Cettina Rapisarda: Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „An Nelly Sachs“

Im Kern

Im Kern

– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „An Nelly Sachs“ aus Johannes Bobrowski: Schattenland Ströme. –

 

 

 

 

JOHANNES BOBROWSKI

An Nelly Sachs

aaaaaaaaaaDie Tiere haben Höhlen und die Vögel
aaaaaaaaaaunter dem Himmel haben Nester

Höhlen, das Waldgetier
fährt hinab,
und der versengt und geschwemmt
war, der Holzpfahl Perun,
in die Erde auch
ist er gegangen, unter
den Dnjepr, so schreit noch aus
der Strom seine Rede: Kommt
von zerbrochnen Gehölzen, Tiere
kommt, das Getier hat Höhlen.

Der die Himmel trägt,
über Türmen
steht er des Lichts, für ihn
ist der Baum, seine Brut
unter den Flügeln, Schatten
nährt ihn und Regen, die Vögel
die eiligen Herzen,
haben ein Nest.

(Hoch, ein Aufschein, der Adler
zog, in den Fängen
die schreiende Nachtigall, über
der Brandstatt riefen die Schwalben –
der Bewohner der Höhle
fiel auf die Erdwand, Sand
um die Schläfe strich er,
die Wurzeln fraßen
Gesicht und Gehör.)

Wer hat, daß er sein Haupt
lege, der wird
schlafen, hören aus Träumen
in einen Schrei, der die Ebenen
abfliegt, über Gewässern
fliegt – ein Licht kam, zwei Hügel
bogs auseinander, erkennbar
der Pfad, die Steine, Ufer
grün vor Glanz – der Schrei
lautlos, „Löwenzahns Samen,

nur beflügelt mit Gebeten“.

 

„Schrei, der die Ebenen abfliegt“

– Johannes Bobrowskis Gedicht „An Nelly Sachs“. –

Für einen Band, den Hans Magnus Enzensberger zum siebzigsten Geburtstag von Nelly Sachs herausgab, entstand im August 1961 ein Gedicht, das Bobrowski später in der Sammlung Schattenland Ströme mit dem Titel „An Nelly Sachs“ aufnahm. Dass dieses Gedicht als Hommage zu verstehen ist, wird nicht nur durch den Titel, sondern explizit in den Schlussversen deutlich, die als wörtliches Zitat aus einem Gedicht der Autorin kenntlich gemacht sind.1 Ebenso akzentuiert ist der dialogische Charakter dieses Textes, der, wie der Titel formuliert, ausdrücklich an die Dichterin selbst gerichtet ist. Den Implikationen dieses poetischen Dialogversuchs folgend eröffnet dieses Gedicht, wie zu zeigen sein wird, einen spezifischen Blick auf die poetologische Orientierungssuche des Autors, die sich – wie bisher von der Forschung wenig untersucht wurde – auch in Auseinandersetzung mit dem Werk von Nelly Sachs vollzogen hat.
Bobrowskis intensive Lektüre ihrer Texte ist auf Anfang 1960 zu datieren. Man kann den ausgewählten Dokumenten des Marbacher Ausstellungskatalogs entnehmen, dass sich bei ihm innerhalb kurzer Zeit ein Wechsel von einer eher distanzierten Haltung gegenüber der Dichterin zu deren großer Bewunderung vollzog. Auf die Äußerung vom Januar 1960, bei der ein negativer Unterton mitklingt, dass Nelly Sachs „[…] für mein Gefühl an einem einzigen, immerwährenden Gedicht schreibt, in das alles aufgeht, das auch nicht enden kann“,
2 folgt im Februar der Bericht:3

Ich komm noch gar nicht los davon, weil die bisherigen Eindrücke so völlig überholt werden mit dem netten Band. Das ist ganz unvermutet und darum um so mächtiger. Und ,literarischem Urteil‘ ganz entzogen. In dieser Region gibt es ,abgegriffene Worte‘ nicht mehr, keine Kriterien. Nur Bewunderung.

