Salvatore Quasimodo: Das Leben ist kein Traum

Quasimodo-Das Leben ist kein Traum

UND GLEICH IST ES ABEND

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und gleich ist es Abend.

 

 

 

Nachwort

Als Salvatore Quasimodo 1930 die Bühne der italienischen Literatur betrat – in diesem Jahr waren nämlich seine erste Gedichtsammlung Acque e Terre (Wasser und Erde) in Florenz bei Solaria und der erste Artikel über ihn von Pugliatti erschienen −, stand die junge Generation Italiens unter dem künstlerischen Einfluß der „Ungarettianischen Labilität“ und der „Montalialischen Sprödigkeit“. Bald jedoch stand er selbst mit in der ersten Reihe, zusammen mit den älteren Ungaretti und Montale, den beiden Koryphäen des sogenannten Hermetismus. „Die Fabel ersteht wieder“, sagte einige Jahre später Solmi, der ausgezeichnete Herausgeber von Ed è subito sera, „in der zerstörten Welt, wie eine Fata Morgana in der Wüste“, und Quasimodo, nunmehr als Gleicher neben den beiden anderen, nimmt bewußt seinen eigenen schweren Weg auf sich. Welches aber war die dichterische Welt, die er vorgefunden hatte, welches waren die Dichtungsarten, die in den Jahren von Quasimodos Kindheit aufklangen? Nach dem großen Dreigestirn Carducci, Pascoli, d’Annunzio, vor allem nach der Blütezeit des d’Annunzianischen Werkes, lassen sich die Bedeutung und der Einfluß der Bewegung der sogenannten poeti puri und des Hermetismus in der italienischen Literatur nicht mehr verkennen.

Seit dem Vorabend des ersten Weltkrieges gärte es in der jungen literarischen Generation Italiens – und nicht nur Italiens −, und wenn auch nicht eigentlich Schulen entstanden waren, abgesehen vielleicht von der des Futurismus, so hatten sich doch verschiedene literarische Kreise gebildet, und neue Wege der Dichtung waren versucht worden. Das Wort in seinem tiefsten, metaphysischen Sinn war und blieb jedoch für Futuristen, Vocianer, Rondisten und für die von der Lacerba, bis hin zu den neosymbolistisch-hermetischen Dichtern, der Kern, um den sich alles immer enger konzentrierte, das lebendige Zentrum dieser Poetik, der Grund, auf dem sich alles aufbaute. D’Annunzio, von dem man sich jetzt lossagte, obwohl seine Ausstrahlung insgeheim weiterreichte, hatte dieses „mystische und tiefe Wort“, das er selbst geprägt hatte, besungen; die französischen Symbolisten – die Beziehungen zu diesen sind, wie wir sehen werden, wesentlich – hatten zur Genüge von der anregenden Kraft und der zauberischen Macht des Wortes gesprochen und theoretisiert. Der italienische Neosymbolismus, von dem Literarhistoriker Flora Hermetismus getauft, war die Bewegung, die mehr als andere auf unseren Dichter wirkte, er fühlte sich von ihr angezogen und wurde einer ihrer bedeutendsten Vertreter.
Die Worte dienen den Hermetikern nicht nur zur Bezeichnung, zur Schilderung, vielmehr sollen sie Ansporn, Anreiz, Anstoß sein – hatte nicht auch Novalis geschrieben, daß jedes Wort ein Wort der Beschwörung ist? −, aber das Typische dieser Poetik, das, was sie am besten charakterisiert, ist ihre analogische Sprache, die nicht unbedingt die Unklarheiten enthalten muß, die ihr von vielen zugeschrieben werden und deren gewisse Dichter sich rühmten und die manche Kritiker als Waffe benutzten.
Flora wollte mit seiner Benennung vor allem die charakteristischen Züge der scheinbaren Rauheit und Rätselhaftigkeit, denen sich der nichteingeweihte Leser durch die ungewöhnlichen Wortgeflechte, die ihn aber doch auch wieder bezauberten, gegenüber fand, bezeichnen. Analogie heißt bei diesen Dichtern Ausdehnung der Metapher auf die verschiedensten Empfindungsarten, abgekürzter Vergleich durch Weglassung des „wie“, außerdem Bild für ferne Dinge und Eindrücke; und wenn von diesen Formen so häufig Gebrauch gemacht wird, so darum, weil sich auf diese Weise die Möglichkeit bietet, in der Kürze und Wesentlichkeit des Verses und des Wortes einen weiteren Kreis von Eindrücken, von schildernden und musikalischen Äußerungen einzufangen, indem gleichzeitig die bloße prosaistische Indikation und die oratorische Umschreibung vermieden werden. Man sucht also nicht mehr direkte Verbindungen zwischen den einzelnen Bildern, obwohl extreme und unerwartete Vergleiche, hervorgebracht von raschen und starken Intuitionen, angestellt werden. Und Hilfe findet sich auf diesem Weg, außer in einer für schnelle Übergänge, für gekürzte Bindungen und gedrängte Analogien besonders sensiblen lyrischen Sprache, in einem dem oder jenem Dichter eigenen Wortschatz, die sich auf die poetische Kraft einiger Worte von ziemlich weiter und unbestimmter Bedeutung stützt – schon Leopardi schrieb sie sich auf −, so daß manche von diesen Worten – so wurde richtig gesagt – Schlüsselworte für die Kenntnis oder unmittelbare Definition des betreffenden Dichters genannt werden können. Und auch die Musikalität darf nicht ausgelassen werden; die in der Poesie dazu neigt, sich in einer höheren rhythmischen Einheit auszudrücken, der sich sowohl die wörtliche Aussage als auch der musikalische Rhythmus selbst anpassen, alles in dem einzelnen Wort oder der Summe der Komposition, im Zentrum der dichterischen Schöpfung.

