Derek Walcott: Der Traum auf dem Affenberg

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Derek Walcott: Der Traum auf dem Affenberg

Walcott/Tress-Der Traum auf dem Affenberg

SEEKRANICHE

„Nur in einer Welt mit Kranichen und Pferden“,
schrieb Robert Graves, „kann Dichtung überleben.“
Oder kundige Ziegen auf Felsen. Das Epos
folgt dem Pflug, das Metrum dem Schlag auf den
aaaaaAmboß;
es deutet Prophetie die Zeichen der Störche, und
aaaaaEhrfurcht
den Nackenbogen des Hengstes.

Die Flamme hat der Zypresse verkohlten Docht verlassen;
das Licht wird einfangen nun diese Inseln.

Erhabene Fregattvögel weihen die Dämmerung ein,
sie blitzt durch die schlagenden Schwänze von Pferden,
durch ihre steinigen Weiden.
Von der Landspitze behauenem Amboß
senkt sich die Gischt in Sternen.

Großzügiger Ozean, weise den Wanderer
von seinen salzigen Decken, den Verlorenen,
den die tiefen Tröge des schweinscharzen Tümmlers locken.

Herum das Herzenssteuer, hier die Stirn.

 

 

 

Kleine Geschichte der Zuerkennung des Nobelpreises

an Derek Walcott

Eigentlich sollte diese kleine Geschichte an einem Donnerstag im Oktober 1992 ihren Anfang nehmen. Denn an Donnerstagen versammeln sich die Mitglieder der Schwedischen Akademie der schönen Künste und die Regeln schreiben vor, daß der ständige Sekretär der Akademie an einem Donnerstag im Oktober den Namen dessen verkündet, dem am 10. Dezember des jeweiligen Jahres der Nobelpreis für Literatur übergeben werden soll.
Selbstverständlich spielt sich der wichtigste Teil dieser kleinen Geschichte zwischen dem 8. Oktober und dem 10. Dezember, zwei Donnerstagen, ab. Für ihren Chronisten aber begann sie ein paar Wochen früher. Der ungewöhnlich lange, warme Sommer in Skandinavien hörte im September abrupt auf. Die Tage waren schon kürzer geworden und die abendliche Kühle, die sich plötzlich eingestellt hatte, kündigte unbarmherzig den Wechsel der Jahreszeiten an. Die Ausgelassenheit des Sommers wurde von einer Schwermut abgelöst, die sich über das Leben in der schwedischen Hauptstadt zu lagern schien. Wohl um sich dem Griff dieser Schwermut zu entziehen, begibt man sich gerne in die Scheinwelt des Theaters, um dort eine andere Wirklichkeit zu erleben. So kam es zu einer ersten Begegnung mit Derek Walcott. Derek Walcott, der bisher für mich, und sicherlich für viele andere außerhalb des englischen Sprachraums, kaum mehr als nur ein Name war. Sein Schauspiel Der letzte Karneval, das am 5. September 1992 im Königlich Dramatischen Theater in Stockholm Premiere hatte, eröffnete eine neue Welt. Der Name Derek Walcott war plötzlich ein Verbindungsglied zu einem lyrischen Schaffen, das zu erforschen Spannung und Bereicherung verhieß. Trinidad und damit Westindien war plötzlich nicht nur ein Touristenparadies oder ein postkolonialer Schmelztiegel, sondern ein multikulturelles Phänomen, das mit seiner scheinbaren Geschichtslosigkeit die stagnierenden westlichen Kulturen durchaus bereichern könnte. Eine Bereicherung, die sich als beständiger erweisen könnte als diejenige, die durch Kolonisation und Ausbeutung vor genau 500 Jahren eingeleitet wurde.
Drei Stunden gefangen in der Scheinwelt des Theaters, drei kurze Stunden versetzt in eine exotisch anmutende Welt, hinterließen das Gefühl, an etwas teilgenommen zu haben, das sich später als ein Anfang für weitaus bedeutungsvollere Ereignisse erweisen sollte.
Am Donnerstag, dem 8. Oktober, war es dann soweit. Pünktlich um 13 Uhr verkündete Sture Allén, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie:

Der Nobelpreisträger für Literatur im Jahr 1992 ist Derek Walcott.

Das letzte Wort war kaum ausgesprochen, als die versammelten Journalisten Sture Allén förmlich mit ihren Fragen überstürzten, so daß er Schwierigkeiten hatte, in sein eigenes Manuskript mit der Motivierung für die Preiszuerkennung einzusehen. Nach etlichem Schieben und Drängen konnte er schließlich fortfahren: „für eine Dichtung von großer Leuchtkraft, getragen von einer historischen Vision, die aus einer multikulturellen Verpflichtung emporgewachsen ist“.
Unter den Pressestimmen war kaum ein negatives Wort zu hören. Die sonst gegenüber der Schwedischen Akademie oft kritisch eingestellte Frankfurter Allgemeine Zeitung hat dieses Mal nur Positives über die Wahl zu schreiben (wenn auch mit einem kritischen Ansatz):

Die Nobelpreisakademie in Stockholm tut alles, um ihren Ruf wieder in strahlendes Licht zu setzen. Die Entscheidung, den diesjährigen Nobelpreis für Literatur dem karibischen Dichter Derek Walcott zu verleihen, verdient nicht nur Sympathie, sondern außerordentlichen Respekt, weil die Akademie zwar einen Autor: aus der sogenannten ,dritten Welt‘ ausgezeichnet hat, aber diesmal auf den üblichen Bonus aus Nachsicht und Milde verzichtet.

