Ann Cotten: Nach der Welt

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ann Cotten: Nach der Welt

Cotten-Nach der Welt

OSKAR PASTIOR: LISTEN ALS ENDPUNKT

In Oskar Pastiors „gewichteten Gedichten“ kommen nur Phrasen in Frage, deren Buchstaben zusammengezählt gemäß dem System A=1, B=2, C=3 etc. einen bestimmten Wert ergeben, zum Beispiel den eines vorgegebenen Namens oder einer Phrase, von der das Gedicht ausgehen soll. Ähnlich wie bei Anagrammen wird also durch von den Buchstaben abgeleitete und auf die Wörter angewendete Regeln determiniert, welche Wörter und Wortkombinationen in einer Zeile verwendbar sind und welche nicht, was das Spektrum der dichterischen Baumaterialien derart auf eine abzählbare Menge von Wörtern beschränkt. Anagramme und gewichtete Gedichte sind indessen nur in Sonderfällen unter dem Aspekt der Liste zu betrachten, nämlich wenn tatsächlich eine Aufzählung möglicher Bildungen vorliegt. Nicht immer, aber häufig ist dies ein Merkmal eher „roher“ anagrammatischer Arbeiten, nur manchmal besitzen auch raffiniertere Arbeiten aus dem einen oder anderen Grund einen solchen Listencharakter. Das Anagramm hat somit eine fast feindliche Beziehung zur Liste, da es sich im Entstehungsprozess von ihr sozusagen durch schriftstellerische Diskrimination loswinden muss. Dadurch aber ist die Listenstruktur als Subtext oder Gegenströmung auf einer tieferen Ebene mit- oder wiederherdenkbar. Pastior reflektiert diese problematische Beziehung von Textgenerationsmechanismen und Listen im Lipogramm „Noahs Arche“:

Hasen, Rehe, Haehne…

Ochsen hoeren es schon: Rochen-Choere schnarchen an
Charons Nachen heran – rohe Heroen schnorren an Neon-
Haaren – barsches Hosen-Rechnen, Oesen horchen noch…

Schoene Echsen naschen an sehr hohen Cocos-Nasen

Neros Ohren – ach, ne Rosen-Arena?

Aeonen schon, nach Sonnen; nachher so Sachen – Horn-
Scheren, Schaeren-Soehne, Hass, Rache, Herrscher-Ras-
en, Ehre, Hohn: sonore Schnarren, so nah – Shoa

Ach, Aschen-Haar, Schach-Narren, eher noch Rhone-Schnee,
Hennah-See, Echo, Ars, Eros, Ceres, Hora: anarcher Scho-
ner; ach so – Chronos Rachen

Anspielend auf den genetischen Korridor, den ein Vorgang wie die Rettung des absoluten Minimums an genetischer Variation im Tierreich über eine Sintflut hinweg darstellt, nutzt das Gedicht die Enge (la contrainte) des Lipogramms, um die einer Arche zu spiegeln („so nah“). Die Enge ist auch das Skandal on einer Liste, man vergleiche die Empörung der nicht genannten oder vermeintlich falsch kategorisierten („Du stellst mich in eine Reihe mit A, B und C?!“) und weiters die existentielle Unmöglichkeit der Zugehörigkeit zu einer Menge überhaupt. (Der kratylische Einwand zu Heraklit, welcher meint, man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen: man könne es auch nicht einmal tun. Groucho Marx: I would never want to belong to a club that had me as a member.)
Bei Pastior, verbunden mit der Oulipo, liegt der Begriff des Potentiellen nicht weit entfernt. Die Enge des Gedichts ist noch enger als die theoretische seiner lipogrammatischen Regel: im Gedicht wird nur eine Auswahl der darin möglichen Bildungen von Tier- und Lebewesennamen genannt? Gleichzeitig spielt Pastior auf eine sehr böse historische Selektion an, und auf den Prozess ihrer Aneignung als Mythologie im Wort „Shoa“; zitiert Paul Celans Gedichtzeile „Dein aschenes Haar Sulamith“ aus der „Todesfuge“.
Der Umgang damit, dass manches aufgrund einer durchgeführten willkürlichen Regel und manches ohne systematischen Überbau nicht da ist, also vernichtet wurde, hat mit den Phänomenen zu tun, die wir oben bei Heimrad Bäcker sahen. Eine merkwürdige Geschichte tut sich beim Wort Schoa auf. Üblicherweise gibt es einen großen Apparat an wohldurchtheoretisierten Gründen, warum man sich dafür entscheidet, Schoa anstelle von Holocaust oder anderen Bezeichnungen zu sagen. Hier besteht der Grund im Lipogramm. Der Theorieapparat ist nicht ausgeschaltet, aber gewissermaßen einen Schritt in den Hintergrund versetzt. Die sonst als absoluter Sonderfall in der Geschichte eingegangenen durchgedrehten Perversionsakte der Nazis sind hier eingereiht, wie etwa bei Christensen die Atombombe, in die Aufzählung der Natur- und Kulturelemente, die als Beispiele für unsere Welt in die Arche kommen. Die Arbitrarität der Überlieferung, der Erinnerung, des Verfalls, der Auswahl ist überliefert in der arbiträren Autorität des Lipogramms.

Einen Sonderfall bilden die „Gewichteten Gedichte“, die von der Gematrie, also der aus der Kabbala stammenden Tradition der Wortsummen Gebrauch machen und dieser Technik mit dem „Pastiorschen Algorismus?“ eine zweite Stufe verleihen. Dabei wird, grob dargestellt, in einem ersten Schritt von einer beliebigen Wortfolge deren Zahlwert gemäß der Zuordnung A=1, B=2 etc. errechnet und in der Folge der Zahlwert des Zahlwortes dieser Summe, dann der Zahlwert des Zahlwortes jener Summe etc. Diese mathematischen Folgen münden alle in einer berechenbaren Zahl von Schritten in eine rekursive Schlaufe.
Der Mathematiker Ralph Kaufmann schreibt über dieses Verfahren: Letztendlich kann man sagen, daß die Iteration die Entropie des Wortes, welches einen hohen Informationsgehalt hat, erhöht und somit den Informationsgehalt erniedrigt. Alle Worte münden in die eine Folge oder einen der beiden Fixpunkte. Die Kenntnis dieser Folge oder des Fixpunktes enthält so gut wie keine Information über das ursprüngliche Wort. Das Wort wird sozusagen durch einen dynamischen Prozess statistisch verteilt.