Auch für Salvatore Quasimodo gilt, was wir bisher gesagt haben; nur daß er, dessen Frühzeit sich ganz und gar im Klima der hermetischen Bildungs- und Empfindungswelt abspielt, schon zu Anfang und nach und nach in den folgenden Gedichtsammlungen immer mehr – einen betont eigenen Charakter oder, wenn wir wollen, eigene Töne fand, soweit, daß er sich dann in seiner letzten Entwicklung endgültig von denen trennte, zu deren Kreis er gehört hatte. Technische und persönliche Eigenheiten, bezogen auf die Struktur seiner Verse und auf seine dichterische Welt: Sensibilität für Wort und Rhythmus, und eine ungewöhnliche Konzentration des Ausdrucks. Dazu die Musikalität, die Wiederkehr ausgewählter Worte und die Assonanz, die ihm eigentümlich ist und leicht gelingt. Die Sehnsucht nach seiner „fernen Heimat“, die der Kindheit, die für ihn im Augenblick der Erinnerung mythisch und mystisch wird. Quasimodo hat andere „naufragi“ (Schiffbrüche) als Ungaretti, und anders sind seine Evokationen; und auch seine Welt ist wieder eine Ruinenwelt, anders und lebendiger als die Ruinen und das „Steinige“ Montales. Bei ihm läßt sich beobachten, was bei der Charakterisierung des Hermetismus gesagt worden ist, so etwa die zweideutige Stellung eines Adjektivs, das sich eben auf zwei Worte beziehen kann und manchmal Unsicherheiten bei der Lektüre hervorbringt, ihr jedoch gleichzeitig größeren Reiz verleiht. Auch gewisse Wiederholungen und mehr oder weniger ausgeprägte Assonanzen entstehen in seinen Versen, aber sie ermüden nie, denn sie lösen sich auf im Ganzen des Gesanges, und gerade die Wiederholung bestimmter Konsonanten oder Vokale im Innern des Verses verleihen dieser Lyrik ihre musikalische Kadenz und sind charakteristisch für sie. Das Wort ist für ihn wirklich Kern, der aufbauende Organismus, die Urzelle, um die herum alles entsteht, die Strophe und der Gedanke.
In dem Gedicht „Parola“ (Wort) zum Beispiel, in der vorliegenden Sammlung noch nicht enthalten, offenbart sich vielleicht am ehesten seine Grundstimmung, die sich in intellektueller und poetischer Unruhe ausdrückt. In der Sammlung Acque e Terre (Wasser und Erde) bringt Quasimodo seine Liebe zu musikalischen Klängen und zu Assonanzen zum Ausdruck und läßt ihr freien Lauf wir brauchen nur an den Anfang von „Vento a Tindari“ zu denken und an andere oft wiederkehrende Beispiele. In seiner Sammlung Oboe sommerso (Versunkene Oboe) wechseln die elegische und die idyllische Note ab; den Gedichten merkt man an, daß sich etwas Neues anbahnt, „hier und da verdunkelt sie ein schmerzliches Gefühl der Existenz“, ein Vorausnehmen der Wendung, die sich später vollziehen wird. Als 1942 Ed è subito sera erschien, der Band, der alle vorhergehenden Sammlungen Quasimodos seit 1930 enthielt, hatte der Hermetismus, dessen schöpferische Zeit im zweiten Jahrzehnt zwischen den beiden Kriegen liegt, schon seine besten Früchte gebracht, ja, nach 1940 befand er sich sogar in einer Ruhepause, und die nachhermetische Generation begann sich ihrer selbst bewußt zu werden, während der Hermetismus den Nachahmern und der Mode verfiel. Die Dichtung will nicht mehr nur Ästhetik oder Perfektion der Analogie sein, sondern wieder eine höhere Offenbarung des Lebens der Gesellschaft im Augenblick der Bedrängnis und des wirklichen Zerfalls; so erhält sie, neben und über den ästhetischen Wert hinaus, ethische Bedeutung.
Quasimodos Präsenz als Dichter und als moralische Persönlichkeit wurde in den folgenden zwanzig Jahren, von 1942 (Ed è subito sera) bis zur Terra impareggiabile (1958) klar erkannt. Ein Erneuerungsprozeß, in dessen Verlauf der Bereich kollektiver Gefühle dem Gedicht geöffnet wird, deutete sich schon in den neuen Klängen der Oboe sommerso an und entwickelte sich dann weiter in Nuove Poesie – in der Sammlung Giorno dopo Giorno (1947); sie ist der Ausdruck seiner verwandelten geistigen Haltung (die Sammlung von zwanzig Gedichten war 1950 schon in Deutschland erschienen und wird in nächster Zeit neu herausgegeben werden) und bezeichnet den Übergang von einer abstrakten zu einer realen und tragischen Welt, die mit den Erschütterungen des Krieges vorgedrungen war.
In dieser neuen Bewältigung menschlicher Grundeinstellungen verliert sein Stil manchmal etwas von seinem harmonischen Reiz und seiner Klangfarbe, und weiter gespannte Formen lassen seine neue Redeweise, für die er seine früher erreichten Stellungen aufs Spiel setzt, sich anbahnen und offenbar werden, die Worte von einst braucht er jetzt nicht mehr. Der neue Quasimodo hat seine neue Position, die für ihn den notwendigen Zusammenhang und die Teilnahme am Leben bedeutet, richtig und langsam zur Reife kommen lassen. Und in der Tat besingt er nun dieses Leben in der Zeit – La vita non è sogno (1949) −, wie er es jetzt fühlt, in vollem, neuem Bewußtsein, nicht mehr also als Erinnerung, Sehnsucht und als Traum, sondern die Wirklichkeit des Lebens, das vorüberzieht. So in Il falso e vero verde (1956) und La Terra impareggiabile (1958), dem ein Dichterpreis des gleichen Jahres zuerkannt wurde. In seiner „Rede über die Dichtung“, die in dem Band Il falso e vero verde erschienen ist, unterstreicht Quasimodo den Beginn eines neuen Abschnitts seiner Dichtung und verficht sie, die „in weiten Rhythmen fließt, von der wirklichen Welt mit gewöhnlichen Worten spricht“, „für immer die harmonische Anlehnung an die Traditionalisten brechend“. Eigentlich eine Art Neorealismus, ein Bekenntnis zur engagierten Dichtung, die derjenigen der hermetischen Epigonen gerade entgegengesetzt ist. Er setzt sich ein für eine Blüte der sozialen Dichtung, die sich an alle Schichten unserer Gesellschaft wendet. „Der Dichter darf nicht passiv in der Gesellschaft bleiben“, betont er in dieser Rede und wiederholt es in jener anderen – „Der Dichter und der Politiker“ −, die er in Stockholm anläßlich der Verleihung des Nobelpreises gehalten hat. Erklärungen und Stellungnahmen, die endgültig den in manchen Kreisen umstrittenen – eine andere Reaktion war kaum zu erwarten – neuen Quasimodo der Nachkriegszeit umreißen.
Zu diesem Quasimodo der zwei dichterischen Epochen kommt schließlich noch der Übersetzer Quasimodo; wir wollen uns hier auf den Interpreten griechischer und lateinischer Lyrik beschränken; vor allem in seinen Übersetzungen der ersteren sind ihm – und das ist allgemein anerkannt – Übertragungen gelungen, die „durch die Frische, mit der die antiken Stimmen in eine vollkommene Zeitgemäßheit zurückgebracht wurden, Bewunderung erwecken“ (Solmi). Und besondere Prägungen seiner Sprache rührten eben von dieser Begegnung mit seinen Dichtern der Vergangenheit her, durch einen Prozeß geistiger Osmose. „Die Theorie der Beziehung zwischen der physischen und der geistigen Welt“, sagt 1955 Papini von ihm, „wie sie von Swedenborgs Genius bewiesen wurde, findet ihre unerwartete Bestätigung in der Dichtung Quasimodos. Der Dichter von Syrakus ist ein alter Grieche, der unter der modernen Kleidung mehr als nur ein Stück des mittelalterlichen Büßerhemdes trägt. Und vielleicht ist es gerade darum seinen filigranartigen Übertragungen der antiken Lyrik und Tragödie gelungen, den geheimen Akzent der griechischen Dichtung wieder zu entdecken.“
Salvatore Quasimodo kann also in drei Aspekten oder wesentlichen Zügen charakterisiert werden; der erste war der Hermetiker, und als solcher wurde er auch Dichter der Insel, der er in Sehnsucht verbunden blieb; der zweite, der Dichter unserer Zeit, in der Wendung, die sich vollzog, als er die Wahrheit in der „Farbe der Tage“ suchen wollte, und schließlich der dritte, als der er in unserer Zeit Interpret von Stimmen vergangener Zeiten war; gerade diese Funktion darf nicht übersehen werden. Im Urteil der Schwedischen Akademie wurde folgerichtig diese geistige Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit und Vergangenheit und Gegenwart hervorgehoben und ein Dichter geehrt, der vielleicht zu lange in seiner Einsamkeit gelassen wurde, aus der er, wie Papini sagte, „ein erträgliches Band zwischen den Hoffnungen des Quells und den Verzweiflungen der Mündung herzustellen sucht“.
Glückliche Definition eines Großen, der, über aller Polemik stehend, den Menschen und Dichter Quasimodo in seinem Wesen genau erkannt hat.
(…)

Gianni Selvani, Nachwort

 