Die österreichische Die Presse kommentierte:

Wieder einmal hat die Jury, die Schwedische Akademie, mit ihrer Entscheidung auch neugierig-weltoffene Literaturfreunde überrascht. Doch der schon vielfach in England und den USA mit Preisen ausgezeichneteVerdichter vielfältigster ethnischer und kultureller Milieus macht dem Stockholmer Weltanspruch alle Ehre. Ein Weltdichter!

Die Kritik an der Schwedischen Akademie, sie nehme politische Rücksichten bei der Wahl des Literaturpreisträgers, blieb dieses Mal überhaupt in den meisten Kommentaren aus. Es herrschte große Einigkeit darüber, daß es Walcotts Literatur und Sprache war und nichts anderes, was gepriesen wurde. So zitiert zum Beispiel die dänische Tageszeitung Information den Schriftsteller Robert Graves:

Walcott behandelt die englische Sprache mit größerem Verständnis für ihre ,innere Magie‘ als die meisten – wenn nicht sogar alle – englischsprachigen Schriftsteller.

Daß Walcott auch Maler ist, überrascht nicht, schreibt die schwedische Göteborgs-Posten, die Walcott als einen visuellen Dichter bezeichnet:

Aber zweifellos ist es die Sprache, die seine größere Palette ausmacht. Seine Behauptung, er kümmere sich nicht um technische Dinge wie Versmaß und andere metrische Subtilitäten, sollte man mit einem gewissen Vorbehalt nehmen; denn er meistert seinen Vers mit Geschick und Geschmeidigkeit und obendrein beherrscht er ein Englisch, dem keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen.

Die New York Times unterstreicht dieses auch mit einem Zitat des Dichters James Dickey, der Derek Walcott als einen Mann charakterisiert, „der in Worten aufgeht, sich nicht vor ihnen fürchtet, der aber dadurch, was er durch seine Worte bewirkt, angespornt und bestätigt wird“.
Der „karibische Homer“, „ein moderner Robinson“ oder wie es die Neue Zürcher Zeitung zusammenfaßt: „die Stimme der Inseln und des Meeres“. Diese Stimme mit dem Nobelpreis zu belohnen, beurteilt die NZZ weiter als „eine würdige Entscheidung des Nobelkomitees“:

gilt Walcott doch seit mehreren Jahren als das literarische Sprachrohr der Karibik, viel mehr noch als zum Beispiel V.S. Naipaul mit seinem großen Romanwerk, der schon früh England als Lebensmittelpunkt gewählt hat.

Da der Westinder V.S. Naipaul zu den oft genannten Kandidaten für den Nobelpreis zählt, ist der Vergleich zwischen ihm und Walcott unvermeidlich. Mehrere Kommentare greifen das Thema auf, so zum Beispiel die südschwedische Tageszeitung Sydsvenska Dagbladet:

Insofern man die Wahl des diesjährigen Literaturpreisträgers als eine Entscheidung zwischen den beiden Westindern Naipaul und Walcott betrachtet, kann man sagen, daß die Akademie von der zwar möglichen, aber doch eher fraglichen Alternative abgesehen hat. Naipaul hat mitunter in eigenartiger Weise, im besten Fall unergründlich ironisch, von seiner, wie er es ausdrückt, barbarischen Heimatinsel Abstand genommen. Walcott hingegen hat großzügig und äußerst phantasiebelebend sein doppeltes Erbe zusammengewebt, das lokale Erbe und das universelle Erbe, das nicht zuletzt von der Sprache getragen wird, die er mit einer sprudelnden Musikalität anwendet.

Die britische Tageszeitung The Times zitiert Walcott unter der Schlagzeile „Die Krone aus Dynamit“:

Die Hauptsache ist, daß die Literatur Westindiens international anerkannt worden ist, und das ist gut.

So ist es, pflichtet der Verfasser des Leitartikels bei und fährt weiter:

Wer immer auch die Ehrung erhält, wie absurd es auch immer erscheinen mag, Literatur wie ein Wettrennen zu behandeln, so muß es doch ganz einfach eine gute Sache sein, daß einmal jedes Jahr der Reichtum, den der Erfinder des Dynamits erworben hatte, denen zugute kommt, die im stillen aber gleichermaßen explosiv im Auftrag des geschriebenen Wortes stehen. Der Nobelpreis ist eine Auszeichnung der Literatur in einer Welt, die Literatur niedrig bewertet.