In dieser Äußerung verbinden sich offensichtlich einerseits eine Leseerfahrung, die später im Widmungsgedicht Ausdruck findet, und andererseits eine „Devise“ Bobrowskis, für die er in verschiedenen Formulierungen auf Hamann rekurrierte, „[…] daß den Deutschen nicht einmal objektive Feststellungen über die Juden erlaubt sein können. Ich bin da fromm: jeder Jude ist mir ein Beweis göttlicher Weltordnung.“4
Es ist unumgänglich, in diesem Zusammenhang die gescheiterte Kommunikation zwischen Bobrowski und Celan einzubeziehen, die im Mittelpunkt zahlreicher aktueller Reflexionen steht. Gleichwohl soll dies hier nicht in Form einer Prämisse geschehen, nach der das Scheitern jener Beziehung zwingend auch auf die poetische und briefliche Begegnung Bobrowskis mit Nelly Sachs übertragen werden müsse. Eine solche Einschätzung kann durch die vorhandenen Zeugnisse nicht gestützt werden,5 zumal 1965 Bobrowski anlässlich der geplanten einzigen Berlinreise von Nelly Sachs als eine wichtige vertrauenswürdige Bezugsperson erscheint.6 Vergleichbar war dagegen offenbar die Bedeutung von Sachs und Celan in Hinblick auf Bobrowskis problematische Schreiblegitimation, die er selbst mehrfach und schonungslos direkt formuliert hat.

Das Thema Osten usw. gehört mir ja im Grunde gar nicht, ich bin weder Pole noch Russe und schon gar nicht Jude. Das einzige, was mich berechtigen könnte, ist: wenn ichs nicht sage, ist wieder einer weniger, der es den Deutschen, also meinen Leuten, vor Augen stellt. […] legitimieren müßte mich wohl erst einmal die Zustimmung der Betroffenen.7

Es ist zu berücksichtigen, dass Bobrowski diese oft zitierte Briefpassage in Bezug auf Celans für Nelly Sachs verfasstes Brief-Gedicht „Zürich, Zum Storchen“ schrieb. Es weckte als Briefgedicht zwischen Celan und Sachs Bobrowskis besonderes Interesse, noch bevor er es im August 1960 lesen konnte. Die Anlage als Briefgedicht ist auch für Bobrowskis Widmungstext an Nelly Sachs nicht zu übersehen.8

AN NELLY SACHS

aaaaaaaaaaDie Tiere haben Höhlen und die Vögel
aaaaaaaaaaunter dem Himmel haben Nester

Höhlen, das Waldgetier
fährt hinab,
und der versengt und geschwemmt
war, der Holzpfahl Perun,
in die Erde auch
ist er gegangen, unter
den Dnjepr, so schreit noch aus
der Strom seine Rede: Kommt
von zerbrochnen Gehölzen, Tiere
kommt, das Getier hat Höhlen.

Der die Himmel trägt,
über Türmen
steht er des Lichts, für ihn
ist der Baum, seine Brut
unter den Flügeln, Schatten
nährt ihn und Regen, die Vögel
die eiligen Herzen,
haben ein Nest.

(Hoch, ein Aufschein, der Adler
zog, in den Fängen
die schreiende Nachtigall über
der Brandstatt riefen die Schwalben –
der Bewohner der Höhle
fiel auf die Erdwand, Sand
um die Schläfe strich er,
die Wurzeln fraßen
Gesicht und Gehör.)

Wer hat, daß er sein Haupt
lege, der wird
schlafen, hören aus Träumen
in einen Schrei, der die Ebenen
abfliegt, über Gewässern
fliegt – ein Licht kam, zwei Hügel
bogs auseinander, erkennbar
der Pfad, die Steine, Ufer
grün vor Glanz – der SchreiI
lautlos, „Löwenzahns Samen,

nur beflügelt mit Gebeten“.