Um auf einen vorhin angeschnittenen Punkt zurückzukommen: dieses systematische Zerstören von Sinn, dieses Sprengen von Hermeneutik mit den Mitteln der Mathematik, diese völlige Auslieferung von allem, was Sprache angeblich vermag, an die Entropie spricht ein utopisches Verlangen danach an, dem Bedeuten der Sprache zu entkommen, ja, das Bedeuten an sich zu zerstören. Die Auswahl der auf diese Weise zu zerstörenden Wortfolge ist die letzte kontrollierte Handlung des Dichters vor dem schon vollautomatischen Takeoff in die Bedeutungslosigkeit. Als virtuelle Sinnzerstörungsmaschine ist das pastiorsche Verfahren möglicherweise die gründlichste bekannte Maßnahme gegen Bedeutung, und mit ihr nicht nur gegen Dichtung, sondern gegen die gesamte Kulturgeschichte, deren Unzulänglichkeit einer der Beweggründe für Dichtung ist. Zugegeben hat dies nur marginal mit der Liste zu tun. Die Signifikanz dieser Methode besteht indessen, für Listen wie für Dichtung allgemein, darin, einen Extrempunkt im Umgang mit Sinn, dessen Konservierung und Permutierung abzustecken und eine einigermaßen radikale Ansicht der Positionen von Autorin, Welt und (erfasster) Struktur darzustellen. Die Liste besteht in diesem Verfahren in den folgenden Tabellen; sie sind unveränderlich. Axiomatisch aufgebaut, besitzen sie eine Absolutheit, die sonst jeglicher Dichtung mit gutem Grund fremd ist.

 

 

 

Inhalt

 

  1. Prolegomena

Einleitung

Definition

– Merkmale der Liste: Ein Selbstversuch
Optik – Inhalt – Die Liste als totales Paradigmakonstrukt – Listen von Sätzen – Tabellen

– Die Liste und das Konkrete
Das Konkrete der konkreten Poesie (1) – Mimesisfragen – Das Konkrete der konkreten Poesie (2) – Listen sind nicht konkret – Die Liste als Montage – Konkrete Poesie spielt mit deinem Gehirn – Listen spielen mit deinem Gehirn – Daraus folgt

Rhetorische Figuren

 

  1. Liste als 0-Form

– Die Herrenliste
Listen und Wahrheit (1): Im Wandel letzterer – Listen und Logik – Listen und Wahrheit (2): Im Windschatten der Wahrscheinlichkeit – Ernst Jandl und der Listenwitz – Serien – Abgeschlossenheit – Heimrad Bäcker: Die Liste als Machtinstrument – Der Zufall als rhetorisches Instrument – Listen als Erinnerungsinstrumente

– Konstellationen als Listen: Probleme einer Utopie

– Theatermaterial
Ein paar Stücke von Konrad Bayer –
Margret Kreidls „Regieanweisungen“

 

  1. Liste als Anti-Erzählung

– Liste versus Narration
Etwas zur Ekphrasis – Georges Perec: Listen und Verschwinden – L’anti-hasard: Zur oulipotischen Poetik

– Liste als Gerüst

– Inventur
Spoerri et. al.: Topographie des Zufalls – Peter Waterhouse: Mitschrift aus Bihai und Krajina – Martin Kubaczek: Somei – Francis Ponge: Cahiers du bois de pins – Elke Erb: Sonanzen – Daniel Falb – Monika Rinck: Begriffsstudio – Inger Christensen. Alfabet

 

  1. Liste als Rhythmusinstrument

– Listen als Ausgangspunkt

–Oskar Pastior: Listen als Endpunkt

Zusammenfassung

Glossar

Nachwort von Wendelin Schmidt-Dengler

Bibliographie

 

Einleitung

In jeder Aufzählung finden wir zwei widersprüchliche Versuchungen; die erste besteht darin, ALLES zu erfassen, die zweite darin, wenigstens einiges zu vergessen; die erste möchte die Frage endgültig abschließen, die zweite sie offen lassen; zwischen dem Erschöpfenden und dem Unvollendeten scheint mir somit die Aufzählung vor jedem Gedanken (und vor jeder Einordnung) das eigentliche Erkennungszeichen für dieses Bedürfnis zu sein, alles zu benennen und miteinander zu verbinden, ohne das die Welt („das Leben“) für uns orientierungslos bleiben würde: es gibt unterschiedliche Dinge, die sich dennoch ein wenig ähneln; man kann sie in Reihen zusammenfügen, innerhalb derer es möglich ist, sie zu unterscheiden.

 

