David Rokeah: Poesie

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von David Rokeah: Poesie

Rokeah-Poesie

SONNENJAHRE

Zähle die Wandlungen der Sonnenjahre
an den Traumfurchen der Masten
an den Verästelungen des Ölbaums
an den Jahresringen der Birke
an den Verwitterungen der Steine am Weg
an den Muscheln die den Rückzug des Meers vom
aaaaaLand verbergen
an den Rostschichten auf den Trägern der Mole
an den Ablagerungen in der vergessenen Erde

Zähle die Lockerungen von einst
Segelboote die nicht zurück zum Ankergrund wollen

Übersetzt von Erich Fried

 

 

 

Nachwort

Wenn ein Mensch sich selbst nicht richtet, richten
ihn alle Dinge, und alle Dinge werden zu Boten Gottes.
Rabbi Nachman

Nicht jedes Gedicht, das die Distel und den Fels, den Ölbaum und das Schilf beim Namen nennt, läßt sich dem zuschlagen, was in Deutschland Naturlyrik heißt. Einer Poesie, die uns aus andern Räumen, aus fremden Sprachen zukommt, sollten wir es lieber ersparen, sie auf den ersten flüchtigen Blick hin einem Herbarium einzuverleiben, dessen Schaustücke nur in unserer eigenen Tradition so recht haben gedeihen können. Deutsche Empfindsamkeit und deutsche Romantik, zuweilen eingeschrumpft zur kunstgewerblichen Reminiszenz, sind die historische Substanz, von der unsere Naturlyriker, von Lehmann und Huchel bis zu Britting und von der Vring, zehren; was aber bei René Char der Blitz, bei Rafael Alberti das Meer, was bei Saint-John Perse der Schnee und bei William Carlos Williams der Steinbrech zu bedeuten hat, das ist aus solchen Voraussetzungen nicht abzuleiten. Hat man es gar mit einer Poesie zu tun, deren Herkunft und Gegenwart uns so unvertraut ist wie die der hebräischen Moderne, so empfiehlt sich wenigstens ein zweiter Blick auf den Text, ehe man ihr einheimische Namen anhängt.
Ein zweiter Blick auf David Rokeahs Gedichte genügt, um ihre Distanz von jener sentimentalischen Kunstübung zu ermessen, die bei uns im Schwange war und immer noch ist. Schilf, Sand und Stein sind darin von der dunstigen Aura gänzlich frei, mit der die romantische Empfindung für uns das Naturding begabt hat. Es wird hier weder verbos beschrieben, noch mythologisiert oder beschworen, sondern gleichsam naiv beim Wort genommen; und dieses Wort ist außerordentlich sparsam, knapp und schmucklos. Auch spricht Rokeah, wenn er von der Pinie spricht, nicht von deren Wesen, meint keine platonische Idee, hat durchaus nicht die Pinie „überhaupt“ im Sinn; sondern einen Baum, den er gesehen hat, ruft er herbei. Nicht eigentlich Natur also ist hier gemeint (und am allerwenigsten als Ausrede vor der Zivilisation), sondern Landschaft, bewohnt, beschritten, erfahren. Die Grenzen dieser Landschaft, und zugleich ihr Horizont, sind Meer und Wüste. Sie sind, wie Adriaan Morrien bemerkt hat, die beiden großen Symbole, die man in Rokeahs Versen antrifft; aber zuvor und zunächst geben sie auf das genaueste die Grenzen des Landes an, in dem der Autor zu Hause ist: die Grenzen Israels. Leer ist ein dichterisches Symbol, das sich nicht, wie der zerbrochene Ring, jederzeit handgreiflich zusammenfügen ließe: der Atlas zeigt die konkrete Hälfte der Landschaft, von der Rokeah spricht. Und ihre Geschichte belehrt uns über den Sinn seines Unternehmens: seine Gedichte vergewissern sich durch die Sprache der Gebirge, der Seen, der Küsten eines sehr alten Landes, das zu einem sehr neuen Gemeinwesen geworden ist. Sie sind eine poetische Landnahme.
„Man hat mir“, sagt Rokeah selbst, „zuweilen verübelt, daß ich in meinen Gedichten nicht deutlich Stellung nähme zu den Problemen des Augenblicks. Ein aufmerksamer Leser wird ihnen Tag für Tag meinen Standpunkt ablesen können. Ein Vers wie der folgende: ,Die Wüste soll nicht aus dem Negev verschwinden / ehe sie nicht aus den Herzen verschwunden ist‘, – ein solcher Vers hat auch auf die aktuelle Situation Bezug, aus der heraus er geschrieben ist. Das ist die Regel, nicht die Ausnahme.“ Nicht anders, wo Rokeah von „der Mauer“ spricht. Sie taucht in vielen seiner Gedichte auf; keine unverbindliche Metapher, sondern eine steinerne Realität in Jerusalem, der anderen zweigeteilten Hauptstadt der Gegenwart. Vergebens wird man in den Werken dieses Autors den Schrei, den Schlachtruf oder die politische Parole suchen; er äußert sich beharrlich, aber verschwiegen, mit jener Deutlichkeit, die des Fanatismus entraten kann: der Deutlichkeit des Selbstverständlichen. So ruft Rokeah auch den historischen Auftrag seiner Poesie nicht aus, weil er ihm selbstverständlich ist.
Er erzählt:

In der Schweiz wollte ich einmal meine Armbanduhr reparieren lassen. Ich betrat das Geschäft eines Uhrmachers, der Meister sagte mir, er repariere keine modernen Uhrwerke, nur alte, deren eine Anzahl in seinem Laden hing: Uhren mit Pendeln, die die Zeit hörbar machten. Was der Mann wollte: die Zeit hörbar machen, das ist es, was auch ich mit meiner Poesie anstrebe.

Nicht also Naturlyrik auf der Jagd nach der Chimäre des „Zeitlosen“; im Gegenteil.
Mit alledem ist indessen noch nicht bestimmt, was die Dinge belebt, die in Rokeahs Gedichten eine so auffallende Rolle spielen. Fast jede menschliche Beziehung scheint verzaubert in eine Beziehung zwischen Dingen:

Die Hand die Liebesschwüre niederschreibt
wird nicht Verrat üben. Nicht verraten
wird der Fels die Zypresse.

Oder:

Weiter von dir
kaut das Meer die Nachtmuscheln
… Kies der mit Zähnen knirscht
am Strand.

In dem Gedicht „Sand“ schreit die unbelebte Materie, entsinnt sich ihrer Körner, bietet dem Wind die Stirn. Hat man es hier mit konventionellen Metaphern zu tun, Projektionen der Innerlichkeit auf die Außenwelt, die gleichsam annektiert, vermenschlicht wird? Liegt der Vergleich zugrunde: Die Hand, die Liebesschwüre niederschreibt, ist wie der Fels, der die Zypresse, die auf ihm wächst, nicht verrät? So könnte es scheinen; aber damit wäre das Naturding nicht mehr es selber, es wäre erniedrigt zum Haken, an dem die Poesie beliebig ihre Vergleiche aufhängen könnte. Was Rokeahs Poesie von aller metaphorischen Rhetorik dieser Art unterscheidet, was sie unvergleichbar macht, ist sein Glauben an die Lebendigkeit der Welt. Er ist, im Schillerschen Sinn, ein naiver Dichter. Was er vom Sand, vom Meer und vom Felsen sagt, das ist durchaus wörtlich gemeint; man könnte den Satz wagen, daß er überhaupt keine Metaphern kennt, weil er ihrer nicht bedarf.
Der stumme Stein ist in Rokeahs Augen des Schmerzes ebenso fähig wie ein Mensch. Der Satz: „Der Sand schreit“ ist kein Vergleich, sondern eine Feststellung; seine Wurzel ist nicht rhetorisch, sondern religiös. Vermutlich ist sie sehr alt; vermutlich liegt sie in der Tradition der jüdischen Mystik. Daß in allen Dingen, auch den scheinbar unbelebten, ein Funke des Lebens wohne, lehrt der Baalschem; der große Historiker dieser jüdischen Tradition, Martin Buber, sagt der chassidischen Lehre nach, ihre panentheistischen Elemente hätten ein System von monumentaler Kraft und Einheit gebildet. Nur wer es genau kennt, wird den Zusammenhang präzisieren können, der sich hier andeutet. Erweisbar aber ist, daß David Rokeah im Bann der ostjüdischen Überlieferung aufgewachsen ist.
Er ist im Jahre 1916 in Lemberg zur Welt gekommen. Die Jahre seiner Kindheit verbrachte er in einer abgelegenen Kleinstadt im Südosten Polens, die von ausgedehnten Wäldern umgeben war. In Lemberg ging er zur Schule; schon damals hat er seine ersten Gedichte publiziert, die heute verschollen sind.