Die Reaktionen auf Walcotts Heimatinsel Saint Lucia bildeten einen vollständigen Kontrast zu den wohlabgewogenen Würdigungen, mit denen die literarisch-akademische Welt Walcott bedachte. Die Nachricht, daß einer der Ihren den Nobelpreis erhalten sollte, löste einen förmlichen Freudentaumel aus. Zwar lesen nur die wenigsten der rund 150.000 Inselbewohner Walcotts Werk, aber es gibt dort kaum jemanden, der nicht seine Person kennt und nicht stolz auf ihn ist. Der Bürgermeister erklärte gleich den folgenden Tag zu einem allgemeinen Feiertag… und es wurde enthusiastisch gefeiert. Auch wenn die Person, die der Anlaß zum Feiern war, nur im Geiste an den Festlichkeiten teilnehmen konnte – Verpflichtungen an der Bostoner Universität hielten ihn fern −, für die Insel Saint Lucia und ihre Bewohner brachte der Preis willkommene Anerkennung und Aufmerksamkeit. Es war obendrein das zweite Mal, daß einem ihrer Söhne der Nobelpreis verliehen wurde. 1979 erhielt Sir Arthur Lewis, gebürtig aus Saint Lucia, den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft. Sir Arthur Lewis und Derek Walcott vereint nicht nur die Auszeichnung, die ihnen zuteil wurde, oder die gemeinsame Herkunft aus Saint Lucia, sondern auch ihr gemeinsamer Geburtstag, der 23. Januar. Es wurde daher scherzhaft vorgeschlagen, man sollte im April, neun Monate vor dem 23. Januar, einen Fruchtbarkeitskult einführen, um den Nachwuchs zukünftiger Nobelpreisträger sicherzustellen.
Inmitten aller Freudesäußerungen und aller positiven Kommentare gab es jedoch einen, der sich ganz besonders und persönlich über die Ernennung von Walcott freute: einen, der selbst die Ehrung durch den Nobelpreis erfahren hatte und der nach eigener Aussage niemanden wußte, der diesen Preis besser verdient hätte als gerade Derek Walcott. Joseph Brodsky, der amerikanisch-russische oder russisch-amerikanische Lyriker, gehörte seit seiner eigenen Auszeichnung im Jahre 1987 zu den eifrigsten Befürwortern für die Nobelpreiskandidatur seines hoch geschätzten Dichterkollegen und persönlichen Freundes. „Für mich ist es so, als wäre ich so nahe wie es nur möglich ist, daran herangekommen, den Preis ein zweites Mal zu gewinnen“, erklärte er stolz, als er an Derek Walcotts Pressekonferenz teilnahm. Inwieweit Brodsky tatsächlich zu der Entscheidung der Schwedischen Akademie für Walcott beigetragen hat, kann nur der kleine Kreis der Akademiemitglieder wissen. Vor der Öffentlichkeit soll jede Information darüber, wie die jeweilige Erwählung des Nobelpreisträgers zustande gekommen ist, 50 Jahre geheimgehalten werden. So diktiert es Alfred Nobels Testament.
Derek Walcotts Bruder Roderick sagte später, er sei über die Auszeichnung seines Zwillingsbruders überhaupt nicht überrascht gewesen, nachdem dieser sein eigenes Schauspiel Der letzte Karneval in Stockholm am Königlich Dramatischen Theater inszeniert hatte. Da Derek Walcott schon seit einigen Jahren als möglicher Nobelpreiskandidat figurierte, war es nur natürlich, daß die Presse darüber spekulierte, ob er im Dezember erneut Stockholm besuchen würde, dann jedoch als Gast der Nobelstiftung. „Ach, dieses alljährlich wiederkehrende schwedische Roulette“, kommentierte er solche Spekulationen abweisend.
Derek Walcott erhielt die Nachricht, daß ihm der Preis zuerkannt werden sollte, am 8. Oktober in den frühen Morgenstunden, als er sich in Boston befand. „Er war sichtlich überrascht“, berichtete Sture Allén, der kurz vor der offiziellen Bekanntgabe die Entscheidung der Akademie Walcott persönlich übermittelte. – „Why me? Warum ich? Wenn doch so viele andere den Preis verdienen?“ war Walcotts spontane Reaktion. Als er später seine Fassung wiedererlangt hatte, konnte man einen gewissen Stolz nicht überhören, auch wenn er sich konsequent gegen jede Andeutung wehrte, er habe eine Art Weltmeisterschaft in Literatur gewonnen. „Es wäre sehr dumm und sehr gefährlich zu denken, man sei nun, als einer der Besten überhaupt, auserwählt worden. Man fühlt sich eher ein bißchen verlegen und beschämt, wenn man einsehen muß, daß weder James Joyce noch Graham Greene oder W.H. Auden den Nobelpreis erhalten haben“, so zitierte ihn die Nachrichtenagentur Reuter.
Es war ganz offensichtlich, daß Derek Walcott Schwierigkeiten hatte, die ihm zuerkannte Ehrung ohne Einschränkung als einen persönlichen Erfolg anzuerkennen. Er erklärte immer wieder, daß durch ihn die gesamte karibische Literatur und die Karibik überhaupt geehrt wurden. Er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, seine Heimat und deren Einwohner als die wirklichen Empfänger des Nobelpreises hervorzuheben:

Mein gesamtes Schaffen behandelt diese Insel (Saint Lucia) – meine Liebe zu ihr und zu ihrer Bevölkerung – und damit ist auch die Bedeutung des Preises in ihr rechtes Licht gestellt. Als ich begann, mir der Welt um mich herum bewußt zu werden – einer Welt völlig anders, als ich sie mir erlesen hatte −, so war das ein sehr spannendes und bewegendes Erlebnis. Ein physisches Erlebnis. Ungehemmte Lust, es zu Papier zu bringen.

So war es auch nicht überraschend, daß Walcott als Beweis für seine Liebe zu Saint Lucia die lange Reise nach Stockholm nicht antreten konnte, ohne vorher seine Insel besucht zu haben. Sein Empfang dort war von überwältigenden Feierlichkeiten geprägt, war er doch der verlorene Sohn, der endlich zurückgekehrt war. Zwar besucht Derek Walcott jährlich seine Heimat, aber dieses Mal war es ein besonderer Besuch, nicht zuletzt auch für ihn selbst. Er war überwältigt und oftmals sichtlich gerührt. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt die Nobelfeier noch nicht persönlich erlebt haben konnte, äußerte er sich dennoch ganz bestimmt:

Gar nichts in Stockholm oder in irgendeiner anderen Stadt der Welt wird sich hiermit vergleichen können.