Es geht uns darum, herauszufinden, wie Listen funktionieren, und ihre Relationen zu anderen Textformen deutlich zu machen. Die Charakteristik, vor oder nach einem ausformulierten Gedanken zu sein, bedeutet, die Liste ist die Erscheinungsform einer Präsupposition, oder mehrerer. In aufgeschriebener Form – im Gegensatz beispielsweise zu „versteckten“, in andere Texte eingegangenen Listen – markiert die Liste die Stelle, an der Präsuppositionen sich zu expliziten Behauptungen oder Annahmen materialisieren.
Der Fokus auf die konkrete Poesie ergibt sich aus der Tatsache, dass hier bestimmte Dinge besonders klar an der Oberfläche sichtbar gemacht wurden. Die KP (Konkrete Poesie) reduziert die Breite der jeweiligen Aufgaben, strippt Teile der Sprache auf die einfachsten Erscheinungsformen gedanklicher Strukturen herunter, die in sich schon komplex sind, was in der fokalen Reduktion deutlich wird. Diese Skelettierung überschneidet sich in vielen Fällen mehr oder weniger mit der, die vorliegt, wenn man eine Liste schreibt. Weiters ist ihr Erkenntnisinteresse auf genau die kognitiven Phänomene ausgerichtet, die uns an Listen interessieren. Nachdem die Menge der KP wiederum, bei näherer Untersuchung, eine mehr historisch als textlich definierte ist, ist es sinnvoll, ihre Grenzen nicht automatisch als die der Untersuchung zu übernehmen. Vollständigkeit quer durch die Literatur dagegen könnte kaum einmal in lebenslänglicher Arbeit erreicht werden, weswegen wir uns auf eine Auswahl beschränken, anhand welcher die Thesen unserer skizzierten Typologie sich formieren und demonstrieren.
Diese sozusagen sekundäre Funktion der Primärtexte als Material, anhand dessen bestimmte Theorien erarbeitet werden sollen, verlangt natürlich gewisse Vorsicht in der Handhabe. Ein Verständnis oder ein Gebrauch von Dichtung als schieres Material für Forschungsergebnisse über Listen wäre einigermaßen absurd. Gleichzeitig ist Erkenntnisgewinn durch Dichtung ein wichtiger Gedanke und eine gute Antwort auf die Frage, was Literatur überhaupt soll. Der kritische Punkt liegt in der Tatsache, dass gute Dichtung die Erkenntnis ist – es ist nicht möglich, sie hinter sich zu lassen, wenn man die Erkenntnis erkennt, oder ihr in irgendeiner Weise die Erkenntnis auszuquetschen und nur die Hülle zurück ins Regal zu stellen – auch wenn wir uns aus praktischen Gründen gezwungen sehen, doch gerade auf eine solche Weise mit Erinnerungen an gelesene Texte zu leben und nicht mit den Texten selbst, einfach weil wir uns nicht ständig in einer Lektüre aufhalten können, schon gar nicht in mehreren gleichzeitig. Eine dem Prinzip des l’art pour l’art verpflichtete Auffassung von Literatur als Genuss in einer Poetik der Sinnlichkeit wiederum, oder als Wert an sich, als Kostbarkeit (mit problematisch undefinierten Wertmaßstäben) in der Präsenz greift unserer Ansicht nach genauso zu kurz wie eine, die die Dichtung in den Dienst der Gesellschaft stellt. Es muss daher eine Balance gefunden werden, sodass Gedichte, anhand derer etwas demonstriert wird, gleichzeitig als Werke mit sonstigen Aspekten geachtet werden, obwohl für Bemühungen, ihnen in einer wohlabgerundeten Analyse „gerecht zu werden“, hier kein Platz ist. So sei hier allgemein eine Erklärung unseres Respekts für Gedichte vorausgeschickt, gleichzeitig seien alle Werturteile suspendiert. Wir werden mitunter Gedichte behandeln, die wir nicht für besonders gute Gedichte halten, weil sich gerade an ihnen oft ein bestimmtes Prinzip gut demonstrieren lässt, und wir werden diese Gedichte nicht als solche etikettieren.
Abgesehen von der definitorischen Macht, die wir der Autorin oder dem Autor eines Gedichts einräumen, indem wir unter anderem in Betracht ziehen, was auch immer als Listengedicht bezeichnet wird, gehen wir von einer den Autor oder die Autorin kaum beachtenden close reading aus. Sekundäre Äußerungen der AutorInnen, wie beispielsweise Mons zahlreiche poetologische Essays, werden rezipiert und in die Untersuchung eingebunden, es wird ihnen aber kein besonderer Status gegenüber anderer Sekundärliteratur – wovon im Übrigen keine unmittelbar auf Listen bezogene vorliegt – verliehen.
In der Einleitung haben wir das Wort „Form“ gewählt, um nicht mit dem scheinbar unproblematischeren Wort „Methode“ oder ähnlichem dem Vorwurf der begriffstechnischen Regression bloß aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich geht es eben nicht um Methode – die ist Sache jeder Dichterin allein und ein ganz anderes Problem – sondern dartun, auf welche Weise die Liste, formloseste, aber rigideste aller Gestalten, als Form, oder als ein Komplex formaler Effekte begriffen werden kann, von denen immer eine Teilmenge in Gedichten oder als Gedichte in Erscheinung tritt. Aus diesem Grund greifen wir auf scheinbar hoffnungslos veraltete Begriffe wie Wesen zurück, gerade, um die mittlerweile zur Norm gewordene fixe Definition zugunsten rhizomatischerer, wabernderer oder amoebenhafterer Begriffe zu vermeiden.

Ann Cotten, Vorwort

 

