Wolfgang Leppmann: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“ aus Rainer Maria Rilke: Ausgewählte Gedichte. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

 

Des Schrecklichen Ende

Eines der bekanntesten Gedichte von Rilke und wohl das schönste Tiergedicht deutscher Sprache, zumindest für Leser, denen Tier mehr bedeutet als Teddy oder Wauwau und Gedicht mehr als wohlklingende Reime. Ein Gedicht mit vielen Feinheiten, von der Einrahmung durch das Wörtchen „sein“, in jeweils verschiedener Bedeutung, über den Wechsel in der Perspektive (so daß nicht der Blick des Tieres an den Stäben, sondern diese an seinem Blick vorbeigehen) und die „Zündfolge“ von Stäbe-hält-Stäbe-gäbe-Stäben-Welt (die an das Rat-tat-tat eines Stockes gemahnt, mit dem ein kleiner Junge an einem Zaun oder Gitter entlangfährt) bis hin zur letzten, sinngemäß um eine Hebung gekürzten Zeile.
Kaum zu glauben, daß „Der Panther“ zuerst als Füllsel in einem böhmischen Provinzblatt erschien, als x-beliebiges Zeitschriftengedicht, eingezwängt zwischen eine Rezension und eine Erzählung. Das war im September 1903 gewesen. Seither ist das Gedicht oft anthologisiert und interpretiert worden, vorzugsweise als sinnbildliche Darstellung aller gefangenen Kreatur inklusive des Menschen, der am Bewußtsein der ihm gesetzten Grenzen – im Arbeitstag, in der Familie, in der eigenen Körperlichkeit, im bürgerlichen Leben, und wie die Deutungen alle lauten – krankt und an dieser Erkenntnis zugrundegeht. Ein weniger metaphorisch veranlagter dafür aber um so fleißigerer Interpret kam nach dem Studium von Brehms Tierleben gar zum Schluß, daß es sich bei diesem Panther um ein Exemplar „in ziemlich weit vorgerücktem Stadium der Gefangenschaft“ handeln müsse. Mag sein. Wir halten uns hier nicht an die Bücher, sondern an den Augenschein, zumal das dem Gedicht zugrundeliegende Erlebnis auf primärer Ebene so leicht wie vergnüglich nachzuvollziehen ist: man braucht sich nur in einigen Zoos umzusehen. Dann entdeckt man sogleich, daß der Panther (selbstverständlich nicht mehr derselbe, den Rilke beschrieb) im Jardin des Plantes heute noch in einem kleinen Käfig dahindämmert – eine Tierquälerei, die also in Paris und leider auch in Frankfurt noch fortdauert. Anderswo sind es andere Tiere, in der Stuttgarter Wilhelma zum Beispiel die Bären, die so gehalten werden, „als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt“. In Berlin hingegen, wo der Panther hinter Glas wohnt oder in München/Hellabrunn, wo wenigstens seine Verwandten, die Sibirischen Tiger, ihr eigenes Freigehege haben, verspürt man sehr viel weniger von einem „Tanz von Kraft um eine Mitte, / in der betäubt ein großer Wille steht“.
So schildert Rilkes Gedicht nicht nur einen Panther, sondern das gefährdete und gefangene Tier schlechthin und somit auch eine Phase in der Geschichte des Zoologischen Gartens, ja in der Beziehung des Menschen zum Tier. Freilich ist das Gedicht so vollendet, und jener „weiche Gang geschmeidig starker Schritt“ so genau wiedergegeben, daß man es zu den Werken zählen muß, denen ihre eigene Schönheit im Wege steht. Unter diesem Aspekt gehört „Der Panther“ in eine Reihe nicht mit Conrad Ferdinand Meyers „Der römische Brunnen“ oder anderen Dinggedichten, sondern mit Celans „Todesfuge“. Die Perfektion der Form verstellt nahezu den Blick auf das Thema: hier die für das Los vieler Gefangener stellvertretende Qual eines gefangenen Tieres, dort die Ermordung unzähliger Menschen.
So kann das Schöne, in Erweiterung der Ersten Duineser Elegie, nicht nur „des Schrecklichen Anfang“ sein, sondern auch dessen Ende.

Wolfgang Leppmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980

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