Als Derek Walcott am 5. Dezember wieder nach Stockholm kam, fand er eine völlig veränderte Stadt vor. Vergleiche mit dem sommerlich warmen Stockholm, das er im September hinter sich gelassen hatte, mußten ihn unwirklich anmuten. Wo waren die Tische und Stühle, die den Bürgersteig vor seinem Lieblingscafé gegenüber dem Theater belebt hatten? Wo waren die Passanten, die er interessiert betrachtet hatte und die Stockholm mit sprühendem Leben erfüllt hatten? Wie lang lag die Zeit zurück, als er wohlverdiente Pausen von seiner Regiearbeit unter freiem, sommerlichem Himmel hatte erleben können? Jetzt, nur drei Monate später, war Stockholm grau und kalt geworden. Die Passanten, die er nun beobachten konnte, schienen sich nicht nur in ihre wärmenden Kleidungsstücke, sondern auch in sich selbst zurückgezogen zu haben. Doch Derek Walcott konnten anscheinend weder das kalte Wetter noch die Müdigkeit nach der langen Flugreise etwas anhaben. Schon kurz nachdem er sich in seinem Hotel eingerichtet hatte, machte er sich auf den gewohnten Weg zum Theater: er mußte seine „schwedischen Freunde“ wiedersehen. Diese waren völlig überrascht, als er plötzlich ohne Vorwarnung auftauchte. Es wurde ein freudiges Wiedersehen. Nicht nur sein eigenes Ensemble, sondern auch viele der übrigen Schauspieler und Theatermitarbeiter hatten Derek Walcott während seines Aufenthaltes, als Gastregisseur, schätzen und lieben gelernt. Wie es einige der Schauspieler, mit denen er gearbeitet hatte, formulierten: „Es ist unmöglich, ihn nicht zu lieben.“ Als Regisseur und Autor wurde er vor allem für sein unprätentiöses Verhältnis zum eigenen Text geschätzt. Er war stets empfänglich für die Gesichtspunkte, die seine Mitarbeiter anführten, und er war oft und gerne bereit, seinen Text zu verändern. Zeitweise wurde seine Bereitwilligkeit zu ändern sogar als ein bißchen zu großzügig empfunden, da es nicht selten passierte, daß ein Schauspieler, der am Abend vorher seinen Text einstudiert hatte, am nächsten Morgen mit einem völlig neuen Text konfrontiert wurde.
Freunde und Mitarbeiter wiedersehen zu dürfen und zu erleben, wie sein Schauspiel sich auch während seiner Abwesenheit weiterentwickelt hatte, wie es gereift war, war für Derek Walcott einer der wirklichen Höhepunkte seines Stockholmaufenthaltes. Jeden Abend, wenn er nicht gerade von anderen Verpflichtungen in Anspruch genommen wurde, wollte er unbedingt noch einmal Der letzte Karneval miterleben. Insgesamt wurden es drei Theaterbesuche. Der letzte dieser Besuche war auch die letzte Vorstellung von Walcotts Stück in dieser Saison, und es wurde berichtet, daß auf diese Vorstellung eine lange ausgiebige Feier in westindischem Stil folgte.
Derek Walcott wurde, wie es sooft gerade für die Literaturpreisträger der Fall ist, zum unausgesprochenen Publikumsfavoriten unter den Nobellaureaten. Jedermann wollte ihn sehen, mehr über seine Erfahrungen als karibischer Dichter wissen und – besonders in diesen Zeiten, wo Fremdenfeindlichkeit und Uneinigkeit zwischen Völkern Europa so stark zersplittern – an seinen Erlebnissen, geprägt von wahrlich multikulturellem Zusammenleben, teilhaben. In seinen eigenen Adern fließt afrikanisches und europäisches Blut zusammen und seine Dichtung spiegelt die fortdauernde Verschmelzung von Kulturen und Sprachen wider. Kulturen und Sprachen, die in ihm und um ihn herum pulsieren. Dieses kommt auch in Derek Walcotts Stimme zum Ausdruck, wenn diese scheinbar eintönig, aber doch wunderbar weich und in Wirklichkeit voller Rhythmus und Melodie, jedes sorgfältig ausgewählte Wort den Zuhörern vermittelt. Als Walcott seine obligatorische Nobelvorlesung halten sollte, waren über 500 erwartungsvolle Zuhörer im Goldenen Saal der Schwedischen Akademie versammelt. Die Vorlesung mit dem Titel „Die Antillen: Fragmente epischen Erinnerns“ hielt die Zuhörer während einer Stunde in ihrem Bann. Wohlausgewählte Worte, die meisterlich zusammengefügt Bilder formten, und eine Stimme, die Wellen gleich eine ewige Botschaft zu vermitteln suchte. Als die letzten Worte dieser Rede verklungen waren, blieb es eine Weile völlig still im Saal, bis sich das Publikum aus dem unmittelbaren Zauber gelöst hatte und dem Dichter und Nobellaureaten lange und enthusiastisch applaudierte.
Neben den offiziellen Verpflichtungen, die jedem Nobelpreisträger auferlegt werden, ermöglicht man auch ein persönliches Programm, das für Derek Walcott von Ulf Svenér, einem Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, vorbereitet wurde. Dieses Programm sollte mit seinen unprätentiösen Zusammenkünften und Begegnungen in kleinem Rahmen ein Gleichgewicht zu den großen offiziellen Zeremonien herstellen. Zu den Programmpunkten, die Walcott am meisten schätzte, gehörte der Besuch in einem Jugendfreizeitheim in der Stockholmer Altstadt. Dort hatten Kinder und Jugendliche aus aller Welt, die nach Schweden geflüchtet oder eingewandert sind und deren Muttersprache englisch ist, inspiriert von Walcotts Gedichten, eigene Bilder gemalt, eigene Geschichten oder Gedichte geschrieben. Für diese Kinder war Derek Walcott offenbar nicht der „schwierige“ Dichter, als der er mitunter charakterisiert wird. Seine kolonialen und postkolonialen Erfahrungen teilten auf verschiedene Weise auch die meisten der Kinder. Kinder, die unter anderem aus Ländern wie Pakistan, Indien, Neuseeland, Ghana und Nigeria stammten und nun gemeinsam Schweden als ihre neue Heimat akzeptieren mußten. Was Walcott schreibt und wie er schreibt, empfanden sie in keiner Weise als fremd oder exotisch, und damit unterscheiden sie sich mit größter Sicherheit von vielen Schweden. Die Kinder schenkten Derek Walcott ihre eindrucksvolle Sammlung von Zeichnungen und Texten, die sie in einem Buch zusammengestellt hatten. Er war von dieser Gabe offensichtlich überwältigt und er zeigte dieses auch deutlich, indem er diesen für ihn wichtigen Besuch in einer Weise ausdehnte, die der wohlabgesteckte Zeitplan überhaupt nicht zuließ. Die Kunstwissenschaftlerin Elly Berg, die hinter dieser Idee stand und die für deren Durchführung sorgte, wiederholte damit ein Experiment, das sie 1988 erstmals erprobt hatte, als arabische Kinder ein ähnliches Buch für den ägyptischen Literaturpreisträger Nagib Machfus zusammenstellten. Nach dem großen Erfolg bei Walcott und gleichermaßen bei den Kindern, hofft Elly Berg, das Projekt für kommende Literaturpreisträger wiederholen zu können.