Mein Vater liebte die strengen, rationalen Traktate des Talmuds. Er war ein Freund der schönen Literatur und kannte viele deutsche Werke, vor allem die der Klassiker. Er hat mich von frühester Jugend an im Hebräischen unterwiesen. Mein Großvater aber war ein wohlbekannter Kabbalist, der sich nebenbei auch mit Malerei und Architektur beschäftigte. Seine Vorstellung von der Baukunst gewann er vor allem aus der Bibel und aus dem Talmud, der den Bauplan des Tempels zu Jerusalem genau beschreibt. Diesen Tempel malte er, und es war sein Ehrgeiz, ihn so naturgetreu wie möglich wiederzugeben. Ich erinnere mich noch deutlich der kleinen Brücke, die auf seinen Bildern in den Tempel führte. Über diese Brücke bin ich nach Israel gekommen.

An der Jerusalemer Mont-Scopus-Universität begann Rokeah im Jahre 1934 hebräische Literatur zu studieren. Weil er kein Geld mehr hatte, mußte er dieses Studium aufgeben; er ging als Taglöhner in die Orangenplantagen von Kfar Saba, auch war er eine Zeitlang Straßenarbeiter. Später besuchte er ein Jahr lang die Hochschule für Rechtswissenschaft in Tel-Aviv. Schließlich entschloß er sich zu einem Studium der Elektrotechnik am British Institute und wurde Ingenieur. Diesen Beruf übt er heute noch aus. Sein erstes Buch erschien im Jahr 1939. Als er, während des Krieges, von der Ausrottung der Juden in Europa hörte, schrieb er nicht weiter. Er verlor seine Familie, er verlor seine Freunde. Tausende seiner früheren Leser waren unter den Opfern. Er hat zwölf Jahre lang geschwiegen. Heute lebt David Rokeah in Tel-Aviv und Jerusalem. Die Poesie, heißt es, sei heute in Israel die blühendste Gattung der Literatur. Die Bücher der bekannteren Dichter erreichen verhältnismäßig hohe Auflagen; die Zeitungen räumen dem Abdruck neuer Gedichte einen hervorragenden Platz ein, ebenso das Rundfunkprogramm. Ein großes Publikum beschäftigt sich mit der jüngsten Produktion; es kommt vor, daß ein neuer Text zum Tagesgespräch wird. Das hängt vielleicht mit der Situation der hebräischen Sprache zusammen; ebenso wie das Land, in dem sie gesprochen wird, ist sie uralt und zugleich im Werden. Der Poesie kommt hier, mehr noch als in anderen Ländern, sprachschöpferische Bedeutung zu; neue Erfahrungen und Begriffe verlangen nach einer produktiven Verwandlung des alten Hebräisch, das in einem ausgezeichneten Sinn eine sakrale Sprache war. „Die moderne hebräische Literatur setzt voraus, daß der Sakralsprache Gewalt angetan wird“, schreibt Professor Kurzweil, ein Literaturwissenschaftler, der an der Bar-Ilan Universität in Ramat-Gan lehrt und dem ich das wenige verdanke, was ich darüber weiß. Dieser dialektische Prozeß mit der Überlieferung, der die Bibel ebenso einschließt wie Midrasch und Talmud, hat nicht mit Rokeah begonnen, sondern mit den Pionieren der modernen hebräischen Poesie, mit Grinberg, Shlonski und Altermann. Rokeah zählt zur dritten Generation der heutigen israelischen Literatur. Die deutschen Versionen, die hier von seinen Gedichten vorgelegt werden, bedürfen einer Rechtfertigung. Für sie zeichnen nicht allein die Übersetzer verantwortlich, die in den meisten Fällen des Hebräischen nicht mächtig sind, sondern auch der Autor selbst. Rokeahs Reisen führen ihn oft nach Europa; in Zürich, London und Paris hat er, der ausgezeichnet deutsch und englisch spricht, seinen Übersetzern unermüdlich zu einem genauen Verständnis seiner Texte verholfen und sie bis ins Detail der Grammatik und der Etymologie hinein erläutert. Dabei waren viele Schwierigkeiten zu überwinden. Zum strukturellen Unterschied der beiden Sprachen kam die spezifische Situation des modernen Hebräisch, für die es im Deutschen kein Analogon gibt. Die Reibung zwischen uralten und neuen Momenten der Sprache kann keine Übersetzung wiedergeben. Im übrigen erlaubt gerade die Vielzahl der beteiligten Übersetzer eine gewisse Kontrolle der Ergebnisse, zu denen die hier versuchte, ungewöhnliche Methode der Übertragung geführt hat. So verschieden das sprachliche Temperament der Übersetzer ist, auf dem Grund der deutschen Texte tritt, als ihr Gemeinsames, die Eigenart Rokeahs deutlich genug hervor. Er ist ein Einzelgänger. „Einflüsse“ sind ihm kaum nachzuweisen; ja man mag sich fragen, ob Rokeah seinen Eliot und seinen Apollinaire, seinen Pound und seinen Neruda, die Pflichtlektüre der modernen Poesie, überhaupt zur Kenntnis genommen hat. Spezifisch für das Land, in dem er lebt, ist die Herkunft und der Auftrag seiner Dichtung. Wenn sich dennoch in diesem Besonderen das Allgemeine so deutlich ausdrückt, daß mancher Vers von Rokeah wie eine Antwort, aus anderem Ursprung, aus anderen Zonen, auf jene Stimmen, die Stimmen Chars und Eluards, Aleixandres und Paveses klingt, dann drückt eine solche Begegnung nicht Abhängigkeit aus, sondern ihr Gegenteil: den freien Wortwechsel einer Poesie, die bei sich ist und überall zugleich.