In diesem Gedicht wird der sarmatische Themenkomplex Bobrowskis nicht um neue Elemente erweitert, sondern viel eher in einer synthetischen Form vorgestellt, was dem Entstehungsanlass durchaus entspricht. Die Benennungen in der ersten Strophe des Gottes Perun und des Flusses Dnjepr sind sowohl geographische Verortungen als auch Geschichtszeichen, etwa im Hinweis auf die sogenannte Taufe von Kiew 988, wie Eberhard Haufe nachweist.9 Eine Weiterführung findet dieser Themenkomplex in der dritten Strophe, insbesondere mit dem Bild des Adlers – eines Raubvogels, Jägers der Natursphäre, zugleich eines militärischen Emblems, historischen Herrschaftssymbols. Hier wird jene Linie angedeutet, die aus Sicht Bobrowskis von der blutigen Zwangschristianisierung und der Herrschaft des Deutschritterordens bis in die jüngste Geschichte führte.
Die Bilder des Gedichts sind in ihren biblischen Bezügen, die es durchgängig prägen, von Alex Stock in seiner Interpretation mit großer Genauigkeit untersucht worden. Am Beispiel des „ornithologischen Bildgefüges“ argumentiert er, es handle sich um eine ,Zusammensetzung‘ im Hamann’schen Sinne, „eine poetische Komposition aus dem ,Wörterbuch der Bibel‘“:

Auf kleinstem Raum werden Elemente biblischer Ornithologie, die in der Schrift weit verstreut sind, versammelt. Sie werden nicht addiert, sondern zu einem Bildgefüge kontrahiert, das es vorher so nirgendwo gegeben hat.10

Angesichts des historischen Entstehungskontextes, durch den bereits eine Verbindung alt- und neutestamentlicher Textstellen in der Kommunikation mit der jüdischen Dichterin programmatische Bedeutung gewinnt, wird hier allerdings, anders als bei Stock, nicht nur nach der Herkunft von Textstellen, sondern vor allem nach der spezifischen Aktualisierung unterschiedlicher intertextueller Bezüge zu fragen sein, die ohne Berücksichtigung des Werks von Nelly Sachs nicht aufzudecken sind.
Vor allem das poetische Verfahren Bobrowskis, bei dem der Bildaufbau des Gedichts einem vorangestellten Zitat sakraler Provenienz folgt, ist Nelly Sachs verpflichtet. In den Gedichten des Bandes In den Wohnungen des Todes von 1947 sind es Zitate alttestamentlicher oder chassidischer Tradition,11 die gleichsam als Losungen vorangestellt werden und als Fragmente, Bruchstücke – aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst – in ein spannungsreiches Verhältnis zum modernen Text treten. Das Fragmentarische charakterisiert das Motto auch bei Bobrowski, der sich die Freiheit einer leichten Modifikation sowie der Elision zugesteht:

Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hin lege (Mt 8, 20; Lk 9, 56).