Walcott ist ein Mann, der Überraschungen und Improvisationen liebt. Das zeigte sich auch in Stockholm, als er eines Abends, nachdem die formalen Verpflichtungen erfüllt waren, unangemeldet in einem Lokal auftauchte, in dem gerade eine Lyrikveranstaltung stattfand. Etablierte und weniger bekannte Dichter lasen eigene Gedichte. Als Walcott eintrat, wurde es zuerst still im Saal, man war ganz einfach überrascht darüber, daß ein so prominenter Dichter und obendrein Nobelpreisträger in eigener Person hier anwesend sein konnte. Das Publikum gab seinem Gast dann doch einen warmen Willkommensapplaus, und der große Dichter konnte nicht umhin, aktiv an der Lesung teilzunehmen. Auf dem Weg zum Podium lockerte er seine Krawatte und erklärte dabei entschuldigend, er sei normalerweise nicht so gekleidet, aber da er nun direkt von einem offiziellen Abendessen komme, müsse man schon Verständnis dafür haben.
Über Kleidung scheint sich Derek Walcott im übrigen nicht den Kopf zu zerbrechen. Am liebsten scheint er sich mit Jeans, Hemd oder Pullover und darüber einem Jackett auszustaffieren. So sah man ihn bei den meisten Gelegenheiten. Nur wenn es unvermeidlich war, sorgte sein Begleiter Svenér dafür, daß er dem formellen Anlaß entsprechend gekleidet war. Walcott folgte stets Svenérs Anweisungen, dieser mußte aber dafür versprechen, falls er eines Tages nach Saint Lucia zu Besuch kommen sollte, nur Shorts zu tragen!
Walcott war stets gut gelaunt, nicht einmal die heftige Erkältung, die sämtliche Nobellaureaten zu spüren bekamen, konnte dem Abbruch tun. Zusammen mit seiner Gesellschaft aus der Karibik sorgte er dafür, daß das ganze Hotel und seine Gäste karibische Rhythmen zu spüren bekamen. Bis spät in die Nacht hinein wurde gelacht, getanzt und Musik gemacht. Außer seiner Gefährtin Sigrid und seinem Zwillingsbruder Roderick hatte Derek Walcott auch einige besonders nahestehende Freunde aus Trinidad und Saint Lucia mit nach Stockholm eingeladen. Er wollte dieses großartige und einmalige Erlebnis mit ihnen teilen.
Derek Walcott war schon mehrmals ausgiebig gefeiert worden, unter anderem von der Schwedischen Akademie und seinem schwedischen Verleger, als am 10. Dezember der Höhepunkt aller Festlichkeiten eingeleitet wurde. Doch, damit nichts dem Zufall überlassen blieb, mußte zuerst geübt werden. Alle sechs Laureaten, die ihre Preise in Stockholm erhalten sollten, trafen am Vormittag gehorsam im Konzerthaus ein, um die Verleihungszeremonie einzustudieren. Der Zeremonienmeister erklärte den Laureaten im Detail, was sie tun sollten und was sie zu unterlassen hätten, wenn sie „ihr Diplom und ihre Medaille aus der Hand Seiner Majestät des schwedischen Königs“ erhalten würden. Auch wenn einige kleine Mißverständnisse unvermeidlich sind und der strikten Prozedur eher einen sympathischen Anstrich geben, so will doch die Nobelstiftung, daß die Regeln und Traditionen, die mit dem Nobelpreis seit 90 Jahren verbunden sind, möglichst genau befolgt werden.
Das große Jubiläumsfest 1992 sollte an die erste Nobelpreisverleihung im Jahre 1901 erinnern. Auch in diesem Jahr gab es natürlich Anlässe zum Jubilieren, wenn auch in kleinerem Umfang. Ein wiederkehrendes Motiv der diesjährigen Zeremonie war die Erinnerung an das Jahr 1926, in dem die Preisverleihung zum ersten Mal im Konzerthaus stattgefunden hatte. Genau wie damals war der Saal nun schlicht, aber elegant mit Girlanden aus Tannengrün geschmückt. Die Säulen waren mit gelbweißen Blumengirlanden behängt, die wie auch der übrige Blumenschmuck jedes Jahr von der Gemeinde San Remo in Italien gestiftet werden. Auf der Estrade standen sechs kugelförmige Lorbeerbäume, einer für jeden der sechs Preisträger. Pünktlich um 16:31 Uhr, im Takt zum „Rákóczymarsch“ von Hector Berlioz, begaben sich die Laureaten auf das Podium im großen Saal des Konzerthauses und nahmen ihre Plätze ein. Die Preisverleihungszeremonie lief wie am Schnürchen ab die Preisträger hatten also tüchtig geübt.
Ebenso pünktlich, also genau um 19:07 Uhr brachte der schwedische König einen Toast zum Andenken an Alfred Nobel aus, und damit konnte das Bankett beginnen. Jeder Gang des Festessens wurde in kunstvollen Prozessionen hereingetragen. Während die 210 Kellner und Kellnerinnen sich auf ihren Service konzentrieren mußten, waren sie von Ballettschülern der Stockholmer Tanzhochschule und singenden Chormitgliedern des Königlich Dramatischen Theaters umgeben, die ihr Können zum Ausdruck brachten. Mit jedem neuen Gang des Menüs wurde auch der Blaue Saal der Stadthalle weiter ausgeschmückt. Grüne Gewinde und Blumendekorationen wurden von den Tänzern verteilt und geschmackvoll plaziert. Ein überwältigender, prachtvoller Solotanz wurde dem traditionellen Nobeleis vorausgeschickt: In einem Meer aus weißem Chiffon, in einem Kleid mit drei Meter langen Ärmeln und noch längerer Schleppe, wirbelte die Tänzerin Anja Birnbaum abwechselnd wie ein temperamentvoller Wind oder strömte wie ein eifriger Fluß die lange, breite Treppe hinunter in den Saal hinein. Sie verzauberte mit ihrem Tanz sämtliche der 1268 Gäste. Das ganze Fest war überhaupt ein glanzvolles Schauspiel, das sich sehr wohl mit dem Prunk des vergangenen Jubiläumsjahres messen konnte.
Auf das traditionelle Nobeleis folgte der Kaffee und die dazugehörigen ebenso traditionellen Dankreden der Nobellaureaten. Jedem Preisträger stehen genau vier Minuten zur Verfügung. Der Meister des Wortes nahm nicht einmal die Hälfte davon in Anspruch. Seine Dankrede galt der Sprache und seiner Herkunft und lautete wie folgt:

