Walter Hinck: Zu Karin Kiwus’ Gedicht „An die Dichter“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Karin Kiwus’ Gedicht „An die Dichter“ aus Karin Kiwus: Von beiden Seiten der Gegenwart. 

 

 

 

 

KARIN KIWUS

An die Dichter

Die Welt ist eingeschlafen
in der Stunde eurer Geburt

allein mit den Tagträumen
erweckt ihr sie wieder

roh und süß und wild
auf ein Abenteuer

eine Partie Wirklichkeit lang
unbesiegbar im Spiel

 

Kleine Poetik des Tagtraums

Fast so alt wie die Dichtung ist ihre poetische Selbstreflexion, das Nachdenken der Dichter über ihre besondere Aufgabe und ihre besondere Freiheit, über ihre Macht, ihre Grenzen und ihre schöpferische Sprengkraft. Spätestens seit den Carmina des römischen Dichters Horaz dient das Lied (die Ode, das Gedicht) auch dem Ausdruck dichterischen Selbstbewußtseins, dichterischer Selbstbestimmung; und unüberschaubar ist die Reihe lyrischer Versuche, die sich dem Beispiel des Horaz anschließen, um es in unendlicher Vielfalt abzuwandeln.
In diese Reihe gehören Barockgedichte über die deutsche Poeterei wie auch die bescheiden-koketten Verse „An die Dichtkunst“ des Anakreontikers Friedrich von Hagedorn, Schillers durchaus nicht ,idealistische‘ Votivtafel „An den Dichter“ („Laß Sprache dir sein, was der Körper den Liebenden. Er nur / Ist’s, der die Wesen trennt und der die Wesen vereint“) wie Goethes gar nicht so ,klassische‘ Verse „Dichter lieben nicht zu schweigen, / wollen sich der Menge zeigen“, Heines Selbsttrost und Zuspruch an den Dichter („Wenn man an dir Verrat geübt, / Sei du um so treuer“), wie Emanuel Geibels selbstgewisse und selbstgefällige Verse über den „König Dichter“ oder die zahllosen Sängergedichte und -balladen der deutschen Literatur. In die Reihe gehören Hölderlins beschwörende Oden über den „Dichterberuf“, „An die jungen Dichter“, „Die scheinheiligen Dichter“ oder „An unsre großen Dichter“, die den Dichter als Seher und Führer sakralisierenden Verse Stefan Georges („Der Dichter in Zeiten der Wirren“), aber auch der grundsätzliche Widerruf, die Abrechnung, Ernst Tollers „An die Dichter“:

Anklag ich Euch, Ihr Dichter,
verbuhlt in Worte, Worte, Worte!
Ihr wissend nickt mit Greisenköpfen,
Berechnet Wirbelwirkung, lächelnd und erhaben,
Ihr im Papierkorb feig versteckt!
Auf die Tribüne, Angeklagte!

Unmöglich, hier auf mehr hinzudeuten als auf einen Bruchteil der Variationen des Themas, der Spielarten zwischen rühmender und ächtender, erhabener und ironischer Anrede an den Dichter, zwischen absolutem Vertrauen in die Dichtung und totaler Verzweiflung an ihr. Karin Kiwus’ „An die Dichter“ steht in einer so umfassenden und verzweigten Überlieferung poetologischer Lyrik, daß das Gedicht überfordert wäre, wollte man es an ihr messen, und daß sich der Interpret übernähme, wollte er sich auf beschränktem Raum an einer detaillierten geschichtlichen Einordnung versuchen.
Das Gedicht hält sich in der Mitte zwischen zu hohen und zu niedrigen Erwartungen. Nicht als Protagonist der politischen Aktion wird der Dichter verstanden, nicht als ihr Instrument die Dichtung. Der Aufbruchsoptimismus der Studentenrevolte von 1968, das Erlebnis ihrer Berliner Studienzeit schlägt sich in Karin Kiwus’ Gedichten nur noch in Form eines schwachen und eher negativen Echos, als Erinnerung an das Scheitern nieder:

Aufklärung Solidarität Protestmärsche Fahnen
alle Bewegungen
sind zu Stehkadern erstarrt
(„Exit“).