Nachwort

Wer sich auf eine Literatur einlässt, die bei Freund oder Feind in den Verdacht gerät, avantgardistisch zu sein, unterzieht sich, will er ernst genommen werden, einer spröden Aufgabe. Was könnte spröder sein als sich nach der Funktion von Listen in der Literatur zu fragen! Dabei handelt es sich bei diesen Listen um keine Erfindung der Moderne: Wer kennt nicht die endlosen Aufzählungen im Alten und Neuen Testament, die meistens Genealogisches präsentieren? Berühmt ist auch der Katalog der Schiffe im zweiten Buch der Ilias, der die sich anbahnende spannende Erzählung von den Folgen des Konflikts zwischen Agamemnon und Achill unterbricht, um in mehr als dreihundert Versen genaue Informationen von der Größe der griechischen Landetruppen zu vermitteln, eine Partie, die dem Dichter doch recht wichtig gewesen sein dürfte, da er sie eigens mit einem Musenanruf einleitet. Die Aufzählung ersetzt an dieser Stelle die Erzählung; dies erzeugt in der Ilias ein wunderliches und zugleich belebendes Nebeneinander, und in der Folge hat die Konkurrenz der beiden Prinzipien die theoretische Reflexion poetologischer Grundsatzfragen zwar befruchtet, aber in der Forschung doch nie zu einer konsequenten Betrachtung der Funktion dieser Kataloge oder Listen geführt.
In ihrer Studie hat sich Ann Cotten diesem Phänomen in einem Zusammenhang gewidmet, in dem es sich als besonders tragfähig erweist, und zwar im Bereich der Konkreten Poesie, wobei dieser Begriff nicht Opfer einer eng gefassten Definition wird, sondern in weitherziger weitherzig-praktikabler Auslegung viele Texte zulässt, die sich als Listen begreifen lassen, um die Untersuchungsergebnisse durch eine große und verlässliche Induktionsbasis auch abzusichern. Ann Cotten bietet so eine Lesart der Avantgarde und der nicht mimetischen Literatur, der durchwegs der Rang eines Unternehmens mit enzyklopädischem Anspruch zuerkannt werden kann, auch wenn die Unmöglichkeit, diesen einzulösen, umstandslos zugegeben wird. Die Verfasserin bekennt sich in Bezug auf die Definition der Liste zum „Wabern der Bedeutung“ und damit auch zu einer Offenheit, die mittelbar den behandelten Texten zu verdanken ist. Wer dem hier eingeschlagenen Weg folgt, dem werden in einer schönen Synthese Perspektiven auf Autoren wie Ernst Jandl, Heimrad Bäcker, Franz Mon, Reinhard Priessnitz, Konrad Bayer, Margret Kreidl, Peter Waterhouse, auf Martin Kubaczek, Elke Erb und Oskar Pastior eröffnet; der Gang der Darlegungen berührt aber auch Oulipo, Inger Christensen und Francis Ponge – insgesamt also die Werke wichtiger Autorinnen und Autorinnen, um die sich die Literaturwissenschaft meist herumgedrückt hat, da sie sich von ihren Konventionen schwer lösen kann und in ihrer didaktischen Befangenheit die Paraphrase von Inhalten der Analyse des Funktionierens sprachlicher Mittel vorzieht. Es geht aber nicht um das Profil der einzelnen Verfasserinnen und Verfasser, sondern darum, die „Logik des Produziertseins“ (Adorno) anhand illustrativer Beispiele zu erschließen und die Rolle von Poesie, die Erkenntnis ist, dem Leser plausibel und von Fall zu Fall einsehbar zu machen. Kein leichtes Unterfangen, gewiss, aber die umsichtige Diskussion von Listen ist – so legt es der Essay in seiner Gesamtheit überzeugend nahe – vielleicht der Königsweg, der zur Erkenntnis führt, dass Poesie Erkenntnis sein kann.

Wendelin Schmidt-Dengler, Nachwort

 

Wie funktionieren Listen eigentlich

und vor allem – in welchen Relationen zu anderen Textformen? Warum schaffen manche Texte ihren Erkenntnisschub gerade aufgrund eingebauter Listenmechanismen, ohne deswegen Listen zu sein, und warum hören umgekehrt Listen, sofern sie wirklich Listen sind, mit der Literarizität auf?
Der Liste wie der Konkreten Poesie, schreibt Ann Cotten, ist eine gewisse Nacktheit gemeinsam, eine Reduktion auf wenige sprachliche Effekte, die dadurch mit großer Klarheit ausgestellt sind und durchaus auch im Sinn einer Versuchsanordnung lesbar sind.
Nach der Welt dokumentiert eine despriptive Erfassung möglichst vieler Spielarten von „Listenartigkeit“ in der Literatur und illustriert diese mit zahlreichen Beispielen aus der Gegenwartsliteratur.

Klever Verlag, Klappentext, 2008

Nach der Welt

Wer einmal mit einer Liste gearbeitet hat, weiß, dass Listen eigentlich poetisch wie Gedichte sind. Ganze Berufsgruppen machen letztlich nichts anderes, als zuerst Listen zu erstellen um sie dann abzuarbeiten.
So hat eine Lehrerin als erstes eine Liste vor Augen, ehe sie die Schülerinnen in der Klasse begrüßt, ein Lokführer arbeitet anhand einer Liste die Stationen ab, an denen er mit seinem Zug anhalten muss, und Bibliothekarinnen kriegen glänzende Augen, wenn sie Buchlisten erstellen, abarbeiten und im Regal ablegen.
Ann Cotten kümmert sich in ihrem Buch von den Listen um diese Ur-Form des Dichtens. Zuerst einmal erklärt sie den Unterschied zwischen der Konkreten Poesie und dem abbildenden Sprachgebrauch. Beiden Gebieten dient die Liste sozusagen als Null-Form, sie ist fallweise die konkreteste Poesie und der größte Sprachgebrauch in einem.
Nach der Analyse durchwegs witziger Gedichte von Ernst Jandl, „zynischer Listen“ von Heimrad Bäcker und Regieanweisungen von Margret Kreidl, kristallisiert sich allmählich das Wesen der Listen heraus. So sind beispielsweise Alltagslisten noch keine konkrete Poesie, erst wenn sie als solche gekennzeichnet sind, ergibt sich daraus das Gedicht. Man sollte aber immer im Auge behalten, ob es sich um eine offene oder geschlossene Liste handelt.
Der Unterschied zwischen einer Liste und einer Serie besteht übrigens in seiner Definition, die jeweils aktuelle Definition einer Liste kann die komplette Liste nicht ersetzen. (S. 88)
Faszinierend sind Listen vor allem wegen der Suggestion, dass das darin Aufgezählte sinnvoll sei. Und auch die Reduktion der Welt auf eine Liste löst magische Reflexe aus, es wird dabei nämlich häufig vergessen zu fragen, was und auf was reduziert wird. (S. 67)
So kommt der Liste schließlich eine dreifache Funktion zu: Archivierung, Normierung und Reduktion, Ästhetisierung. (S. 106) Das sind immerhin auch die wesentlichen Aufgaben der konkreten Poesie.
Die von Ann Cotten ausgewählten Beispiele (Jandl, Bäcker, Bayer) zeigen die mannigfaltigen Einsatzmöglichkeiten der Listen, wobei im dechiffrierenden Falle Heimrad Bäcker die Methode der Nazis, über alle Vernichtungsvorgänge Listen anzulegen den zynischen und bürokratischen Höhepunkt der Listenführung darstellen.
Nach der Welt bedeutet soviel wie nach den Vorgaben der sogenannten Welt formuliert, andererseits führt dieser Titel auch auf etwas hinaus, was nach Beendigung dieser Welt stattfinden könnte.
In einem abschließenden Glossar werden so rätselhafte Begriffe wie Null-Form, Herrenliste, Listenwitz, Litanei oder Nicht-Erzählung mit überraschenden Wendungen aufgedröselt.
Ann Cottens Studie vom Zusammenhang der Welt und ihren Listen schärft den Blick auf den Gebrauch der Welt. Genaugenommen gibt es keine Berufsgruppe, die nicht ihr Weltbild in eine Liste gezwängt hätte. Wer die Hinterseite der Listen kennt, kennt auch die Hinterseite der Welt. – Ein witzig vollkommenes Buch!