Die Ehre, die Sie mir erweisen, wird in dem einen Namen entgegengenommen, der alle, vermeintlich gebrochenen, Sprachen der Karibik umfaßt. Sie strahlen in diesem Augenblick zusammen, einem Augenblick, der ihr Streben nach Vervollkommnung anerkennt, und einem, den ich mit Stolz und Demut erlebe. Stolz über den stetigen Kampf der Schriftsteller der Antillen, Demut, im Glanze diese durch meine eigene, vergängliche Erscheinung zu vertreten.

Derek Walcott blieb noch eine Woche nach dem Nobelfest in Stockholm. Am 13. Dezember, dem Tag der heiligen Lucia, wurde Derek Walcott die Ehre zuteil, der auserwählten Lucia die Lichterkrone auf das Haupt zu setzen. Wie durch seine Poesie trug er auch durch diese Symbolhandlung dazu bei, das Dunkel des nördlichen Winters zu erhellen.
Keiner könnte diese kleine Geschichte besser abrunden als Joseph Brodsky, der das Vorwort für eine Gedichtsammlung von Derek Walcott abgefaßt hat, die in Schweden unter dem Titel Winterleuchten veröffentlicht worden ist. In diesem Vorwort empfiehlt Brodsky dem Leser:

… mit Gedanken an den Breitengrad auf dem du dich befindest und eingedenk der buchstäblichen Wärme, die Derek Walcotts Gedichte ausstrahlen, ist es ratsam, dieses Buch für kalte Tage in Bereitschaft zu halten, und kalte Tage wird es in Fülle geben. Wenn die Heizung versagen sollte, wird dieser Dichter dich in Gang halten.

Daniela Marquardt

Verleihungsrede

Anläßlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur an Derek Walcott am 10.12.1992

Eure Majestäten, Königliche Hoheiten, meine Damen und Herren!

