Angela Egli: Zu Brigitte Struzyks Gedicht „Kindheit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Brigitte Struzyks Gedicht „Kindheit“ aus Brigitte Struzyk: Leben auf der Kippe. 

 

 

 

 

BRIGITTE STRUZYK

Kindheit

Du, als Kind auf dem Buckel des Heuwagens sitzen,
wie die Fuhre trocknet, so ausgiebig schwitzen,
Süßgras fischen und kauen mit gierigen Zähnen
und dann unflätig gähnen.
Wenn Grasweben, Luft weiß beflorende Fäden,
in der Sonne leuchten, in der Ferne die späten,
müde scheppernden Glocken der Herden ertönen:
so sehr wird uns nichts mehr im Leben verwöhnen.

Zittergras suchen, den Roller am Zaun,
Kohlrabi in den Kleingärten klaun,
zwischen Schmälgras und Schneidegras endlich es finden,
zwischen Gräben und grauen Hecken es binden
zu dem schönsten, dem eignen, dem einzigen Strauß
und, staubbeladen, der Mutter geben zu Haus,
das ist einer der Träume, der stets wiederkehrt,
was an Glücklichem, Schrecklichem sonst man erfährt.
Das ist etwas von dem, das bleibt für immer
mit dem zartgrünen, blaßgrün verschwimmenden Schimmer.
Wird sich niemals entziehn der Erinnerung.
Mit dem Gras ist man jung.

 

Paradies der Kindheit

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht getrieben werden können.

Das schrieb uns der Dichter und Philosoph Jean Paul (1763–1825) ins Stammbuch, der von 1798–1800 in Weimar lebte. Erinnern ist auch ein wesentliches Thema in der Lyrik und Prosa von Brigitte Struzyk, die 1946 in Steinbach-Hallenberg geboren wurde, in Weimar aufwuchs und seit 1976 in Berlin lebt. Erste Texte erschienen 1978 in der Reihe Poesiealbum. Ihrem ersten Lyrikband, Leben auf der Kippe, der 1984 in der Edition Neue Texte des Aufbau-Verlags erschien, ist das Gedicht „Kindheit“ entnommen. Die Autorin richtet darin ihren Blick zurück in die Erlebniswelten des Kindes und beschreibt zunächst paradiesische Zustände: Das einfache, naturnahe Da-Sein, noch unbeschwert von den Erkenntnissen und dem Korsett der Konventionen späterer Jahre, mit denen sie sich und uns etwa in den Rück-Sichten des Prosabandes In vollen Zügen (Aufbau-Verlag, 1994) konfrontiert. Dabei verharrt sie jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern bewertet aus erwachsener Sicht:

so sehr wird uns nichts mehr im Leben verwöhnen.

Dennoch bleibt ihr etwas Rettendes aus jener Zeit: die Erinnerung, in stets wiederkehrenden Träumen. Vielleicht lassen die sich als notwendige Bevorratung erneut im Sinne von Jean Paul interpretieren:

Mit einer Kindheit voll Liebe aber kann man ein halbes Leben hindurch für die kalte Welt haushalten.

Es empfiehlt sich, auch dem in späteren Texten von Brigitte Struzyk nachzuspüren. Als bekanntestes Werk der Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin gilt Caroline unterm Freiheitsbaum: Ansichtssachen (Aufbau-Verlag, 1988). Ihre Texte, die von hoher Authentizität und Zeitzeugenschaft geprägt sind, erschienen zwar zum Glück nicht bestsellerverdächtig, weshalb sie nun zunehmend der Aussonderungspraxis der öffentlichen Bibliotheken anheimzufallen drohen, obwohl sie es dringend verdienen, wieder gelesen zu werden.

Angela Egliaus Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann (Hrsg.): Thüringer Anthologie. Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018

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