auf sie zurückgreift, um sich auszudrücken. Die Volkssprache ist ein Gewebe von Bildern. Sind sie aus den Träumen hervorgegangen, oder gehören sie einer Art mündlicher Tradition an?“] Natürlich war unser „Unbekannter“, wie er im Roman vom Icherzähler lange Zeit genannt wird, in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre nicht der einzige, der das Ende der Literatur konstatierte: Hans Magnus Enzensberger hat sich diesen Unfug ja ebenfalls geleistet – mit dem Ergebnis, daß nach etlichen weiteren Einzeltiteln 1999 seine gesammelten Gedichte erschienen sind, die zeigen, daß gerade er sich am wenigsten daran gehalten hat. Natürlich hat die Lyrik im 20. Jahrhundert, wie alle Bereiche von Gesellschaft, Kultur, Politik, Sport, Wirtschaft sogenannte Krisenzeiten erlebt – ich kann, wenn ich will, das Leben ja auch als eine einzige Krise bezeichnen -, aber die Jahre nach 2000 haben – immer noch unter dem Antrieb der vitalen 90er Jahre des 20. Jahrhunderts – wieder dermaßen viele interessante, originelle, schöne poetische Blüten getrieben, daß so manchem Leser der Überblick verloren gegangen ist. Ja, auch viele, die sich öffentlich darüber äußern, sehen vor lauter Bäumen den Lyrikwald nicht mehr. Welle auf Welle lyrischer Neuerscheinungen sorgt Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr für geistige Überflutungen, und der Leser findet kaum noch Halt. Selbst der manische Lyrikleser muß sich der Tatsache stellen, daß er nur einen Bruchteil der Lyrik wahrnehmen kann. Mit dem folgenden Verlags-ABC, in dem ich auch eine Reihe von Titeln aus der Zeit vor 2000 erwähne, um ein wenig die Bandbreite der jeweiligen Lyrikprogramme zu vermitteln, möchte ich einen Einblick in meine lyrische Bibliothek gewähren und Verlage vorstellen, deren poetisches Programm Bücher enthält, die ich mit großem Interesse gelesen habe. Dabei muß ich erneut vor meinem radikal subjektiven Standpunkt als einzelnem Leser bzw. Schreiber warnen. Meine Vorlieben haben nicht nur mit dem im Zusammenhang mit Poesie so zwiespältigen Phänomen „Qualität“ zu tun, sondern natürlich und insbesondere auch mit meinem persönlichen Geschmack. Mir schmeckt als lyrischem Säufer vieles höchst Unterschiedliche, nur gepanscht sollte es nicht sein. „Das Gedicht des Lesers ist das Negativ vom Gedicht des Autors. Er muß damit in seine persönliche Dunkelkammer, um den Wortfilm zu entwickeln, in dem er mitspielt und mit dem er spielen kann.“ (Peter Maiwald, Wortkino, S. Fischer, Frankfurt am Main 1993)

Erschienen in: Theo Breuer – Aus dem Hinterland, Edition YE, 2005

 

Fakten und Vermutungen zum Autor und Buch + Würdigung

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