Wolfgang Leppmann: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Rose, oh reiner Widerspruch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Rose, oh reiner Widerspruch“ aus Rainer Maria Rilke: Werke in sechs Bänden. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Rose, oh reiner Widerspruch

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein
unter soviel Lidern.

 

Zauberwürfel

Die berühmte Inschrift, die Rilke beim Abfassen seines Testaments im Spätherbst 1925 als Epitaph entwarf – sie ziert bis heute seinen inzwischen recht verwitterten Grabstein im Kirchhof von Raron –, ist kurz, aber alles andere als bündig. Gewiß, es sind nur zwölf Wörter, die einen einzigen, in Appositionen gegliederten und über drei Zeilen verteilten Satz bilden. Aber so leicht dieser Satz zu lesen und jedes Wort in seiner syntaktischen Funktion zu erfassen, so schwer ist es, dem Ganzen eine eindeutige, keiner weiteren Erklärung bedürftige Aussage zu entnehmen. Von seiner Originalität und scheinbaren Einfachheit fasziniert, hat die Nachwelt an diesem Epitaph wie an einem Zauberwürfel herumgedreht im Bemühen, das in ihm enthaltene „Problem“ zu lösen: mit dem Ergebnis freilich, daß es nicht aufgeht und wohl auch nicht gänzlich aufgehen soll.
Untersucht man zum Beispiel die Schlüsselworte im Hinblick auf den Gebrauch, den Rilke anderswo von ihnen macht, dann schillert schon die „Rose“ in vielen, über naheliegend-traditionelle Symbole (etwa für Liebe oder Schönheit oder Tod) hinausgehenden Bedeutungen. Hier sollten wir sie uns vielleicht als Sinnbild des noch aus dem Grabe heraus nachwirkenden Dichters vorstellen wie in dem vielzitierten Sonett, in dem es heißt:

Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose
nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.
Denn Orpheus ist’s.

Bei „reinem“ Widerspruch haben wir wohl an einen unversöhnten, auf Koexistenz anstatt Ausgleich angelegten Kontrast, bei „Lust“ hingegen an eine Bejahung des Lebens auch angesichts des Grabes zu denken. (So ungewöhnlich das Wort „Lust“ auf einem Epitaph erscheint, so überliefert, ja banal wirkt die Metapher des Schlafes für den Tod.)
Wer aber ist der „Niemand“, von dessen Schlaf oder vielmehr Nichtschlaf hier die Rede ist? Unter Rückgriff auf ein kurz vor der Grabinschrift verfaßtes Fragment in französischer Sprache erklärt man „Niemandes Schlaf“ gern als einen Zustand, in dem die Rose für sich und um ihrer selbst willen blüht, ohne Bezugnahme auf den Toten, aus dessen Grab sie ersprießt. So lassen sich die aus Parallelstellen gewonnenen semantischen Fäden beliebig weiterspinnen, ohne daß sie sich zu einem festen Gewebe zusammenschlössen – geschweige denn zu einem, das das Gewicht einer jener „letzten Wahrheiten“ ertrüge, die man damals noch zur Erbauung oder Ermahnung der Nachkommen in Grabsteine einmeißelte.
Wir sollten es weniger philosophisch nehmen und uns auch am Wohlklang dieser Zeilen erfreuen, wobei wir beim Lautlesen einen Übergang von dunklen zu hellen Vokalen und von einem anfangs durch Kommata gehemmten zu einem freien Sprachduktus finden. In dieser Verschränkung des Stockenden mit dem Fließenden und des Widerspruchs mit der Lust ist schon das Ineinandergreifen von Tod und Leben angedeutet, das für diesen Dichter eine Selbstverständlichkeit darstellte.
Für ein zwangloses Übergehen in einen Tod, der das Leben nicht wie ein Schlußpunkt beendet, sondern es wie ein Gedankenstrich auf anderer Ebene weiterführt, spricht auch der oft übersehene Umstand, daß Rilke sich anstatt eines neuen Grabsteins einen alten gewünscht hatte, von dem man die früheren Inschriften entfernen mußte, bevor die seinige angebracht werden konnte. Bei einem solchen, von einem Toten an den anderen weitergereichten Stein kann man in der Tat von „Niemandes Schlaf“ sprechen – ohne daß diese Zeilen damit restlos ausgedeutet wären.
Wo steht übrigens geschrieben, daß die Lyrik immer Fragen beantworten muß? Liegt ihr Wert manchmal nicht gerade darin, daß sie sie stellt und die Antwort uns überläßt?

Wolfgang Leppmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983

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