Hans Magnus Enzensberger, Nachwort

 

Die Poesie

der Gegenwart ist universell und provinziell zugleich: beides im vornehmsten Sinn; sie ist gebunden an ihre eigene Sprache, aber auch an ein gemeinsames Bewußtsein; im Besonderen bringt sie das Allgemeine an den Tag. Die Sammlung „Poesie“ setzt deswegen stets neben die Übersetzung das Original. Immer noch fehlen uns unentbehrliche Werke der modernen Poesie, besonders aus jenen Sprachen, die schwer zugänglich sind. Hier sollen sie vorgestellt werden: die alten Meister der Moderne und unter ihren jüngeren Nachfolgern die, deren Werk sich in solcher Nachbarschaft behaupten kann.

David Rokeah ist in Lemberg zur Welt gekommen. Mit siebzehn Jahren ging er nach Israel; diese Reise schildert er mit den folgenden Worten:

Mein Großvater war ein wohlbekannter Kabbalist, der sich auch mit Malerei und Architektur beschäftigt hat. Es war sein Ehrgeiz, so genau wie möglich den Tempel von Jerusalem zu malen. Ich erinnere mich noch gut der kleinen Brücke, die auf seinen Bildern in den Tempel führte. Über diese Brücke bin ich nach Israel gekommen.

„In diesen Gedichten wird das Naturding beim Wort genommen; und dieses Wort ist außerordentlich sparsam, knapp und schmucklos. Rokeah meint die Natur nicht als Ausrede vor der Zivilisation, sondern als Landschaft. Die Grenzen dieser Landschaft, und zugleich ihr Horizont, sind Meer und Wüste. Rokeahs Poesie vergewissert sich durch die Sprache eines sehr alten Landes, das zu einem sehr neuen Gemeinwesen geworden ist. Sie ist eine poetische Landnahme Israels.“ Hans Magnus Enzensberger

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1962

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

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