Da das bekannte Bibelwort auf eben den im Motto nicht ausgesprochenen Schluss zielt,12 erklingt dieser um so deutlicher im Leser und wird als verschwiegener Schlüssel zum Gedicht verinnerlicht. Aus der Vorstellung eines fehlenden Ortes, d.h. einer Existenz ohne gesicherten Ort, leitet sich, so meine These, das semantisch vielschichtige Zentrum von Bobrowskis Gedicht und dessen betont räumliche Strukturiertheit der Bilder her.
In einer Gesamtvision von Vernichtung und Katastrophe, die das Gedicht charakterisiert, führen uns die Darstellungen der ersten Strophe in einen Bereich der Tiefe, in der eine Erinnerung an eine gewaltsam niedergeschlagene Naturreligion wach bleiben konnte und mit der eine Vorstellung von provisorischem Schutz und von Verstecken verbunden werden kann. Der Raumstrukturierung des Mottos folgend führt die zweite Strophe in eine Sphäre der Höhe, in der den wehrlosen Vögeln eine luftige, prekäre Heimstatt zugedacht ist. Die dritte Strophe führt beide Bereiche, Höhe und Tiefe, in neuen Bildern von Bedrohung und Tod zusammen: Die Nachtigall erliegt dem Jäger aus der Höhe, dem Adler, und einem Bewohner der Höhle wird diese zum Ort der Verschüttung und des Verfalls.13 Die Erfahrung des nicht ausgesprochenen Teils des Bibelzitats die Erfahrung der Rast- und Schutzlosigkeit, erscheint somit als allgegenwärtiges Prinzip der im Gedicht entworfenen Welt. Die Bilder der dritten Strophe implizieren die Zerstörung der in den ersten beiden Strophen noch aufrechterhaltenen Hoffnung auf eine Ordnung, in der einer Bedrohung und Gejagtheit zumindest das Versprechen von schützenden Bereichen und Ruhepausen gegenüberstand.
Betrachten wir die Bilder der letzten Strophe zunächst nur in der Logik einer abstrahierten Räumlichkeit, so ist es in Rücksicht auf das Motto nur folgerichtig, dass sich – im Unterschied zu den vertikalen Bewegungen der vorangegangenen Strophen – hier horizontal organisierte Bilder finden, in denen die Ebene, Wasserflächen und ein Pfad der Bildorientierung dienen. In dieser Strophe nähern wir uns dem Bibelzitat folgend der Figur Jesu, wenngleich aus der Distanz derer, die einen Ort zum Ruhen finden, etwa der Jünger, die ihm zwar folgen, jedoch nicht eine Nacht mit ihm wachen. In dieser Strophe werden in einer Schlaf- und Traumdimension Bilder der Erlösung entworfen. Die sakrale Bedeutung der Lichterscheinung im zweiten Teil der Strophe erschließt sich sowohl aus christlicher wie aus jüdischer Tradition und führt neue Bilder ein, denn die benannte Farbigkeit, das Grün in Vers 9, steht im Gegensatz zu den vorangegangenen, vorwiegend dunklen Bildern;14 die Lichtvisionen der zweiten Strophe können als andeutende Vorbereitungen des Schlusses gelten. In der letzten Strophe wird das Motiv des Schreis aufgegriffen, das die verschiedenen räumlichen Bereiche des Gedichts verbindet: es hallt aus der Tiefe der Schrei des gestürzten Gottes (Vers 7) und aus der Höhe der Schrei der erjagten Nachtigall (Vers 21). In diesem „einen Schrei“ (Vers 31), der in der letzten Strophe die Landschaft erfüllt und in ihrer Weite vorstellbar macht, der geheimnisvoll aus einem Zustand von Schlafen und Hören (Vers 30) wahrnehmbar wird, in den es ,hineinzuhören‘ gilt, finden die vorangegangenen Visionen von Leid und Zerstörung einen intensiven, vereinigenden Ausdruck. Dieser Schrei wird im zweiten Teil der Strophe überführt und verwandelt in ein Gebet, das lautlos ist und durch Schweigen (wie es die Leerzeile schafft) getragen wird und das Bobrowski im kenntlich gemachten Zitat, also mit den Bildern von Nelly Sachs, andeutet.
Wenngleich die erlösende Lichtvision der letzten Strophe sich im Großen und Ganzen erschließt, so sind doch, wie auch Stock in seiner kenntnisreichen Analyse bestätigt, hier die Bilder durch Bibelreminiszenzen nicht zu deuten. Sie können, so meine These, nur in einem anderen intertextuellen Gefüge verstanden werden: Eine sakral apostrophierte Lichtvision in horizontaler Bewegung steht im Zentrum von Celans Gedicht „Zürich, Zum Storchen“.

Am Tag einer Himmelfahrt, das
Münster stand drüben, es kam
mit einigem Gold übers Wasser.
(Vers 9ff.).