Helmuth Schönauer, aus Helmuth Schönauer: Tagebuch eines Bibliothekars, Bd. III, 2004–2008, Sisyphus, 2016

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Martin A. Hainz: Listen überlisten
fixpoetry.com, 20.7.2016

anonym: Listenreich
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 12. 2008

Vincent Kling: Ann Cotten, Nach der Welt
Modern Austrian Literature, Heft 4, 2009

 

„Wir brauchen neue Metaphern“

– Warum verändern sich Gesellschaften einmal langsamer und einmal schneller? Weil sich Kulturgeschichte wie ein „memory foam“ verhält, meint die Schriftstellerin und Germanistin Ann Cotten. Der „Erinnerungsschaum“ liefere ein gutes Bild für Geschwindigkeiten des Sozialen. Das Credo von Cotten: „Wir brauchen neue Metaphern.“ –

Die erfolgreiche Lyrikerin und Autorin – vor Kurzem etwa mit dem Gert-Jonke-Preis ausgezeichnet – hat sich nach gut einem Jahrzehnt Literatur wieder in die Welt der Wissenschaft begeben. Am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuni Linz in Wien geht sie der Frage nach, welche Rolle Metaphern bei der Beschreibung der Welt spielen. Sie plädiert für neue Sprachbilder, die einen Bezug zu Körpern von Tieren, Menschen und Maschinen haben und ihre Herkunft aus den Naturwissenschaften nicht verleugnen.

Lukas Wieselberg: Sie schrieben in einem Literaturblog, dass Sie „nicht zu den SchriftstellerInnen gehören wollen, die von ihren eigenen Erlebnissen ausgehend verallgemeinernde Thesen ausformulieren“. Gelingt Ihnen das?

Ann Cotten: Ich versuche, wachsam zu sein. Es gibt beide Gefahren. Einerseits die Gefahr, bloß armchair research zu machen, wo man gar keine eigenen Erlebnisse hat. Und andererseits, dass man von irgendetwas beleidigt ist und daraus eine ganze Theorie spinnt. Im besten Fall korrigieren sich die beiden. Ich kenne leider viele Gegenbeispiele aus Literatur und Journalismus: hübsche Storys mit Fallbeispielen, aber mangelhaft bei den Hintergrundinformationen.

Wieselberg: Finden Sie nicht gut?

Cotten: Nein, denn das ist ein typisches Mittel rechter Politik: mitleidheischende Einzelfälle, um von den strukturellen Fragen abzulenken. Das ist ein sehr effektives Mittel, um Einfluss zu nehmen und Meinungen zu bilden. Um politische Themen seriös zu behandeln, müsste man aber im Gegenteil LeserInnen helfen, eine angemessene Vorstellung von Statistik und Größenordnung zu entwickeln – auch im Sinne der Volksbildungsinitiative von Otto Neurath, die anerkennt, dass es unseren Gehirnen schwerfällt, mit großen Zahlen zu arbeiten.

Wieselberg: Sie versuchen mit dem Begriff des „memory foam“, sich 3.000 Jahren Kulturgeschichte mit einer neuen Metapher zu nähern. Ist das armchair research oder baut das auf persönlichen Erfahrungen auf?

Cotten: Sagen wir, ich stochere da im Plüsch herum. Da ich aus der Literatur komme, arbeite ich schon lange mit Metaphern und rhetorischen Mitteln, und zwar oft an der Grenze dessen, was funktionieren kann. Ich habe also eine Masse an Erfahrung mit sprachlicher Funktionalität und produktivem Sprachmissbrauch. Das versuche ich jetzt aufzuarbeiten, indem ich Theorie dazu nachlese. Also doch armchair, aber mein Lesen ist mehr ein Schaufeln. Es gibt irrsinnig viel Literatur in diesem Feld zwischen Psychologie, Design, Philosophie, Ökonomie, Mind-Body-Dualismus…

Wieselberg: Was hat denn der Leib-Seele-Dualismus mit Metaphern zu tun?

Cotten: Metaphern sind der Gegenbeweis dazu. Dichterische Arbeit hat ja z.B. massiv mit embodied cognition zu tun. Also mit der Beobachtung, dass wir nicht „nur mit dem Gehirn“ denken, sondern dass beim sogenannten Denken auch das Körpergedächtnis, der Wahrnehmungsapparat, etc. auf eine vernetzte Weise zusammenarbeiten. Deswegen machen Metaphern mehr Spaß als Texte, die so tun, als wären wir Leseköpfe, denen so eine Art Urteils-Guillotine angeschlossen ist. Metaphern, die spürbare Bilder benutzen, den Körper aktivieren, Erinnerungen wecken, sind bunter und plastischer – und lustvoller als eine Prosa, die nicht mit solchen Körperelementen arbeitet. In der Wissenschaft dominiert aber weiter das Paradigma, kühl zu sein und möglichst alle Sinnlichkeit in der Sprache auszuschalten – was ich für eine Illusion halte, weil auch die Antisinnlichkeit eine Sinnlichkeit ist. Auch der Zwang zu möglichst starren, Maschinenkitsch-affinen Formen ist eine körperliche Erfahrung, die man beim Schreiben oder Lesen macht.

Wieselberg: Sie haben sich mit Ihrem Forschungsthema am IFK einiges vorgenommen, Rhetorik, Leib-Seele-Dualismus, Embodiment, Künstliche Intelligenz, Kritik am Szientismus, ist das nicht ein bissl viel?