Die großen Drei der modernen italienischen Lyrik,

Salvatore Quasimodo, Guiseppe Ungaretti und Eugenio Montale, waren in Deutschland bisher so gut wie unbekannt. Der Veröffentlichung einer ersten repräsentativen Auswahl aus dem dichterischen Werk von Quasimodo, der 1959 den Nobelpreis für Literatur erhielt, darf daher besonders die Bedeutung beigemessen werden, – sie kommt einer Erschließung von literarischem Neuland gleich. Unsere Ausgabe will dem deutschen Leser vor allem einen Eindruck vermitteln von der Spannweite der dichterischen Thematik und den Ausdrucksmöglichkeiten des Syrakusaners. Die komprimiert schmerzliche Sinnlichkeit seiner Anfänge, in denen leidenschaftlich Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden werden (und hierin liegt gerade die poetische Kraft Quasimodos), geht später in ein anderes Motiv über: in ein traumhaftes Suchen, in die Klage über die Lösung vom mythischen Boden seiner Mittelmeerinsel. Eine Stimme aus dem Exil erklingt, den Stimmungen der Nacht mehr zugewandt als der gnadenlosen Helle des Mittags. Die Schleier des Nordens, Regen und Wind, trüben oft den Horizont, die Fata Morgana des Südens versinken, doch „wahr ist der Mensch und sein Weinen, das Schweigen umfängt“. Zwiesprache mit Göttlichem, wie sie nur aus innerstem Begreifen von Antike und Christentum möglich wird, durchbricht immer wieder den ,profanen‘ Bereich dieser Lyrik.
Die große Wende in der dichterischen Entfaltung Quasimodos äußert sich in einer spontanen, oft sogar von den Ereignissen des Tages inspirierten Teilnahme an den Lebensproblemen der Gegenwart. In den Gedichten der letzten Jahre entwickelt sich aus der geistigen, ethisch verpflichteten Kommunikation mit dem Zeitgeschehen eine neue Poesie, es kommt dem Dichter auf die ,einfache Mitteilung‘ an. Das Wissen, in die Weltereignisse hineingebunden zu sein und die Begegnung mit der seelischen Ursubstanz einer Landschaft sind die beiden Pole, zwischen denen sich die dichterische Welt Quasimodos ausbreitet.
„Salvatore Quasimodo kann also in drei Aspekten oder wesentlichen Zügen charakterisiert werden; der erste war der Hermetiker, und als solcher wurde er auch Dichter der Insel seiner in dichterischer Form erlebten Sehnsucht; der zweite, der Dichter unserer Zeit, der die Wendung, die sich vollzog, also die Wahrheit in der ,Farbe der Tage‘ suchen wollte, und noch der dritte, als der er in unserer zeit Interpret von Stimmen vergangener Zeiten war, was sicherlich nicht von geringer Bedeutung ist. Im Urteil der Schwedischen Akademie wurde richtigerweise diese geistige Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit und Vergangenheit und Gegenwart hervorgehoben und ein Dichter geehrt, der vielleicht zu lange in seiner Einsamkeit gelassen wurde, aus der er, wie Papini sagte, ,erträgliches Band zwischen den Hoffnungen des Quells und den Verzweiflungen der Mündung herzustellen sucht‘.“

R. Piper & Co. Verlag, Klappentext, 1960

 

Quasimodo / Das Leben ist kein Traum / Ein offener Bogen

Italienische Avantgarde hat einen Hang zur Tradition; aber die Elemente, auf die sie sich beruft, wechseln von Generation zu Generation. Eben noch unbeleuchtete Zeiten werden ins Licht geholt, dann wieder die im Schatten liegenden Aspekte des Stils einer Epoche, des Werks eines einzelnen. Es kommt zu dialektischen Wahlverwandtschaften. Der Wechsel bewirkt Kontinuität.
In der Lyrik vollzog sich der für unsere Zeit wohl wichtigste und doch schon historische Klimaumschwung bei den tektonischen Veränderungen der Gesellschaft im zweiten und dritten Dezennium des Jahrhunderts, also parallel und in Querverbindung mit ähnlichen Vorgängen im übrigen Europa. Bis in diese Zeit reichte die Endmoräne der Romantik. Sie hinterließ mit dem Werk d’Annunzios einen irisierenden, in seinen verweslichen Teilen üppig duftenden Streifen in der Literatur.
Gegen d’Annunzios schwelgerisch preziösen Sensualismus, der schließlich zu heroischer Oratorik veroperte, setzten junge Stimmen ein neues, kühles Verhältnis zum Wort, zum Vers, zur geläufigen Metrik. Zwischen 1914 und 1919 entstanden die kühnen, kargen Kürzel Ungarettis, die unter dem Titel L’Allegria gesammelt wurden und zusammen mit den 1925 erschienenen spröden, lichtstarken Dichtungen Montales Ossi di seppia die trigonometrischen Punkte in der veränderten Landschaft der Lyrik bildeten. 1930 dann kam Acque e terre heraus, die erste größere Sammlung Salvatore Quasimodos, der sich an Ungaretti und Montale geschult hatte.
Diese drei sind längst die Klassiker der Moderne geworden. Die Kritik, die angesichts nach-d’Annunzianischer Dichtung um Kriterien verlegen war, half sich mit dem berühmt gewordenen Terminus „Poesia ermetica“ und wandte ihn in der Hitze der Polemik zunächst pauschal auf alle drei an. Vergleicht man ihre Arbeiten heute, so treten individuelle Unterschiede weit stärker in den Blick als Gemeinsamkeiten, die der Zeitgenossenschaft entspringen und ohnehin über Italien auf Symbolismus und Surrealismus hinausweisen. Einige speziell italienische Komponenten solcher Gemeinsamkeit: die bis auf Friedrich II. von Hohenstaufen zurückgehende lyrische Tradition, die ideologische Verunreinigung der Poesie von Carducci bis d’Annunzio im Zusammenhang mit dem Risorgimento und der Faschismus. Aus der Programm-Poesie und dem immer raffinierter instrumentierten Klangzauber wurde das Wort in eine poésie pure gerettet. Dante, Petrarca wurden neu gesehen und auch Leopardi. Vor dem Wortschwall der Mussolini-Ära aber zogen sich die besten Poeten in ihre hochgelegenen, schwer zugänglichen Versgebilde zurück. Die traditionellen metrischen Brücken, über die der Ungeist sie hätte erreichen können, hatte Ungaretti bereits im Ersten Weltkrieg abgebrochen.
Lag es an den engen politischen Beziehungen, daß die Hermetische Epoche italienischer Lyrik erst so spät nach Deutschland kam? Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Franzosen und Angelsachsen von Mallarmé bis Saint John Perse, von Pound bis Eliot eingebürgert, mindestens vorgestellt waren, als Lorca längst gepriesen wurde, da kannten von den Italienern auch Beflissene kaum mehr als Namen. Mit den Crepusculari, mit Marinettis Futurismus, dem Voce-Kreis und jenen Hermetikern beschäftigten sich allenfalls Romanisten. Erst die Verleihung des Nobelpreises 1959 an Quasimodo lenkte breitere Aufmerksamkeit nach Italien. Prompt kam bei Piper ein erster Band Quasimodo Das Leben ist kein Traum, und noch im selben Jahr, 1960, wurde eine repräsentative Sammlung Montales, Glorie des Mittags, ausgeliefert. 1961 brachte Suhrkamp Gedichte von Ungaretti. 1964 erschien bei Vandenhoeck eine kritische Einführung in die Moderne italienische Lyrik, und Piper entschloß sich zu einem neuen Querschnitt durch das Werk Quasimodos: Ein offener Bogen, zweisprachig wie der erste und wiederum übersetzt von Gianni Selvani, der auch jeweils ein Nachwort schrieb.
Quasimodo ist Sizilianer; doch hat er seit seiner Jugend nicht mehr auf der Insel gelebt. Bis in den vorigen Krieg hinein speist romantische Erinnerung ans verlorene Paradies seine Lyrik, und bis heute impft seine besten Gedichte der Schmerz, in einer längst als unaufhebbar erfahrenen Fremde zu leben. Sizilien, das ist nun allerdings keine geographische Provinz, es erstreckt sich in seiner kulturhistorischen Mächtigkeit bis in mythische Zeiten, in denen Gott und Geschöpf einander begegneten. Quasimodos Übersetzungen frühgriechischer Lyrik gelten als die besten, die es in Italien gibt, in seinen eigenen Gedielten finden sich mythologische und literarische Einsprengsel, etwa eine Evokation Jacopo da Lentinis, seines Landsmanns aus dem frühen dreizehnten Jahrhundert. Selvani zitiert aus einem Aufsatz Quasimodos von 1950:

… meine Hecke ist Sizilien, eine Hecke, die uralte Kulturen und Nekropole, Latomien, im Gras liegende geborstene Telamonen, Salz- und Schwefelgruben umschließt und Frauen, die seit Jahrhunderten ihre erschlagenen Söhne beweinen, und verhaltenen oder entfesselten Zorn…

Die in Rede stehende Hecke wächst in Leopardis Gedicht „Die Unendlichkeit“. Es beginnt: „Stets teuer war mir dieser karge Hügel / und diese Hecke, die fast allerwärts / den letzten Horizont dem Blick verwehrt.“ (Übersetzung Bruno Goetz.)

Für Leopardi ist es gerade diese die dingliche Welt eingrenzende Hürde, die den Geist reizt zum Sprung in fremde und unausgemessene Zeiten und Räume. Diese Dialektik von Nähe und Ferne erkennt Quasimodo als seine eigene, er griff das Bild noch in anderem Zusammenhang auf, in einem frühen, programmatischen Gedicht:

WORT

Du lachst, daß ich um Silben mich verzehre,
Himmel und Hügel beuge, blaue Hecke
rings um mich, und Ulmenrauschen
und bebende Wasserstimmen;
daß ich Jugend täusche
mit Wolken und Farben,
die das Licht vertieft.

Ich kenne dich. In dir ganz verloren,
hebt Schönheit die Brüste,
höhlt sich an den Lenden, und in sanftem Schwingen
öffnet sie sich in der furchtsamen Scham,
Harmonie dann, gleitet zu den schönen Füßen
mit zehn Muscheln herab.

Aber wenn ich dich nehme, dann:
Wort wirst auch du mir und Traurigkeit.

Mit fast georgescher Attitüde beruft Quasimodo Anspruch und Leistung des Poeten, der argloser Schönheit zwar das Lachen über seine Mühsal läßt, ihr aber die Souveränität nimmt, indem er sie seiner Kunst dienstbar macht. Leopardis Bild steht hier mit aktivem Vorzeichen, um das Handwerk des Dichtens zu bezeugen. Das lyrische Ich zeigt sich unangefochten wie auch der Glaube an seine orphischen Fähigkeiten. Trotz bewußter Abkehr vom Romantischen zieht sich durch Quasimodos Werk eine kräftige Strähne davon, und auch der verpönte d’Annunzio hat in ihm einen Erben.
Ein zum Theatralischen neigendes Pathos, vor dem in dieser Zeit die meisten italienischen Lyriker auf der Hut sind, durchtönt auch die Gedichte der hermetischen Epoche (wie im Beispiel oben), und so mag es folgerichtig sein, daß gerade Quasimodo in den letzten Kriegsjahren dazu kam, dem Gedicht wieder eine soziale Funktion zu geben: „Die Dichtung der neuen Generation drängt mehr zum Dialog als zum Monolog, und so ist sie schon eine Frage dramatischer Dichtung, eine elementare Form des Theaters.“ (1950) Dieser Satz besagt für seinen Autor dasselbe wie ein scheinbar ganz anderer: „Von meiner ersten Poesie bis zu der jüngsten gibt es nur eine Reifung zur Konkretisierung der Sprache hin.“
Die italienische Gesamtausgabe der Werke des Dichters beginnt mit einem schon berühmten Dreizeiler im Stile, keinesfalls in der Gefühlslage Ungarettischer Epigramme. Das Gedicht gab auch einem 1942 erschienenen Band den Titel:

Ed è subito sera

Ognuno sta solo sul cuor della terra
trafitto da un raggio di sole:
ed è subito sera.

Gewiß sollte damit des Menschen Befindlichkeit auf knappste Formel gebracht werden. Dennoch: dieses Alleinsein ist ins denkmalhaft Statuarische überführt, Reminiszenzen an den heiligen Sebastian bleiben kaum aus, und die letzte, schöne Zeile fällt wie ein Vorhang. Der Übersetzer scheint sich des leicht Prekären bewußt gewesen zu sein, er formuliert:

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und gleich ist es Abend.

„Getroffen“, verharmlost er, wo man um ein „durchbohrt“ kaum herumkommt. Selvani bemerkt in seinem Nachwort zu Das Leben ist kein Traum, schon Leopardi habe sich bestimmte charakteristische Wörter „von ziemlich weiter und unbestimmter Bedeutung“ notiert und so benutzten auch die heutigen Lyriker Schlüsselwörter. Nun, die obigen Verse enthalten gleich zwei der Lieblingsvokabeln Quasimodos: cuor beziehungsweise cuore, als Mitte und Wesen der Menschen und Dinge, und terra, Ort und Bühne menschlichen Treibens, Heimat im weitesten Sinn. Hierher, zu Erde, gehören andere elementarische Begriffe wie Himmel, Wasser, Meer, Licht, Schatten, Nacht, Sterne, Stille, die gern in polare Spannungen gesetzt werden. Und viele Dinge werden zu „Zeichen“.
Bevorzugte Wörter aus emotionalem Bereich: Schmerz, Schrei, Erbarmen, weinen und auch das fast unübersetzbare „dolce“ —Wörter, die leicht über ihren Gefäßrand quellen und ganze Verse, ja, Strophen durchtränken. — Quasimodos Verse sind reimlos und frei; doch gesellt sich oft im selben Gedicht zu cuore muore oder eine grammatische Form davon, auch morte, morti. In deutscher Lyrik entspricht dem das Wortpaar Herz-Schmerz. Mit dem ohnehin häufigen amore bilden sie ein heikles Terzett. Wörter von „ziemlich weiter und unbestimmter Bedeutung“ haben keine poetische Kraft mehr, auf die man sich „stützen“ könnte, wie Selvani meint. Nur wenn sie im Wortverband an bestimmter Stelle zu neuer Dichte und entschiedener Gestalt zusammengepreßt sind, werden sie tragfähig und sinnlich wahrnehmbar. Dichte und Durchmesser der Wörter aber ändern sich in der Zeit, und es ist für den Außenstehenden schwer, in fremder Sprache die jeweils hypertrophen zu erkennen und das Ausmaß der entfärbenden Expansion zu beurteilen.
Vergleicht man aber Ungaretti, Montale und Quasimodo, so wird deutlich, daß der Nobelpreisträger jedenfalls unbefangener mit entkonkretisierten Vokabeln umgeht. Daher läßt er sich am schwersten übersetzen; und es sind nicht die kalkulierten Unschärfen, die es schwierig machen. Bei Ungaretti und Montale, wie verschieden sie immer sind, treten auch in Partien hermetischer Verrätselung keine Trübungen durch ungewiß einander überlappende Wörter auf. Vielmehr schießen die Wörter mit blanken Flächen und in voller sinnlicher Anschaulichkeit zu den poetischen Gebilden zusammen, und bei Montale sieht man, daß gerade kontrollierte Mehrdeutigkeit nur durch strenge Präzision erzielt werden kann. Übersetzer fahren also gut, wenn sie sich strikt ans Wort halten. Ingeborg Bachmann tat das bei Ungaretti, Herbert Frenzel bei Montale hingegen allzu oft nicht. Er trug Interpretation auf den Text.
Selvani, im Fall Quasimodo, stand des öfteren vor der Frage: wie mache ich’s möglich auf deutsch?, er muß interpretieren, muß sich dabei unangemessen festlegen und kommt sogar bei Stellen schöner Genauigkeit zu bedenklichen Eigenmächtigkeiten. Hier der Anfang von „Uomo del mio tempo“ aus dem Band Giorno dopo giorno von 1947, in dem Quasimodo seine Eloquenz bereits auf den gesellschaftlich-moralischen Bereich anwendet: „Sei ancora quello della pietra e della fionda, uomo del mio tempo. Eri nella carlinga, / con le ali maligne, le meridiane di morte / …“ Und deutsch: „Mensch meiner Zeit, noch mit Stein / und der Schleuder. Du warst in der Gondel / mit den Flügeln, den Zeigern des Todes / …“ Sehen wir davon ab, daß Selvani die Anrede noch mehr ins Rhetorische spielt, indem er sie an den Anfang stellt. Er hat sich das „maligne“ geschenkt und sich bei den „meridiane“ mit „Zeigern“ beholfen. Das Bild bleibt konfus und stumm. „La meridiana“ ist der Zeiger der Sonnenuhr, und die Tragflächen des Bombers werden als zwei Zeiger einer Sonnenuhr gesehen, deren Schatten aber der Tod wirft. Wenn man das weiß, entsteht sofort ein Bild von großer Intensität und Triftigkeit.
Zu den kalkulierten Unbestimmtheiten, die Quasimodo liebt und die sich auf deutsch nicht leicht nachmachen lassen, gehört die mehrdeutige Plazierung etwa eines Adjektivs. So trägt ein frühes Gedicht — Quasimodo war seiner Mittel fast von Anfang an sicher — den stark an Ungaretti gemahnenden Titel: „Al tuo lume naufrago“ und seine erste Strophe heißt:

Nasco al tuo lume naufrago,
sera d’acque limpide.

Selvani schreibt als Titel vorsichtshalber „Schiffbrüchig“ und hat damit das Problem auf jene zwei Zeilen verschoben. Er übersetzt:

Schiffbrüchig werd’ ich geboren
bei deinem Licht,
Abend klarer Gewässer.

Aber man sollte doch wohl sagen:

Geboren werd’ ich bei deinem schiffbrüchigen Licht,
Abend klarer Gewässer.

Auch hier wird das Bild schärfer — die Assoziation Sonnen-Untergang im Meer stellt sich ein, wird als zu pompös wieder verworfen —, und Quasimodos Bestreben, in den Dingen Zeichen zu sehen, die Identifikation ermöglichen, kommt auch im Hinblick auf die weiteren Strophen besser heraus.
In der „Elegie für die Tänzerin Cumani“ heißt es: „In questo silenzio che ràpido consuma /…“ Bei Selvani: „In dieser Stille, die sich rasch verzehrt / …“ Dieses „sich“ ist nun allerdings falsch: die Stille verzehrt (wie es dem Gedicht auch entspricht); aber sie verzehrt nicht sich! Im selben Gedicht wird die Sequenz: „Si esauriva in me / il supplizio della sabbia, / a batticuore, spaziando la notte…“ mit: „In mir erschöpfte sich / die Qual des Sandes, / herzklopfend, während der Nacht…“ wiedergegeben. Das „spaziando“ (den Raum durchschweifend) hätte gewiß nicht abgetan werden dürfen; doch was man im übrigen auch übersetzend anstellen mag, die Stelle bleibt undurchlässig, und wenn man gerade bereit ist, das Gedicht als klangschönes Beispiel dunkel orphischen Hermetismus hinzunehmen, sieht man sich einer Strophe von doppelt dicker Deutlichkeit gegenüber, die hier nur in Selvanis getreulicher Übersetzung stehen mag:

Es schmerzt anhaltender uralter Schrei:
Erbarmen für das junge Tier,
zu Tode getroffen im Gras
des herben Morgens nach dem neuen Regen.

Die nächsten sechs Zeilen über windet sich der Übersetzer zwischen Dunkelheit und Deutlichkeit; und was soll er machen? Sie lauten:

La terra è in quel petto disperato,
e ivi ha misura la mia voce :

Tu danzi al suo numeero chiuso
e torna il tempo in fresche figure:
anche dolore, cosí a quiete
vólto che per dolcezza arde.

Er macht daraus:

Die Erde ist in jener Brust verzweifelt,
und hier hat ein Maß meine Stimme:

Du tanzt bei seinen geschlossenen Zeichen,
und die Zeit kehrt zurück in neuen Figuren:
auch der Schmerz, aber so in Ruhe
wende ich, daß er vor Süße glüht.

Gewöhnt an Quasimodos antithetische Engführungen, hat er die Erde verzweifeln lassen und ihr das hochgestochene „ivi“ mit „hier“ entgegengestellt. Dem Wortlaut entspräche vielmehr:

Die Erde ist in jener verzweifelten Brust,
und dort hat meine Stimme Maß:

was einen anderen, doch plausiblen und quasimodesten Sinn hergibt. Nichts weist im folgenden darauf hin, daß „numero“ mit „Zeichen“, einem von Quasimodo stets sehr bedacht gewählten Wort, und dann noch im Plural zu nehmen sei, wie sehr solcher Sinn auch verlocke.

„Du tanzt zu seiner geschlossenen Zahl“: Bezieht man das auf „Maß“, so mag eine pythagoreische Zahlenidee sich einstellen. Diese Deutung wird von einer anderen Stelle nahegelegt, dem schönen Schluß des späten „Notiz im Lokalteil“, wo „numero“ als Schlüsselzahl zum Geheimnis rechten Maßes, als „chiusura d’oro“ auftaucht. Auch die letzten beiden Zeilen wurden mißverstanden; doch meine Beispiele, pars pro toto, gehen ohnehin nur ins Grobe. Vor subtilere Schwierigkeiten stellt den Übersetzer die besondere klanglich-rhythmische Wohlbeschaffenheit der Gedichte Quasimodos. Er ist, wie oft bemerkt, ein Meister suggestiver Assonanz, und er macht sich auch die im Italienischen unübliche Alliteration zunutze.