Es ist bekannt, dass der visuelle Eindruck von Licht und Farbe über der Wasserfläche als eine reale gemeinsame Wahrnehmung in dieses Gedicht aufgenommen worden ist und so ein sehr ungewöhnliches Bild mit der Himmelfahrt assoziiert hat, deren übliche aszendierende Repräsentation bereits vom Namen suggeriert wird. Indem er im Gedicht Celans ein Gespräch über Religion erkennt, ergreift Bobrowski seinerseits das Wort.15
Bobrowski übernimmt in seinem Gedicht aus christlicher Sicht den Gedanken der Himmelfahrt, der beiden Religionen gemeinsam ist und im Werk von Nelly Sachs in zahlreichen Gedichten thematisiert wird. Jedoch behauptet Bobrowskis Gedicht keine Gewissheiten der Religion, es gestaltet vielmehr das Vorherrschen des Zweifels, der Ungewissheit, aus der erst Vorstellungen des Glaubens versuchsweise, als Visionen der Hoffnung und des Leidens sich entfalten. Bobrowskis Gedicht ist in der Anlage „Zürich, Zum Storchen“ insofern verwandt, als am Ende, mit einem Zitat von Nelly Sachs, ein Bekenntnis zum Glauben nur in der Sprechweise des Flüsterns, des Hauchens, der bruchstückhaften Sätze formulierbar scheint.16
Das Motiv der Himmelfahrt steht auch im Mittelpunkt von Nelly Sachs’ Gedicht „Landschaft aus Schreien“, auf das unverkennbar Bobrowskis Text Bezug nimmt.17 In einer Grauensvision18 führt dieses Gedicht in ein Universum, in dem die Schmerzensschreie gequälter Kreaturen den gesamten darin vorgestellten Raum erfüllen: Qualen von Tier („Schreie, mit zerfetzten Kiefern der Fische verschlossen“, Vers 13) und Mensch verlangen nach Ausdruck, hier sind sich Altes und Neues Testament verwandt („Hiobs Vier-Winde-Schrei / und der Schrei verborgen im Ölberg / wie ein von Ohnmacht übermanntes Insekt im Kristall“ Vers 26ff.) und werden die Katastrophen menschlicher Geschichte mit nur zwei Namen des Grauens evoziert („Maidanek und Hiroshima“, Vers 32). Es ist jedoch in der Wendung des Gedichts zugleich der aufsteigende Schrei, der in seiner Bewegung eine Verwandlung anzuzeigen vermag, und dies als eine Himmelfahrt:

Dies ist die Landschaft aus Schreien!
Himmelfahrt aus Schreien,
empor aus des Leibes Knochengittern,
(Vers 21ff.).

In dieser Wendung des Textes besteht die Verwandtschaft zu dem bei Bobrowski zitierten Gedicht „Dieses Land“, in dem in einer Schlafvision sich eine göttliche Präsenz als erkennbar erweist und eine Auferstehung denkbar wird.19 Die Zusammenführung von Schrei und Gebet ist dagegen in einem anderen bedeutenden Gedicht der Moderne mit einzigartiger Intensität gestaltet worden: Else Lasker-Schülers Gedicht „Mein Volk“ von 1912 schließt mit den Versen:

Wenn schauerlich gen Ost
Das morsche Felsgebein
Mein Volk
zu Gott schreit.
20

Auf solche Vision einer aus dem Verfall neuen Ausdruck findenden Religiosität bezog sich Georg Trakl im Gedicht „Abendland“, das er „Else Lasker-Schüler in Verehrung“ widmete. Dieses Gedicht war Teil eines lyrischen Dialogs über Religion, den Lasker-Schülers in ihrem Gedicht „Georg Trakl“ mit den Worten bezeichnete:

Wir stritten über Religion
aber immer wie Spielgefährten
(Vers 5f.).

Der von Bobrowski mit seinem Gedicht initiierte Dialog über Religion, für den Lasker-Schüler und Trakl literarisches Vorbild gewesen sein mögen, wurde von Nelly Sachs nicht zurückgewiesen. In ihrem Brief vom 30.11.1964, ihrem zweiten Brief an Bobrowski, greift sie die Judentum und Christentum verbindende Lichtsymbolik auf:21

Und was hast Du mir für ein Geschenk gemacht, mit dem mir gewidmeten wunderbaren Gedicht.
Wie leuchten alle Deine Worte –