Cotten: Ja (lacht). Ich versuche, alles das, was ich jetzt sage, nicht mehr sagen zu müssen, weil es schon andere gesagt haben. Je mehr ich gelesen habe, umso mehr kann ich auch loslassen. Der Punkt, um den es geht, ist, dass bitte auch der Journalismus von dieser binären Frontstellung loslassen muss, hier kreatives wildes Denken, dort kühle rationale Wissenschaft. Die Formen der Kunst sind extrem rigoros. Und umgekehrt bröckelt der erhabene Rationalismus der Wissenschaft, wo man nur hinschaut, eben an den sprachlichen Ausdrücken.

Wieselberg: In Ihren Büchern und auch in Ihren neuen Metaphern spüre ich eine starke Begeisterung und Respekt vor den Naturwissenschaften. Oder sogar eine Sehnsucht?

Cotten: Riesenrespekt und Zuneigung. Es ist nichts faszinierender als die Wirklichkeit. Mir ist viel lieber, man schaut genau hin, als dass man was erfindet. Deshalb werde ich manchmal auch aggressiv gegen Quatsch oder etwas, was zu grob formuliert ist. Und ich verliere mich in der Suche nach Genauigkeit, bei der der Überblick rein durch das auch von Neurath einmal angesprochene Problem schwierig wird, dass man Bücher nur eins nach dem anderen lesen kann.

Wieselberg: War dieser Respekt vor Naturwissenschaften immer vorhanden?

Cotten: Ja.

Wieselberg: Warum sind Sie dann nicht Naturwissenschaftlerin geworden?

Cotten: Wahrscheinlich, weil ich faul bin. Oder weil ich an Ideenflucht leide, zu viele Ideen andenken mag. Es fällt mir schwer, mich in das Wurmloch eines Themas zu versenken und es gründlich abzuackern. Ich sehe total ein, wie nötig das ist. Aber vermutlich bin ich eben deswegen da, am Rangiergleis sozusagen, gelandet. Ich nehme die Arbeit anderer Leute zur Kenntnis und versuche ein bisschen Fährdienste zu leisten, Informationen, Gerüchte herumzutragen und ein bisschen Unfug zu machen. Ich akzeptiere das Seriöse extrem, aber ich kann es nicht durchführen. Ich wache jeden Tag auf und hab eine leicht andere Perspektive auf die Welt. Kontinuität ist schwierig für mich, weil ich die Unruhe aufgrund der unguten Gegenwart und der Vielfalt der Probleme nicht abschütteln kann.

Wieselberg: Dennoch werden Sie das am IFK nun wieder machen müssen – nachdem Sie zehn Jahre ausschließlich literarische und journalistische Texte geschrieben haben. Ist Ihr Schreiben jetzt ein anderes geworden?

Cotten: Ja – aus verschiedenen Gründen. Es hat sich immer schon stark verändert, je nachdem, was mich gerade interessierte. Journalismus war immer ein Krampf, ich kann nicht für den gemeinsamen Nenner schreiben, obwohl ich diese Arbeit auch extrem respektiere, es ist eine super wichtige Kunst. In letzter Zeit spreche ich mehr Japanisch im Alltag und lese und schreibe mehr Englisch, und beides stört den deutschen Sprachbau. Gespenster: reizvolle Formulierungsmöglichkeiten, leider in der falschen Sprache, und doch ist man gekitzelt, ob mans nicht doch hinkriegen könnte, das nachzubauen…

Wieselberg: Ist das eine Rückkehr?

Cotten: In meiner Diplomarbeit ging es um Listen der konkreten Poesie, eine konventionelle Abschlussarbeit, die sehr lesbar geschrieben war, glaube ich. Von da aus hab ich mich immer mehr bemüht, extremere Sachen mit der Sprache zu machen, wilder zu schreiben, eine kämpferischere Haltung einzubauen. Das versuche ich eigentlich wieder abzubauen, weil das auch ermüdet. Der Punkt wäre, statt direktem Angriffskampf gegen alles, was man hasst, sich doch Allianzen zu suchen und Terrain zu gewinnen, größer gedachte Strategien zu bedenken.

Wieselberg: Was auch dem gemeinen Vorurteil von fernöstlicher Kampfkunst entspräche – lieber Energie sammeln und nicht gleich draufhauen…

Cotten: Es heißt ja auch „Sei wie Wasser!“ – das Ideal also, einen ruhigen Kopf zu bewahren, aber auch die Kraft der Schwerkraft zu nutzen. So kann auch ein schwächerer Kämpfer, eine schwächere Kämpferin einen stärkeren Gegner, eine stärkere Gegnerin mit gezielten Griffen besiegen. Auch gezielte Sabotage ist effektiver als Demonstrieren, dazu muss man die Maschinerie studieren. Pjotr Kropotkin, berühmt als Anarchist, war ja von Beruf her Orograph, das heißt, er studierte topographisch die Flussrichtung der Flüsse.

Wieselberg: Was heißt das für Schreiben?

Cotten: Viel für den Satzbau. „Ergonomischer Satzbau“ klingt ziemlich bürostuhlmäßig, aber hilft doch Ideen in Anschlag zu bringen – ein blöder Ausdruck, weil das mit Kriegstechnik zu tun hat. Aber vielleicht doch nicht ganz unpassend, weil man mit einer Pistole auch kleine Reparaturen erledigen kann…

Wieselberg: Ergonomie heißt immer auch: anpassen an etwas, das es vorher gibt, etwa an den Körper…