Jeder Versuch, Derek Walcotts ozeanisches Werk in eine Formel zu fassen, wäre ein absurdes Unterfangen – wenn nicht er selbst uns dabei Hilfe leistete, da er in seinen Texten auf geschickte Weise einige Schlüsselformulierungen versteckt hat. Eine davon greift sein Freund Joseph Brodsky in seiner Analyse des Werkes heraus:

Ein roter Nigger, der lieben das Meer,
Bin ich, mit echt kolonialem Diplom;
Hab Holländisch, Nigger und Englisch in mir,
Bin entweder niemand oder eine Nation.

Diese Zeilen aus Das Königreich des Sternapfels machen zunächst einmal deutlich, wie Walcott sowohl väterlicherseits als auch mütterlicherseits eine Verbindung schafft zwischen Weiß und Schwarz, aber sie erinnern uns zugleich daran, daß er in seiner Dichtung Stoffe aus verschiedenen Kulturen zusammenbringt – Westindisches, Afrikanisches und Europäisches.
Seine Lyrik beschränkt sich jedoch nicht auf die Stimmenvielfalt seines Erbes oder die Verschmelzung von Themen aus verschiedenen Teilen der Welt. In der Einleitung zu seinem ersten Band mit Theaterstücken findet sich eine weitere zutreffende Formulierung, wenn er nämlich von sich als dem „Stil-Mischling“ spricht. Walcotts Kunst entsteht aus der Kreuzung zweier höchst unterschiedlicher Traditionen: Die eine, von der er sich adoptieren ließ, ist die europäische Linie von Homer über Dante, die Elisabethaner und Milton hin zu Auden und Dylan Thomas, eine hochentwickelte Tradition, die in aufwendigen Metaphern sowie verschwenderischem Klang und Rhythmus zum Ausdruck kommt, während die andere eine zeitlose, einheimische Tradition ist, eine elementare Sprache, mit der der Dichter den Dingen wie ein neuer Adam Namen gibt und dabei zusieht, wie die Laute seiner Rede Form annehmen – so zum Beispiel in einer Passage in dem autobiographischen Another Life:

Ich sah, wie Vokale sich lockten von der Zunge des Zimmermannhobels,
harzig und duftend […].

Walcotts außergewöhnliches Idiom entsteht in der Begegnung der Virtuosität Europas und der Sensualität des karibischen Adams.
Doch diese sehr persönliche Kombination umfaßt nicht bloß Themen und Sprachen. Sie wirft zudem die Frage auf nach dem historischen Standpunkt, und hier kommt uns eine weitere Formel zu Hilfe – die „Neue Ägäis“. Die in den Blick genommene Inselkette ist eine Wiedergeburt der ägäischen: Griechisches Altertum findet in der karibischen Gegenwart eine natürliche Bleibe. Dies kommt freilich am deutlichsten in Walcotts letztem Werk zum Ausdruck, in Omeros, seinem mosaikartigen Epos über den Fischer Achilles und dessen ehemaligen Kollegen, den Taxifahrer Hektor – zwei Männer, die sich um die Gunst der schönen Hausangestellten Helena streiten. Doch ist das homerische Muster in diesem Gedicht keineswegs einzigartig: Im Grunde genommen ist Omeros im Zuge von Walcotts gesamter dichterischer Produktion nach und nach aufgetaucht, denn es erscheint immer wieder in den Namen und Themen und ist ständig präsent im odysseischen Branden der Wellen.
Es ist die See, die das entfernte Rauschen in die heutige Karibik trägt, sie ist es, die die Geschichte präsent werden läßt. „Die See ist Geschichte“: In einem großartigen Gedicht, das diesen Titel trägt, macht das Meer es möglich, daß „die klagenden Harfen der babylonischen Gefangenschaft“ auf den Westindischen Inseln erklingen, wo die Sklaverei in den Erinnerungen der Haut noch immer anzutreffen ist.
Walcotts letztes größeres Gedicht, das bereits erwähnte Omeros, bietet in reichem Maß Beispiele für die Verbindung eines ständig wechselnden Geschichtspanoramas mit dem frischen Morgen des karibischen Jetzt. Doch ich möchte seine Kunst, eine gewaltige Zeitperspektive in einem faßbaren Moment festzuhalten, mit Hilfe einiger Zeilen aus dem vorhergehenden Gedichtband veranschaulichen, der den Titel The Arkansas Testament trägt. In seinem schäbigen Motel eilen die Assoziationen des selbstverachtenden Ichs dieses Gedichts zu Saul auf seinem Weg nach Damaskus:

Auf der anderen Seite des Highways
blätterte eine Brise das Espenlaub um
zum ersten Brief des Paulus
an die Korinther.

Dieser Wind, der auf wundersame Weise die Blätter des Baumes zu den Briefseiten des heiligen Paulus mit dem Hohelied der Liebe umformt, ist mehr als eine geistreiche Anspielung auf einen Augenblick, in dem die Geschichte durch eine Offenbarung verändert wurde. Die Brise, mit der ein längstvergangenes Zeitalter in das Jetzt der Sinne zieht, berührt zugleich eine Thematik, die seit Jahrzehnten in Walcotts Werk anklingt ein paulinisches Einfühlungsvermögen, das stark genug ist, Jahrhunderte und Kontinente zu überschreiten.