Das Gedicht hält Distanz zur Poetik ,politischer‘ Lyrik. Im Nachwort zur Reclam-Auswahl ihrer Gedichte, in dem sie die „Frage-und-Antwort-Rituale“ bei Leseveranstaltungen protokolliert hat, wird die Autorin sogar direkt (mit einer Meinung, die man nicht teilen muß):

Die Politik verdirbt die Gedichte und die Poesie vereinfacht die Politik.

Politische Zusammenhänge seien „in ihrer ganzen Komplexität durch die Poesie nun gerade nicht zu ergründen und zu erfassen“.
Andererseits werden die Dichter keineswegs als Parasiten der Gesellschaft, als Gaukler oder gar Lügner diffamiert. Eine lebendige, verlebendigende Kraft wird ihnen zugeschrieben. Ihre Fähigkeit, die Welt wieder zu erwecken, ist aber nicht mit jener Gottgleichheit zu verwechseln, die nach der Genie-Ästhetik des Sturm und Drang den Künstler zu einem zweiten Schöpfer der Welt werden läßt. Bescheidener sind Aufgabe und Vermögen der Dichter: Erstarrtes wieder beweglich zu machen, vergessenen Möglichkeiten neue Wege zu öffnen, Hoffnungen zu mobilisieren.
Mit einem Paradoxon setzt das Gedicht ein. Was für eine Welt kann das sein, die bei der Geburt der Dichter „eingeschlafen“ ist? Offenbar doch nur eine, auf die der einzelne beim Eintritt in die menschliche Gemeinschaft Verzicht leisten muß, die ihm vorenthalten wird durch die Lebensbindungen, sei es in der Familie, der Gesellschaft oder dem Staat, durch die Zwänge sozialer Rollen, durch den Daseinskampf – eine Welt, die nur durch Träume (wieder)gewonnen werden kann.
Aber es sind keine Träume und keine Traumwelten im gewöhnlichen Wortsinn, von denen hier die Rede ist, keine Träume, die im Schlaf kommen, und keine Traumwelten, die beim Erwachen für immer zerfallen. Sigmund Freud hat vom Nachttraum den Tagtraum oder Wachtraum unterschieden: die seelische Arbeit verknüpft einen aktuellen, wunscherweckenden Anlaß oder Eindruck mit der Erinnerung an eine frühe Wunscherfüllung und schafft sich nun im Tagtraum, in der Phantasie eine zukunftsbezogene Situation, die jenen Wunsch erfüllt. Sieht Freud in den Tagträumen auch das Rohmaterial der poetischen Produktion, so liefert doch seine Traumdeutung nur Ansätze zu einer Ästhetik – Ansätze, die dann in Ernst Blochs Ästhetik des Vor-Scheins kunsttheoretisch ausgebaut werden. Für Bloch ist der Tagtraum nicht wie für die Psychoanalyse Freuds, „die alle Träume nur als Wege zu Verdrängtem achtet“, bloße Vorstufe zum Nachttraum; er ist in der Kunst „exaktes Phantasieexperiment der Vollkommenheit“, „antizipierend“, hat mit „Selbst- und Welterweiterung“, mit „Besserhabenwollen“ zu tun und enthält einen „unermüdlichen Antrieb, damit das Vorgemalte auch erreicht werde“ (S. 34, 43, 48, 35).
Was Freud die Anknüpfung an frühe (zumeist kindliche) Erlebnisse nennt, ist in Karin Kiwus’ Gedicht im Bild der Wiedererweckung erfaßt, und zwar sogar als Rückgriff auf ein vorgeburtliches Stadium. Zugleich aber eignet hier den Tagträumen das aktivierende, ja experimentierende Moment des Blochschen Begriffs. Alle wichtigen Wörter der dritten Strophe deuten auf Wunscherfüllung, „wild“ und „Abenteuer“ zudem auf den unaufhaltsamen Antrieb zu neuer Selbst- und Welterfahrung und auf deren Zukunftscharakter. In den Tagträumen bahnt sich ein Akt der Welteroberung an.
