Werner Ross: Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Fort mit dem Schnee“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht „Fort mit dem Schnee“ aus Ingeborg Bachmann: Gesammelte Werke. Band 1

 

 

 

 

 

INGEBORG BACHMANN

Fort mit dem Schnee

Fort mit dem Schnee von der gewürzten Stadt!
Der Früchte Luft muß durch die Straßen gehen.
Streut die Korinthen aus,
die Feigen bringt, die Kapern!
Belebt den Sommer neu,
den Kreislauf neu,
Geburt, Blut, Kot und Auswurf,
Tod – hakt in die Striemen ein,
die Linien auferlegt
Gesichtern
mißtrauisch, faul und alt,
von Kalk umrissen und in Öl getränkt,
von Händeln schlau,
mit der Gefahr vertraut,
dem Zorn des Lavagotts,
dem Engel Rauch
und der verdammten Glut!

 

Neapolitanische Elegie

Ingeborg Bachmann ist durch ihre Gedichte berühmt geworden, aber sie war im landläufigen Sinne keine Lyrikerin. Die beiden Gedichtsammlungen, die sie in aller Welt bekannt machten, Die gestundete Zeit und Anrufung des Großen Bären, sind im knappen Abstand von drei Jahren erschienen, 1953 und 1956, noch das Jahr 1957 war produktiv, die Gedichte danach sind an den Fingern zweier Hände abzuzählen. Ihr letztes Gedicht ist eine wortgewaltige und bildermächtige Absage an die Poesie.
Ein erstaunlicher Produktivitätsschub – früher hätte man gesagt: ein Musenanruf – hat sie in den fünfziger Jahren beflügelt. Es waren die Aufenthalte in Rom, in Neapel und auf Ischia, die ihn auslösten, zusammen mit einer Liebesgeschichte, einer glücklich-tragischen, die das eigene Ende und damit die Katastrophe der Welt voraussah.
Die Begeisterung der Hörer und Leser galt damals dem Kassandraklang, dem metallenen Pathos („Es kommen härtere Tage“), den existentiellen Allgemeinheiten. Heute, meine ich, hören wir lieber die konkreteren Gedichte, in denen wenn schon nicht die Personen, so doch die Situationen faßbar werden, zum Beispiel die „Lieder auf der Flucht“, die auch „Neapolitanische Elegien“ heißen könnten.
In allen dient das winterliche, im Schnee erstarrte Neapel als Szenerie. Der glühende Vulkan schafft den Kontrapunkt dazu. Wie im Barock drückt sich das Wechselbad der Liebe im Aufeinanderprall von „Eis“ und „heiß“ aus. Unser Gedicht, das fünfte des Zyklus „Lieder auf der Flucht“, beginnt mit einer strahlenden Ouvertüre, einem trompetenhellen Imperativ. Verkündigung, Einzug eines hohen Herrn steht bevor; wie sonst Blumen werden Früchte ausgestreut, südliche, versteht sich. Der Winterschnee hat auch die Gerüche zugedeckt, nun sollen sie triumphieren. „Belebt den Sommer neu“ heißt die Beschwörungsformel, und es stünde um ihn gut, wenn nicht in diesem Appell auch etwas Zaubermeisterliches steckte, das großmächtige Ingangsetzen einer versteckten Mechanik oder der Versuch der Auferweckung eines Toten.
Schon der nächste Vers, der den Kreislauf neu zu beleben heißt, schaltet jäh um. Statt Feigen, Kapern, Korinthen unvermittelt Blut, Kot, Auswurf, Tod. Tod wie ein Ausrufezeichen den neuen Vers einleitend. Und nun, nicht leicht verständlich, ein neues Kommando, scheinbar ganz weit weg von den Gewürzstreuern. „Hakt in die Striemen ein…“ Das schmerzt, ist grausam, könnte im umgangssprachlichen Deutsch heißen:

Reißt Wunden auf!

Was nun folgt, scheint keinerlei Beziehung zu dem Jubelchor des Anfangs zu haben. Die Striemen, so darf man die nächsten Verse entschlüsseln, sind die Linien, die Falten und Runzeln, die das Schicksal den Neapolitanern eingezeichnet hat, und es ist gänzlich unwahrscheinlich, daß diese alt und schlau Gewordenen, diese Ausgekochten, diese „Verkalkten“ sich noch zu irgend etwas hinreißen ließen. Wozu noch Düfte und Gewürze? Der Süden zeigt sein anderes Gesicht. Als feixende Zaungäste, als Dottori und Pantaloni, umstehen die Abgebrühten das Liebespaar.
Oder bedeutet dieser Chor doch anderes und mehr? Wieder wechselt die Tonart mitten im Vers: die Wendung „von Händeln schlau“ (Liebeshändeln?) paßt noch ganz zu „mißtrauisch, faul und alt“. Aber die letzten vier Verse nobilitieren die Statistengesichter. Die hier leben, haben das Sensorium der immer gegenwärtigen Gefahr. Sie kennen die Bedrohung, deren die Liebespaare in ihrer Euphorie nicht achten. Sie wissen über das Vulkanische Bescheid, das auch der Liebe innewohnt. Der Gott namens Vulcanus ist ja der oft erhitzte und oft betrogene Ehemann der Venus. Da steigt der Unheilsengel Rauch auf, und unter dem Schnee rührt sich die Höllenglut, die verdammte, die der Verdammten.
Das Gedicht, von einem großen Schwung getragen, rhapsodisch, ist – etwa in der genauen Entsprechung von „Schnee“ am Anfang und „Glut“ am Schluß – höchst kunstvoll durchgearbeitet wie eines aus älteren Zeiten, als man Sonette drechselte. Der freie Vers klingt an Shakespeare an. Wie bei einem Musikstück wechseln die Tempi, und es wäre töricht, etwa zu meinen, der Zorn des Lavagottes und die Glut des Vesuvs widerlegten den Triumphzug der Früchte und Gerüche in den ersten Versen.
In dieser Vielstimmigkeit, dieser Verfügbarkeit der Register hat die Bachmann ihre Meisterschaft geschult und gesteigert, bis zu ihrem letzten poetischen Seufzer:

Wer wird sich den Schädel zerbrechen über so überflüssige Dinge.

Werner Rossaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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