Kjell Espmark
Aus dem Englischen von Christoph Wagner

Gegen den Phantomschmerz

– Heute hätte der Literaturnobelpreis verkündet werden sollen. Wir haben Autoren gefragt, wen sie ohne den Preis nie gelesen hätten. –

Im Jahr  1992  ging der Nobelpreis für Literatur an den Dichter Derek Walcott, der auf Santa Lucia, einer kleinen Antilleninsel zwischen karibischem Meer und Atlantik geboren wurde. In Italien kannte ihn so gut wie niemand, also machten sich die Zeitungen verzweifelt auf die Suche nach Informationen, und vor allem suchten sie irgendeinen Text von ihm, den sie rasch veröffentlichen könnten. So kam zum Vorschein, dass die erste (und wahrscheinlich bis dahin einzige) Übersetzung eines seiner Gedichte aus dem Englischen ins Italienische von mir stammte. Sie war einige Jahre zuvor in den Nuovi Argomenti erschienen, der ruhmreichen Zeitschrift, die von Alberto Moravia geleitet wurde. Es handelte sich um eine sehr schöne, träumerische Elegie, voller Wellen und Meeresvögel, von der ich in Erinnerung habe, dass der Dichter darin an einem gewissen Punkt seine rechte Hand, die sich beim Schreiben in der Sonne erwärmt, mit einem Krebs vergleicht, der aus seiner Höhle herauskriecht und träge seine langen Scheren ausfährt. Ich weiß nicht mehr, ob ich dieses Gedicht in irgendeiner Zeitschrift aufgespürt oder ob mich irgendjemand darauf hingewiesen hatte, ob diese Übersetzung für mich damals ein persönliches Vergnügen oder eine Auftragsarbeit war. Man lernt viel beim Übersetzen, man lernt, in anderen Sprachen zu lesen und in der eigenen zu  schreiben.
Wie dem auch sei, jedenfalls haben sich an jenem Tag mein Name und der des Nobelpreisträgers Derek Walcott unauflöslich verknüpft, weil sie auf derselben Seite einer Tageszeitung standen, und das ist wahrscheinlich der Höhepunkt meines Ruhms gewesen, zusammen mit zwei weiteren unvergesslichen Momenten.
Der erste Moment war der, als ich meine Übersetzung von Der Sturm abgab und sie aus irgendeinem bürokratischen Grund als Werk von „Albinati/Shakespeare“ (genau so, in alphabetischer Reihenfolge!) verzeichnet wurde. Der zweite, als auf der ersten Seite des Corriere della Sera ein Artikel unter dem Titel „Die großen Ausgeschlossenen der Enzyklopädie“ oder so ähnlich erschien, in dem die Namen einiger Schriftsteller genannt wurden, die in der neuesten Ausgabe des Treccani, des bedeutendsten und einflussreichsten italienischen Nachschlagewerks, keinen eigenen Eintrag erhalten hatten. Unter diesen Ausgeschlossenen befand sich auch mein Name, Seite an Seite mit dem von Stephen King. Zum Teufel, Stephen King! Dem Verfasser des Artikels erschien es als ein Skandal, dass die Enzyklopädie den vielleicht meistgelesenen Autor der Welt nicht ihrer Aufmerksamkeit für würdig gehalten hatte – und meine Wenigkeit. Oh, es war eine enorme Genugtuung, gemeinsam mit dem Autor von The Shining, Carrie, The Dead Zone und Misery ignoriert zu  werden.
Damals lernte ich, dass man vom Abglanz des Ruhmes lebt, oder besser gesagt, dass der wahre Ruhm der ist, der nicht nur den einen Autor umstrahlt, sondern vor allem seine Umgebung, so wie eine Fackel mit ihrem Licht ja nicht sich selbst erhellt, sondern die Welt, von der sie umgeben ist. Die Übersetzer, die Leser leben in diesem Licht und werden von ihm erwärmt. Und so bleibe ich dem großen Derek Walcott und seiner Hand, die einem Krebs gleicht, für immer etwas schuldig. Denn er hat sich, ohne es zu wissen, und nur dieses einzige Mal, von mir in meiner sanften, italienischen Sprache hin und herwiegen lassen.

Edoardo Albinati, Süddeutsche Zeitung, 3.10.2018

 

DIE STIMMEN VON ST. LUCIA
für Derek Walcott

Kurz sind die Tage im geplünderten Paradies
Wie eine Nacht am Strand oder ein Tauchgang am Riff
Unvergesslich bleiben die Stimmen
Der Choral der Märkte zwischen Castries und Fort Vieux
Der Regen auf dem Wellblechdach und der Gesang der Zikaden
Der Lärm der Baumfrösche und der Ruf des Oriols
Das Rascheln der Echsen unter den Pfählen der Hütte
Der Nebelhornton aus dem Muschelgehäuse der Conch
Die Brandung der Karibischen See an Klippen und Riffs
Die Trommeln am Abend und der Reggea aus scheppernden Radios
Die Kriegsgesänge der toten Arrawaks und das Klatschen der Peitschen
Das Geheul der Erschlagenen in den Zuckerrohrfeldern
Das Prasseln der Feuer Die Wälder und Dörfer verbrennen
Kurz sind die Nächte in der Hütte am Strand von Soufriere
Wie die Erinnerung an das geplünderte Paradies

Holger Teschke

 

 

Rudolf von Bitter: Interview mit Derek Walcott, 1987

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Derek Walcott – Lesung am 16.4.2007 im Mandell Weiss Theater der University of California, San Diego.

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