Cotten: Stimmt, ich würde mich nicht anmaßen wollen zu behaupten, dass alles anders sein muss, als es ist – auch wenn das meine intuitive Grundhaltung ist (lacht). Die versuche ich aber immer ein bisschen zu dämpfen, so kann man ja nicht durchs Leben gehen. D.h. es gibt Körper und Gegenstände. Die sind, wie sie sind, und es gibt Gründe dafür, und alle haben Modifikationsmöglichkeiten. Das im Überblick und das Ziel im Kopf behaltend gibt es vielleicht einen optimalen Satzbau und ein gutes Design. In der Rhetorik gibt es etwa die grundlegende Idee, dass man Dinge, die chronologisch stattfinden, im Satzbau nicht durcheinanderbringt, sondern eins nach dem anderen dem Leser, der Leserin serviert. Katachresen, Bilder, die freiwillig unfreiwillig komisch sind, Pathos unterwandern, miteinander ungewöhnliche Effekte machen – sowas hab ich früher vielleicht öfter absichtlich gemacht, einfach aus einer Stinkefinger-Haltung heraus. Aber es gibt eben daneben auch die ganz konventionellen Regeln der Ergonomie, wie aus der Tischlerkunst oder dem Dachbau, in welcher Reihenfolge man Balken übereinanderlegt, welche Teile die tragenden sind usw. Wenn aber jetzt selbstlernende Programme auf statistischer Basis ihre Sprachkompetenz erarbeiten, dann werden weder die „gute Tischlerkunst“ noch die „perversen Dekospezialitäten“ erfasst, denn statt Grammatik wird Statistik gelernt. Was sage ich am wahrscheinlichsten? Und ich will immer nur das sagen, was niemandem auch nur einfallen würde.

Wieselberg: Wenn Programmen beigebracht wird, wie Literatur funktioniert, geht es letztlich immer um die Reduktion von Komplexität, Worte werden etwa eingeteilt in die Schubladen „schön“ oder „hässlich“…

Cotten: Komplexität wird oft als Quantität missverstanden, weil wir gern sehr allgemein über Dinge sprechen, und es wird dabei unterschätzt, wie wichtig ist, wie diese Komplexität jeweils genau strukturiert ist. Es werden im Moment immer Netzwerkmodelle vorgelegt, wie Teile vom Gehirn strukturiert sein könnten, um die Ergebnisse von den immer genaueren Hirnstrommessungen zu stützen. Ich habe das Gefühl – aber suche noch –, dass hier die fixe Vorstellung eines Resultats, das für alle Menschen gilt, möglicherweise illusorisch sein könnte. Von der alltäglichen Beobachtung her scheint es mir ziemlich deutlich, dass wir alle auf unterschiedlichen Wegen zu mehr oder weniger kompatiblen Ergebnissen kommen – wenn wir uns auch da treffen, wo neun plus drei zwölf ist. Ich benutze bei dieser Rechnung z.B. farbige Zahlen, und es ist mir nicht klar, ob sie praktische Merkhilfen sind, oder mich ablenken oder stören, aber ganz bestimmt hat nicht jeder und jede auf die gleiche Weise so nen Quatsch verknüpft.

Wieselberg: Mit Variabilität tun sich Maschinen offenbar schwerer als Menschen. Was spricht aber dagegen, dass man aufgrund so einer Statistik z.B. sagt: Im 16. Jahrhundert wurden mehr „schöne“ Wörter verwendet als im 17. Jahrhundert, die Gesellschaft ist also negativer geworden…

Cotten: Mit solchen groben Kategorien ist das langweilig. Das reproduktive Verstärken des ohnehin Erfolgreichen erinnert mich an bestimmte Neophyten, die eine irgendwie robustere Art des Daseins haben und mit ihrem Erfolg Spezies übertönen und verdrängen, die auch fragile Balancen in ihren Ökosystemen angewiesen sind. Gleichgültig ob Internet, Hollywoodfilme, Werbung oder Profiling-Methoden der Polizei: Ich würde mir wünschen, dass die Differenzierungsmöglichkeiten subtiler wären als „ist so“, „ist nicht so“, oder „ist 20 Prozent so“. Für Menschen sind das Nicht-Informationen. Wenn 20 Prozent Regen vorhergesagt wird, kann ich nicht 20 Prozent Regenschirm mitnehmen. Mit einer binären Skala kommt man nur zu unbefriedigenden Nicht-Lösungen. Um daraus zu sinnvollen, auch digitalen Handlungen zu kommen, braucht man eine subtilere Grammatik und eine Palette der Figuren der Bedingtheit, der Relationalität, einer genaueren Beschreibung des Möglichen und des Irrealen, die solche nichtfaktischen Räume ermöglichen.

Wieselberg: Kommt daher auch der Respekt vor der Quantenphysik, wo es quasi zugleich regnen und nicht regnen kann?

Cotten: Ja, definitiv Respekt. Aber ich lass die Finger davon, weil es zu viele Theorien gibt, die einfach ein „Quantum“ anhängen, und dann geht es gleich in Richtung Esoterik. Jedenfalls gibt es ab dem 20. Jahrhundert diesen Riss im rein linearen und faktischen Denksystem. Er hat das dominante Paradigma des utilitaristischen Sprechens aber kaum gestört, weil das gebaut ist, um zu übertönen. Und, das klingt jetzt wieder klischeehaft, das hat etwas mit der US-Kolonialtradition zu tun. Der typische Algorithmus der Kolonialisierung ist, dass sich das Brutalere durchsetzt, dass sich das Nichtwissen über lokale Spezifitäten durchsetzt.

Wieselberg: Wie sind Sie gerade auf die Metapher des „memory foam“ – also „Erinnerungsschaum“ – gekommen?

Cotten: „Memory foam“ ist ein Produktname für viskoelastische Schaumstoffe mit sogenanntem Formgedächtniseffekt. Sie speichern länger, als wir es gewohnt sind, einen Abdruck ihrer lokalen Deplatzierung. Moos, eine dichte Rasendecke, Gebüsch, aber auch Celluliteschenkel bieten solche Eigenschaften. Die NASA hat die beeindruckbaren weichen Flächen mit gewissem Widerstand in den 60er Jahren für die Raumschifffahrt entwickelt und dann für die kommerzielle Nutzung freigegeben.

Wieselberg: Damit versuchen Sie, Kulturgeschichte zu beschreiben, was hat das Bild „memory foam“, was andere nicht haben?