Tu ridi che per sillabe mi scarno
e curvo cieli e colli, azzurra siepe
a me d’intorno, e stormir d’olmi
e voci d’acque trépide;

So beginnt das zu Anfang deutsch zitierte Gedicht „Parola“. Wie sehr sich seine Themen auch geändert haben, diesen Belcanto pflegt er bis heute, so in folgenden Versen eines dantesken Stadtbildes :

aaaaa:con un gettone
vivo, un piccolo disco di dolore
sei subito di là, su questa terra,

ignoto in mezzo ad ombre deliranti
su alghe di fosforo funghi di fumo:
una giostra di mostri
che gira su conchiglie…

(Selvani: „mit einer lebendigen / Münze, einer kleinen Scheibe Leid, / bist du gleich dort, auf dieser Erde, / unbekannt mitten unter Schatten im Delirium, / auf Phosphoralgen, Rauchpilzen: / ein Karussel von Ungeheuern, / das sich auf Muscheln dreht…“) Und vielleicht ist der Kontrast zwischen dem konsumtiven Wohllaut, der unerschütterlichen schönen Musik seiner Verse, und den im Gedicht exemplarisch werdenden Polaritäten der Hauptreiz Quasimodoscher Dichtung. Solche Polaritäten lassen sich mit einigen Begriffspaaren andeuten: Ich und Außer-Ich; Jugend und Tod; Dauer und Verlust; Heimat und Fremde; Süden und Norden; Kunst und Stoff; Sprechen und Schweigen; Liebe, Erbarmen — Zorn, Zerstörung; Absonderung und Teilhabe. Aus dem erotischen Ich-ich- oder Ich-du-Verhältnis, das bis in die Gedichte der Kriegszeit reicht, ist in den letzten Bänden mehr und mehr ein rhetorisches Ich-ihr-Verhältnis geworden. Das intime Dunkel wurde verlassen zugunsten einer manchmal allzu nahsichtigen Realistik oder einer allzu durchsichtigen Symbolik. Quasimodo, von der Freund-und-Helfer-Aufgabe des Poeten für die Zukunft der Menschen überzeugt, wollte ein Publikum erreichen, das es der Mühe nie für wert halten würde, am Feiertage den hermetischen Marmorberg zu erklimmen, um oben die schon historischen poetischen Bauten pietätvoll zu besichtigen.
In Fabeln, Gleichnissen, Episteln strebt er didaktische Wirkungen an; aber die Theatralik, die ihn verführte, etwa in dem Kriegsgedicht „Brief“ nach einer eindringlichen Beschwörung des besetzten Mailand fortzufahren: „O meine süße Gazelle, / denk an jene leuchtende Geranie / auf der vom Maschinengewehr durchlöcherten Mauer“ — diese Theatralik läßt eine Jugend ungerührt, die Pavese gelesen und seinen Wahrheitsstil angenommen hat.
Es finden sich aber auch in Quasimodos bisher letzten Gedichten immer wieder Verse, Sätze, Sequenzen, die die Zeit nicht anfechten wird. Auch auf sie stößt man in Pipers beiden Bänden, in deren jedem alle Phasen der Lyrik des Sizilianers in Mailand angemessen vertreten sind. Eine in allem angemessene Übersetzung indessen steht bis heute noch aus, wie auch bei Montale.

Rino Sanders, Neue Rundschau, Heft 1, 1965

Gedichte des Nobelpreisträgers

Wer bis zur überraschenden Verleihung des Nobelpreises vorher noch nichts von Salvatore Quasimodo gehört hat, braucht sich seiner Unwissenheit nicht zu schämen, denn das Werk des in Syrakus geborenen und heute in Mailand lebenden Lyrikers reifte ganz im Stillen und war auch dem deutschen Sprachraum erst vor kurzem zugänglich gemacht worden.
Der Piper-Verlag legt uns nun eine erste, repräsentative Auswahl seines Werkes vor, und zwar in italienischem Original mit der deutschen Uebersetzung von Gianni Selvani daneben. Wenn wir uns mit dem geistigen und kulturellen Klima beschäftigen, in dem das Werk Quasimodos aufbrach, müssen wir uns ins Jahr 1936 nach Italien versetzen, wo der Hermetismus, eine Bezeichnung für das damalige dunkle Dichten mit seinen Hauptvertretern Ungaretti und Montale eine Hauptströmung darstellte. Diese Stilrichtung wurde anfänglich in abschätzigem Sinne als Ausdruck von verworren Okkultem genannt, später aber in zustimmendem Sinne gebraucht. Zu den zwei erwähnten Dichtern stiess dann der junge Quasimodo hinzu, der in dieser Periode der grosse Sänger der Insel wurde. Den Werken und Dichtern dieser Zeit war gemeinsam, dass sie nicht nur schildern und bezeichnen wollten, sondern die Verse sollten Anreiz, Ansporn und Anstoss sein. Doch blieb Quasimodo in der Folge nicht einfach ein Sänger des Südens, der in virtuoser Manier den Hermetismus in ungesundem Perfektionismus erstarren liess, sondern seine Dichtung wurde kosmopolitisch. Er stellte sich mit seiner Sprache in der Zeit und an der Zeit der „Farbe des Tages“ und gelangte so beinahe unbemerkt in die vorderste Reihe jener Künstler, die den Dichter nicht passiv in der Gesellschaft der Menschen wissen wollen, sondern als soziales Wesen, ausersehen, die Welt zu wandeln, wenn auch nicht in politischem Sinne. Seine neueren Gedichte, von denen auch das vorliegende Bändchen einige enthält, sind erfüllt vom Pulsschlag unserer Tage, ohne dass sie in manirierte Plattheit absinken. Vielmehr erhellen sie oft leuchtspurartig eine Situation oder einen Zustand unserer Zeit, die in erstaunlichem Masse das innere Wesen einer Sache treffen und aufbrechen. Dabei werden immer wieder Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden, eine Beziehung, die auch von der schwedischen Akademie richtigerweise hervorgehoben wurde. Es ist ein harte Poesie, in der oft ein leiser Widerstand gegen das Heute, das Aufreissen einer geborgeneren Vergangenheit durchschimmert, ein Gefühl, das durch das Wissen, in die Weltereignisse gebunden zu sein, überwunden wird. Wenn seine heutige Form der Aussage nicht selten die Art der einfachen Aussage bevorzugt, so wird trotzdem, oder gerade dadurch, die grosse Sensibilität des Wortes und eine eigene, hohe Konzentration der Sprache fühlbar, die seinem Werk eine überzeitliche Gültigkeit verschaffen dürften. Ich finde es nicht unbedeutend, dass einem ausgesprochenen Lyriker der Nobelpreis zuerkannt wurde.
Ich meine, dass gewollt oder ungewollt eine Anerkennung des lyrischen Schaffens überhaupt damit ausgesprochen wurde, denn diese Literaturgattung ist heute mehr denn je dazu bestimmt und berechtigt, mit den Mitteln neuer lyrisch-sprachlicher Elemente unsere Zeit anzuleuchten und in kühnen Bildern zu umreissen,

P. Sch., Neue Zürcher Nachrichten, 9.4.1960

Gedichte

Eine sorgfältig abgewogene, von innerer Konsequenz getragene Auswahl von 21 Gedichten aus dem Werke (1930–1959) des italienischen Nobelpreisträgers Salvatore Quasimodo wird, von Gianni Selvani übertragen, in dieser doppelsprachigen Ausgabe erstmals deutsch herausgebracht. Im Nachwort umreißt der Uebersetzer in kurzen Zügen die Stellung des Dichters in der neueren italienischen Lyrik als die des jüngeren neben Ungaretti und Mentale und charakterisiert ihn in drei wesentlichen Aspekten: als hervorragenden Vertreter des Hermetismus, als poète engagé im weiteren Sinne nach 1942, da er sich der Wirklichkeit unserer Tage verpflichtet fühlte, und als Interpreten der Vergangenheit in seiner bewundernswürdigen Uebertragung griechischer und lateinischer Lyrik. Die Wiedergabe der Gedichte ist im Ganzen gesehen präzis und bemerkenswert treu, weitgehend wörtlich, selbst da, wo das Deutsche, zu präpositionalen Umschreibungen gezwungen, Gefahr laufen muß, schwächer zu sein als Quasimodos geballte Sprache. Vor allem das Schwebende ist vortrefflich getroffen. Allerdings scheint die Uebersetzung dann doch an einigen entscheidenden Stellen von der fordernden Glut des Sizilianers, seiner absoluten Bildhaftigkeit zurückzuschrecken, indem sie die gedrängte Analogie etwa durch Einschieben des vergleichenden wie auflöst, eine herausfordernde Ellipse meldet und zur weniger konkreten Interpretation greift.