In Bobrowskis Brief vom 8.10.1964 finden sich Hinweise darauf, dass bei ihrer persönlichen Begegnung im September 1964 ein Gespräch über Religion mündlich geführt bzw. weitergeführt worden war, und er erwähnt darin das in seiner Dichtung so wichtige Motiv eines über das Wasser kommenden Lichts. Die wenigen ausgetauschten Briefe bestätigen für beide Seiten die Intensität ihres Zusammentreffens und des gegenseitigen Verstehens.22
Bobrowskis Gedicht bezeugt das intensive Begreifen von Nelly Sachs’ Dichtung – und damit das Verständnis für die Problematik ihrer existentiellen Selbstlegitimation im Schreiben. Durch das zentrale Thema einer Existenz ohne gesicherten Ort ist das Gedicht „An Nelly Sachs“ mit einer Reihe weiterer Texte von ihr verbunden, unter denen als programmatisches Gedicht „In der Flucht“ der Sammlung Flucht und Verwandlung von 1959 genannt werden kann.23 In den Anfangsversen „In der Flucht / welch großer Empfang / unterwegs –“ und den Schlussversen „An Stelle von Heimat / halte ich die Verwandlungen der Welt –“24 benennt dieser Text die Bezugspunkte einer literarischen Existenz, die sich im „unterwegs“ und der Unsicherheit einer „Flucht“ definiert. Zu dieser Position gelangt die Dichterin allerdings erst durch einen langen Weg der Unsicherheit, der Zweifel und der religiösen Suche, wie sie in zahlreichen Briefstellen formuliert und in den poetischen Texten erkennbar sind. Hier sei nur eine Briefpassage angeführt:

Ich wage kaum daran zu denken, daß ich mich an das Gewaltige gewagt habe, – mit meiner Armut – aber in den Chassidim steht – daß es jeder darf, auch der Hausierer, der über Land geht mit seiner Ware und die Steine und die Blumen auf rechte Weise ansieht […]25

Es verwundert nicht, dass Bobrowski diese quälende Unsicherheit der Dichterin ihren Texten abzulesen wusste, vergleicht man seine Beschreibung der eignen Aufgabe, „[…] eine große tragische Konstellation in der Geschichte auf meine Schulter nehmen, bescheiden und für mich, und das daran gestalten, was ich schaffe.“26
Bezogen auf eine Verständigung beider Dichter über diese Bedeutungsebene des Widmungsgedichts findet sich eine Bestätigung in Sachs’ Brief vom 7.12.1964, in dem sie eine frühe Fassung des folgenden (später in der Sammlung Glühende Rätsel III erschienenen) Textes schickt:27

Bin in der Fremde
die ist behütet von der 8
dem heiligen Schleifenengel
Der ist immer unterwegs
durch unser Fleisch
Unruhe stiftend
und den Staub flugreif machend –

Die Erfahrung einer ungesicherten Existenz findet hier eine Bejahung, und die Unruhe, das Vertrauen auf die magische Kraft poetischer Zeichen werden zu literarischen Quellen.
Bobrowskis Gedicht „An Nelly Sachs“ zeigt, so lässt sich auf der Grundlage der vorangegangenen Interpretation argumentieren, dass er die Position der ein Jahr zuvor, im August 1960 formulierten, eingangs angeführten Briefpassage in mehrfacher Hinsicht verabschiedet hat. Zunächst zeugt dieses Gedicht davon, dass er nicht länger angenommen haben kann, eine Dichterin wie Nelly Sachs habe es leichter in Hinblick auf die eigene literarische Legitimation.28 Das belegt schon sein Rekurs auf ihr frühes poetisches Verfahren, bei dem die vorangestellten Mottos eine leitende Funktion der vergewissernden Einbindung in religiöse Tradition zukam.
Dieses Gedicht lässt sich zum anderen, lesen wir es im Kontext von Bobrowskis eigenen Fragestellungen, als eine poetische Reflexion deuten – als eine Reflexion über das Sprechen aus einer Position der Unsicherheit und Rastlosigkeit, die unüberwindbar erscheint. Gerade solche Ungesichertheit wird hier als produktiver Ausgangspunkt des Schreibens gedacht, und das, wie es am Ende des Gedichts „An Nelly Sachs“ heißt:

nur beflügelt mit Gebeten.

In diese Richtung geht jedenfalls die Argumentation in Bobrowskis Rede „Benannte Schuld – gebannte Schuld?“ vom Dezember 1962, deren Worte über die eigene literarische Legitimation fast wie eine andere Formulierung des lyrischen Schlusses lauten:

es muss getan werden, nur auf Hoffnung hin.29

Cettina Rapisarda, aus Andreas Degen und Thomas Taterka (Hrsg.): Zeit aus Schweigen. Johannes Bobrowski – Leben und Werk, Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, 2009

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