Die letzte Strophe des Gedichts nimmt diesen Gedanken im Motiv der Unbesiegbarkeit wieder auf, schränkt ihn durch das Moment der begrenzten Dauer ein und setzt die Tagträume in Beziehung zum Spiel. Erneut bringt sich die psychoanalytische Argumentation in Erinnerung: für Freud sind sowohl der Tagtraum wie die Dichtung Ersatz und Fortsetzung einstigen kindlichen Spielens. Aber wenn auch „Spiel“ dem Wortsinn nach kindliches Spielen mit einschließt, so spricht doch der Schlußvers vom dichterischen, ästhetischen Spiel, von einem Handeln durch Einbildungskraft und Sprache, das sich mit seiner Eigengesetzlichkeit aus dem Zusammenhang unmittelbarer praktischer Zwecke ausgrenzt. Selbsterweiterung und Welteroberung bleiben ein Abenteuer im Herrschaftsgebiet und Reservat der Phantasie.
Doch nun erhält die Zeile „eine Partie Wirklichkeit lang“ ihr Gewicht. Auch im Substantiv „Partie“ schwingt neben der Wortbedeutung von ,Abschnitt‘ die von „Spiel“ mit (eine Partie machen, und zwar im Karten- oder Glücksspiel – tatsächlich hat ja die Wunscherfüllung in Tagträumen Glückscharakter). Entscheidend aber ist, daß hier etwas benannt wird, was in Spannung steht zum ästhetischen Spiel: die Wirklichkeit. Das Spiel, obwohl Ausgrenzung aus den Zwängen der Wirklichkeit, erreicht doch Wirklichkeit: als Spiel mit der Wirklichkeit. Das „Phantasieexperiment“ ist Vorwegnahme. „Die Tagphantasie startet […] mit Wünschen“ und „will an den Erfüllungsort“, sagt Bloch; die „Wachträume ziehen [ … ] ins ungeworden-ungefüllte oder utopische Feld“ (S. 44, 64). Die Tagträume der Dichter sind Vorgriffe auf Wirklichkeit im Medium der Utopie.
Mit ihrer utopischen Eigenschaft aber ist der Dichtung auch jene Intention zur „Weltverbesserung“ eingepflanzt, die Bloch dem Tagtraum zuschreibt (S. 43). Die Wiedererweckung der Welt, zu der nach Karin Kiwus die Dichter befähigt sind, antizipiert zugleich eine verbesserte Welt. Die Dichter haben mit den Wachträumen den Schlüssel zur früheren Welt wie zur künftigen – vielleicht erklärt sich so auch der Titel des Gedichtbandes Von beiden Seiten der Gegenwart.
Wie sehr Karin Kiwus’ Verse „An die Dichter“ im Bann einer Ästhetik des Vor-Scheins und der Hoffnung stehen, wird sinnfälliger durch den Vergleich des Achtzeilers mit einem anderen zeitgenössischen poetologischen Gedicht, mit der „Rede vom Gedicht“ von Christoph Meckel (S. 80). In einem Punkt erweist sich Meckels Gedicht scheinbar sogar als Gegenentwurf oder ideologiekritischer Einspruch: das Gedicht sei „nicht der Ort, wo der Schmerz verheilt“ oder „die Hoffnung verklärt“ werde; es spreche von „Verwüstung und Auswurf, von klapprigen Utopien“, vom „Elend, vom Elend, vom Elend des Traums“. Utopisches wird hier in die Nähe der Lebenslüge gerückt. Enthüllungsfunktion und Wahrheitsrigorismus kennzeichnen das Gedicht-Modell Meckels. Von Mühsal und Tod, von „vergifteten Sprachen“ und von „der zu Tode verwundeten Wahrheit“ habe das Gedicht zu reden; es sei „nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt“ und „der Engel geschont“ werde. Vielleicht trifft Meckel den Kern seiner Poetik in der Bestimmung des Gedichts als einer „Chronik der Leiden“.
Mit solcher Ästhetik des Leidens einerseits und mit der Ästhetik des Vor-Scheins oder der Hoffnung andererseits sind zwei polare Möglichkeiten gegenwärtiger Dichtung umrissen, ist eine ernsthafte Alternative bezeichnet (denn selbstverständlich dürfen die Tagträume in Karin Kiwus’ Gedicht nicht mit dem elenden, illusionären Traum und mit den „klapprigen“ Utopien verwechselt werden, die Meckels „Rede vom Gedicht“ bloßgestellt wünscht). Aber weder wollen die Gedichte von Christoph Meckel noch die von Karin Kiwus jeweils allesamt vom Anspruch des einen poetologischen Gedichts her gedeutet und beurteilt werden. Ohnehin geht das dichterische Werk von Autoren nie ganz in ihrer Poetik auf.