Cotten: Das ist auf keinen Fall eine Wundermetapher (lacht), sondern ein Prototyp, wo ich das erste Mal versuche zu begründen, warum Metaphern nicht zu vermeiden sind, sondern wie man sie als Mittel skeptischen Denkens nutzen kann. Zumeist gelten Metaphern ja maximal als blumige Ausschmückungen einer seriösen Rede. Ich sehe Metaphern hingegen als Mittel des Denkens, das dabei hilft, skeptisch zu denken und mögliche Probleme in einer Konzeptionalisierung zu entdecken. Eine Metapher wie „memory foam“ mit spezifischen physikalischen Eigenschaften kann helfen, eine eher kulturgeschichtlich als naturwissenschaftlich verankerte Metaphorik, die im Alltagssprachgebrauch aber extrem präsent ist, etwas zu verfeinern und auf den neuesten Stand zu bringen.

Wieselberg: Wir brauchen also neue Metaphern?

Cotten: Ja, denn das Metaphorische bietet generell die Möglichkeit, Sachen intuitiv zu modellieren und prognostizierbar zu machen, die jenseits von „ist so“ und „ist nicht so“ stattfinden. Wobei metaphorisches Sprechen natürlich die ganze Zeit stattfindet: aber unbewusst und mit toten und in mittelalterlichen Weltbildern verankerten Metaphern. Peter Sloterdijk hat zwar ein ganzes Buch über Schäume geschrieben, das aber v.a. kulturgeschichtlich unterwegs ist und Schaum als etwas Flüchtiges, nicht Seriöses beschreibt. Ein Bild wie Schaum ist sehr anregend, solange man beim Titel bleibt. Liest man dann, wie Sloterdijk es auslegt, ist das assoziativ und ziemlich herrisch herumwertend. Mir würde vorschweben, dass man mit Metaphern auch so arbeiten kann, dass sie transparent, andockbar, wiederverwertbar, kritisierbar, widerlegbar sind. Die Metapher als Vehikel auch mit allem verfügbaren Wissen zu füttern, denn sie ist mnemotechnisch potent. Wenn man einmal gehört hat, wie „memory foam“ funktioniert, dann sieht man „memory foam“ und denkt gleich an alles Mögliche. D.h. es verknüpft mehr die Welt der Wissenschaft, die Welt der Kulturgeschichte und die moralische Urteilsmaschinerie, die wir alle in uns tragen.

Wieselberg: Sie schlagen ja neben dem memory foam noch eine weitere Metapher für Kulturgeschichte vor – Viskosität, ein Begriff aus der Chemie, der die Zähflüssigkeit oder Zähigkeit von Flüssigkeiten und Gasen beschreibt. Warum?

Cotten: Beide sind Metaphern, die Dynamiken und Bandbreiten jenseits von „schnell“ und „langsam“ beschreiben. Beide sollen Zwischenbereiche bezeichnen – einerseits gegenüber einer Betonung der Veränderlichkeit schlechthin und andererseits gegenüber einer Starre. Ich finde es wichtig, diese Zwischenbereiche zu denken, sich eine ganze Palette von Schnellheit und Langsamkeit in der Kulturgeschichte vorzustellen. Also: Welche Dinge können dazu führen, dass sich Dinge schneller oder langsamer verändern? Führt z.B. ein geregeltes Sozialsystem zu schnelleren Veränderungen, weil Menschen mobiler sind im Denken und nicht so sehr an ihre Familien gebunden? Oder schaut das nur in einem Bereich so aus und fließt in einem anderen wieder in die Vorsintflut zurück, wenn sich etwa herausstellt, dass die Individuen sich noch ärger mit Gleichgesinnten umgeben als die Blasen, die durch Familien entstanden. Dann kann man nach der Fähigkeit fragen, das Ökonomische und das Ideologische zu trennen. Ausdifferenzierte Bilder helfen, über komplexe Massen und Dynamiken halbwegs komplex nachzudenken, weil es immer schwierig ist, die Brücke von der spezifischen Beschreibung eines Mechanismus zu einer statistischen Masse davon zu schlagen. Wir sind sterbliche, depperte Wesen, die Schwierigkeiten haben, sich vorzustellen, was als Zahlen oder Wahrscheinlichkeiten vorgelegt wird. Wir brauchen Bilder, die Emotionen machen wir schon selber. Und weil wir Bilder sowieso brauchen, ist es besser, bessere, genauere und modernere Bilder zu verwenden.

ORF, 10.5.2021

Hugo-Ball Preis 2017:

Ann Cotten – Shootingstar der Lyrikszene. Vorgestellt von Theo Schneider | Seit 1990 vergibt Pirmasens den Hugo-Ball-Preis in Erinnerung an den berühmtesten und dort lange geschmähten Sohn der Stadt. U.a. hat ihn Oskar Pastior erhalten, Cees Nooteboom und Feridun Zaimoglu. Die jüngste Preisträgerin ist Ann Cotten. Die Wiener Autorin galt lange als Wunderkind und Shootingstar der deutschen Lyrikszene. Inzwischen hat sie eine ganze Reihe von Titeln veröffentlicht, die sie als äußerst vielfältige Autorin zeigen. Den Hugo-Ball-Preis erhielt Ann Cotten, so die Begründung der Jury:

… für ihr eigenwilliges und originelles Werk, in dessen Texten sich Politik, Philosophie und ästhetisches Kalkül zu oszillierenden Gebilden verbinden, die sich gleichermaßen der Revolte wie der Schönheit verschrieben haben.

In SWR2 Lesezeichen am 15.4.2017 unterhält sich Theo Schneider mit der Autorin über ihre Literatur und ihre Gemeinsamkeiten mit Hugo Ball und Ann Cotten liest aus neuen Texten.

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + KLG + FacebookPIA
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde OhlbaumKeystone-SDA +
Autorenarchiv Susanne SchleyerBrigitte Friedrich Autorenfotos
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Ann Cotten und Antye Greie alias AGF (EPHEMEROPTERAE IX), 2015.

 

Ann Cotten im Gespräch mit Alexander Kluge: Im Urwald, wo die wilden Wörter wohnen.

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