L. Th., Die Tat, 26.11.1960

Leben und Werk von Salvatore Quasimodo

Ich bin geboren in Syrakus am 20. August 1901. Mein Vater war bei der Eisenbahn. In der Gluthitze der Schwefelebene klang immerzu das Glöckchen, das die sehr seltenen Züge ankündigte. Die Dörfer in der Umgebung heißen Megara Iblea und Sferro; sie erinnern an Griechenland und seine rauhen Landschaften. Ich wurde getauft in Roccalumera, ein paar Kilometer von Taormina entfernt. Meine Großmutter war eine echte Griechin aus Patras. Ich lernte schnell lesen und schreiben, und ich fand zu den Dichtern. Ich verstand sie damals noch nicht, aber sie haben mir ein unauslöschliches Bild hinterlassen.
Meinen ersten Unterricht erhielt ich in Gela, wo ich das Erdbeben von Messina spürte. Drei Tage später wurde mein Vater in die zerstörte Stadt geschickt. Dort hatte ich meine erste Begegnung mit dem Tod. Die Plünderer wurden erschossen. Wir waren in Eisenbahnwagen eingeschlossen, wenn uns neue Erdstöße von einem Unglück zum anderen trieben.
In Palermo besuchte ich die dortigen technischen Schulen; ich wollte Ingenieur werden. Zurück in Messina, begann ich Verse zu schreiben. Einer meiner Jugendgespielen hieß Giorgio La Pira.
Im Jahre 1919 verließ ich Sizilien und ging nach Rom. Während ich noch die Technische Hochschule besuchte, ging ich ständig auf Arbeitssuche, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. So wurde ich technischer Zeichner in einem großen Bauunternehmen, Angestellter eines Schrotthändlers und später eines Warenhauses an der Piazza Colonna. Meine Laufbahn fand ein Ende zwischen berittenen Carabinieri, weil ich einen Streik organisiert hatte kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes, das Streiks untersagte. Unterdessen hatte ich mein Studium abgeschlossen, und so tauchte erneut das Problem der Arbeit auf. Meine Freunde wollten, daß ich zur Presse ginge, aber ich wollte lieber im Bauwesen arbeiten. Ich wurde nach Reggio Calabria geschickt und kehrte in den Süden zurück.
Bereits im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren hatte ich Verse geschrieben, dann aber unbefriedigt wieder aufgehört. Mit siebenundzwanzig, in Reggio Calabria erfuhr ich erneut meine Berufung. Am Sonntag nahm ich die Fähre nach Messina und diskutierte mit meinen Freunden.

Begnügen wir uns hier mit dem von Quasimodo selbst gegebenen Lebensbericht. Von dem Augenblick an, da er sich von seiner „Berufung“ angesprochen fühlte, gehört sein Leben der Geschichte; es wird hauptsächlich von seinen Büchern bestimmt und gliedert sich nach den Daten ihrer Veröffentlichung. Aber in dem, was er da von sich selbst gesagt hat, ist bereits alles – oder fast alles – enthalten, was wesentlich ist für eine erste Bestimmung, eine erste Betrachtung des Dichters. Da ist – wichtiger als alles andere – der entscheidende Punkt des Inseldaseins, da ist ferner das Merkmal des Aufbruchs, ohne das wir Quasimodo nicht erklären können. Und gleich darauf wird man ein anderes Merkmal ins Auge zu fassen haben: das eines überaus schweren, harten Lebens, und noch genauer: die Begegnung mit dem Tode während des furchtbaren Erdbebens von Messina, als er sieben Jahre alt war. Zusammenfassend lassen sich folgende Charakteristika festhalten: das anfängliche Gefühl der Einsamkeit, auch wenn sie privilegiert ist und von dem Licht der Gnade und der Vollendung getroffen wird; dann das Gefühl eines Lebens, das als Anstrengung verstanden wird, als Eroberung oder, noch besser, als dauerndes und ewiges Schuldentilgen, und schließlich die transzendentale Schau des Todes, die schon der ersten Landschaft, die der Dichter zeichnet, ein unverkennbares Gepräge gibt. Diese Voraussetzung, die das ganze Leben des Dichters beherrscht, wird später überlagert von verschiedenen Phasen seines Werdegangs, aber im Augenblick soll nur Quasimodos zweite Berufung erwähnt werden, die man die „wissenschaftliche“ nennen kann und die ihn dazu trieb, sich an der Technischen Hochschule einzuschreiben. Diese Wahl war kein Zufall wie bei den Schülern, wenn sie die scuola media verlassen; es war viel mehr. Wir haben von Berufung gesprochen, und diese Bezeichnung, wenn man sie im einschränkenden Sinne versteht, fordert ein Vergleichselement; denn die Präzision seines Stils, die Durchsichtigkeit seiner Texte fänden keine Erklärung ohne diese Zeit der Zucht und inneren Bildung. Doch soll damit die Schlußfolgerung unserer Betrachtung nicht vorweggenommen werden.
Kehren wir also zur Insel zurück, nach Sizilien, wo Quasimodo herkommt und wo er heute noch wurzelt. In diesem Punkt hat sich der Dichter nie gewandelt. Im Gegenteil, er war immer bestrebt, sein Weltbild im wesentlichen mit der Welt seiner Kindheit in Einklang zu halten.
Als er im Jahre 1950, an der Schwelle seiner Reifezeit, seine „Poetik“ erläutern sollte, ging er ganz richtig von einem Vers eines „alten Dichters seiner Heimat“, Jacopo da Lentino, aus:

Wunderbar
hält eine Liebe mich zurück,

und er fährt folgendermaßen fort:

Das Wort Insel und Sizilien werden zuletzt ein und dasselbe, wenn ich versuche, die äußere Welt und die Gedankenwelt der lyrischen Syntax in Einklang zu bringen. Ich könnte sagen, meine Heimat sei ein ständig spürbarer Schmerz, auf den sich ein Teil meiner Erinnerung beruft, wenn ein innerer Dialog entsteht mit einem geliebten Wesen – sei es weit fort oder ans andere Ufer der Gefühle gerückt. Ich könnte weiterhin sagen: Das ist wohl der Grund dafür, daß die Bilder immer nur in meinem Dialekt entstehen und daß der imaginäre Gesprächspartner in den Tälern und an den Flüssen meiner Heimat zu Hause ist. Das wäre eine stets unbestimmte Angabe, der Wille, eine Mathematik da anzusiedeln, wo es nur das Murmeln der ersten Zahlen gibt. Aber wie denn? Welcher Dichter hätte nicht dem Umfang seiner Welt die Grenzen zugewiesen, die sein Blick am deutlichsten umfaßt? Meine Grenze ist Sizilien. Dort gibt es antike Kulturen, Nekropolen, Latomien, Telamone, die über das Gras herausragen, Salz- und Schwefelbrüche und Frauen, die seit Jahrhunderten ihre toten Kinder beweinen, beherrschte oder entfesselte Leidenschaften, Verbrecher aus Liebe oder überempfindlicher Ehre.
Auch ich habe mein Lied nicht in der Ferne gesucht. Meine Landschaft ist weder mythologisch noch parnassisch: es ist das Sizilien des Anapo, Imera und Platano, des Cyans mit seinen Papyrus- und Eukalyptushainen. Es ist Pantalica mit seinen Gräberhöhlen, die 45 Jahrhunderte vor Christus entstanden und die angeordnet sind wie die Waben eines Bienenkorbes; es ist Gela und Megara Iblea und Lentino: eine Liebe, die, wie gesagt, der Erinnerung nicht gestatten kann, sich von diesen Orten für immer zu trennen.
Im Jahre 1946, also gleich nach dem Krieg, hatte ich in einer Rede, die noch immer gültig ist, gesagt, das Ziel der Dichtung sei die Erneuerung des Menschen. Mit dieser Bemerkung hatte Ich in einem fortlaufenden deutlichen Zusammenhang auf einen Bruch in der Entwicklung der italienischen und europäischen Dichtung mit der vorangehenden Epoche hingewiesen. Dieser trifft für alle Werke von Dichtern zu, die auch heute noch dem Urteil der Zeit Widerstand entgegensetzen. Erneuerung des Menschen, das erhielt Bedeutung nicht nur im Sittlichen, sondern auch im Ästhetischen. Wir versuchen stets, jeder Poetik ihren Bereich zuzuweisen, aber diese ist lebendiger, als wir denken, und hat sich von den reinen Formwerten entfernt, um die Deutung der Welt im Menschen zu suchen. Die Gefühle des Menschen, sein Drang nach Freiheit und sein Wunsch, der Einsamkeit zu entkommen: das sind ihre neuen Inhalte.