Immerhin ist festzuhalten, daß sich die Gedichte des ersten Gedichtbandes von Karin Kiwus wie die des zweiten, Angenommen später, nur zum Teil auf der Höhe der Poetik bewegen, die der Achtzeiler „An die Dichter“ mit der äußersten Verdichtung lyrischer Sprache entwickelt. Überall dort reichen die Gedichte an diese Ebene heran, wo das Ich, zumal das Frauen-Ich, aus Beschränkungen aufbricht, neuer Selbst- und Welterfahrung entgegengeht, wo aus Dissonanzen die Hoffnung auf eine andere Gegenwart wächst, „die von Begriffen wie ,Zärtlichkeit‘, ,Geborgenheit‘ und ,Kindheit‘ bestimmt würde“, wo es gelingt, die „eigene Subjektivität zu erfahren und anzuerkennen“ (Wischenbart, S. 4). Andererseits kann gerade die „Subjektivität“ auch das Ich in der erlebten Enge festhalten.
Was in der Lyrik der siebziger Jahre den Namen „Neue Subjektivität“ bekam – und von „Neuer Subjektivität“ spricht mit Beziehung auf Karin Kiwus’ ersten Gedichtband ausdrücklich Helmut Heißenbüttel –, das sucht oft gerade nicht die Erweiterung des Ich (mit dem Gedicht „An die Dichter“ zu sprechen: das Abenteuer), sondern verharrt in Selbstgenügsamkeit und hält die banalste Alltagserfahrung schon für das Alpha und Omega der Poesie. Solche Lyrik erliegt gerade jener Trivialität, die sie durch die schöpferische Subjektivität aufbrechen sollte; solche „Neue Subjektivität“ ist gerade gekennzeichnet durch den Verlust von Subjektivität. Auch in den Bänden von Karin Kiwus gibt es Gedichte, in denen die Kräfte der Phantasie, des Tagtraums brachliegen.
Nichts natürlich ist zu sagen gegen die Überprüfung eigener Wachträume. Utopische Vorgriffe sind nichts Starres, für alle Zeiten Festgelegtes, sondern müssen von der Gegenwart her (zu der sie Gegenentwürfe sind) jeweils fortgeschrieben werden. Die Hoffnung stärkt sich an der Skepsis; auch Enttäuschungen entbinden die Einbildungskraft. Daß eine Ästhetik der Hoffnung nicht nur für die großen, sondern auch die kleinen, vorläufigen ,Lösungen‘ Platz läßt, zeigt eines der letzten Gedichte im Band Angenommen später (S. 74), das Gedicht „Lösung“: 

Im Traum
nicht einmal mehr
suche ich
mein verlorenes Paradies
bei dir
ich erfinde es
besser allein
für mich 

In Wirklichkeit
will ich
einfach nur leben
mit dir so gut
es geht.

Unverkennbar ist das resignative Moment – mit Bloch zu sprechen: verkleinert ist das „utopische Feld“. Am Erfüllungsort wird der Partner nicht mehr miterwartet; in seinem utopischen Impuls sieht sich das Subjekt zurückgeworfen auf sich selbst. Eine soziale Dimension des Wachtraums ist verlorengegangen, ja, sie hat sich nicht einmal in den Nachttraum hinüberretten können. Im Zusammenleben mit dem Partner wird ein Minimum an Wunscherfüllung akzeptiert. Aber nicht aufgegeben hat das Ich sein Ziel der Selbst- und Welterweiterung. Erhalten geblieben ist eine Bastion der Tagphantasie, von der aus neue Ausfälle ins „Abenteuer“ möglich werden. So wendet sich die Botschaft der Verse „An die Dichter“ als Appell auf die Autorin selbst zurück. 

1

Walter Hinck, aus Walter Hinck (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Band 6 Gegenwart, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1982

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