Quasimodo hat schon in seiner Rede über die Poetik das Problem gelöst, um das es hier geht, wenn er das statische Moment seiner Berufung, die Inspiration durch die Insel, dem dynamischen gegenüberstellt, das die Insel als Land, als Forderung, als Interpretation bildet. Wenn er eine Verbindung oder auch nur eine Begegnung mit dem Parnaß von sich wies, legte er den Finger auf das, was ihn am meisten Mühe gekostet hat. Die Insel zu verlassen hätte – für einen Dichter, der sich nur mit dem reinen Gesang begnügte – eine negative Begrenzung bedeutet, eine Verlockung, allen Anstrengungen und allen psychologischen und geistigen Aufgaben aus dem Weg zu gehen. Ein solcher Dichter hätte nie die Grenzen einer regungs- und antwortlosen Schönheit überschritten. Von seinen ersten Versuchen an war Quasimodo bestrebt, Fragen zu stellen und die Schönheit menschlichen Fragens zu erfassen. Es gibt ja jenseits des Friedens seiner ersten Felder und seiner ersten Flüsse den Schmerz, die Verwüstung des Todes und vor allem immer wieder die Untat des Menschen gegen den Menschen, das Verbrechen Kains.
So wird verständlich, wie aus dem Quasimodo des Erato e Apollion und des Oboe Sommerso (Die versunkene Oboe) der Dichter des Giorno dopo giorno (Tag auf Tag) geworden ist, der Übersetzer griechischer Dichtung und Tragödie, den es schließlich drängte, Shakespeare ins Italienische zu übersetzen. So war seine Übersetzerarbeit nicht zufällig, nicht die Befriedigung einer „Laune“; vielmehr Ausdruck eines tiefen, für ihn wesentlichen Bedürfnisses, ja ich würde sagen, sie entsprach den Rechten, die der Dichter sich einräumte.
Von den ersteh poetischen Zeugnissen in Acque e terre (Meere und Länder) an kann man in den Anspielungen und noch mehr in den vom Dichter sicherlich gewollten Wortwiederholungen dieses besondere Leben sehen, das Quasimodo seinem Text einhaucht und das bei ihm niemals unbestimmt, fehl am Platz oder exklusiv ist. Wichtig ist auf alle Fälle, daß er diesen Dingen Beachtung schenkt, wie eines seiner weniger bekannten Gedichte beweist:

DIE TOTEN

Mir schien, daß sich öffneten Stimmen,
daß Lippen dürsten nach Wasser,
daß sich Hände erhoben zu Himmeln.

Welche Himmel! Bleicher als die Toten,
die immer leise mich wecken;
sie gehen barfuß, sie kommen nicht weit.

Gazellen tranken an den Quellen;
durchwühlte der Wind den Wacholder,
erhoben die Zweige die Sterne?

Der junge Quasimodo scheute sich nicht einmal vor Pathos, und das heißt, daß die italienische Dichtung nach der großen kritischen Ernüchterung der Ungaretti und Montale wieder auf die breiteren Spuren einer Selbstentäußerung zurückkehrte, die man nur in höchstem Grad menschlich nennen kann. Die offensichtliche Zügelung der Texte darf uns nicht täuschen. Diese Unerbittlichkeit kommt von einem anderen Vorsatz des Dichters: den Umfang seiner eigenen Stimme nämlich nicht zu verfälschen. In der Lyrik hat Quasimodo von Anfang an versucht, Hauptfragen anzugehen, ohne doch den geistigen Vorbehalt seiner Zeit und die Furcht vor der Täuschung aufzugeben. Und so hatte der Quasimodo von 1950 recht, für seine eigene Arbeit noch etwas anderes in Anspruch zu nehmen, nämlich die Transformation der Themen. Der aufmerksame Leser aber, der das Album der ersten Landschaften anschaut, erkennt unweigerlich eine Hintergründigkeit, die sich sehr von dem unterscheidet, was nach außen in Erscheinung tritt. Wer versucht, Anapo zu lesen, wird den Beweis finden für diese „Konstante“ im Hintergründigen, die in der Tat einem aus dem Innern kommenden Leben entspricht.

An den Ufern hör’ ich das Wasser gurren,
mein Anapo; in der Erinnerung stöhnt
zu seiner Trauer
ein dröhnendes Rauschen.

Sanft steigt ans Ufer,
nach dem Spiel mit den Göttern,
der Leib eines Jünglings:

Wandelbar ist sein Antlitz,
im Wechsel des Lichtes schwillt
auf einem Bein eine Pflanzenknospe.

Über tiefes Gären gebeugt,
erleidet er wieder jede Phase,
den Tod in sich in hochzeitlichem Keim.

− Was hast du gemacht mit den Strömen des Bluts,
Herr? – Ein vergeblicher Zyklus
auf seinem Fleisch,
die Nacht und das Fluten der Sterne.

Menschlich lacht er, steriles Wesen.

Herabgestiegen in kühle Vergessenheit,
liegt er im Pflanzendunkel:
die Geliebte ist ein Schatten und horcht
in seiner Rippe.

Sanfte Tiere,
Pupillen aus Luft
trinken im Traum.

Natürlich ließ sich im Werk Quasimodos die Verteilung der Gewichte nicht von Anfang an richtig erkennen. Die Leser selbst, die sich sicherer darin fühlen, und die berufenen Kritiker waren fasziniert von dieser ganz besonderen Ausgeglichenheit und von diesem vollendeten Spiel der Gleichungen auf dem knappen Raum eines Verses. Diese Seite Quasimodos besonders zu betonen, hätte bedeutet, sein Werk in Verbindung zu bringen mit dem, was schon vor ihm existiert hatte, und ihn einzureihen in die Anthologie einer berühmten Vergangenheit. So hat man von einem statischen Quasimodo sprechen können, von einem sich „klassisch“ gebenden, fest geprägten, anstatt – was gerechter gewesen wäre – zu sehen, wie sehr das überdeutliche Gleichgewicht darauf angelegt war, daß es die strenge Selbstkontrolle des Dichters bewies. Es handelte sich darum, hinter dem formalen Bild die Gründe dieses äußersten Schweigens aufzuspüren und herauszubringen, warum der Dichter lieber der Wahrheit aus dem Weg ging in dem Augenblick, wo er sich festlegte. Quasimodo gehorchte – ich weiß nicht, wie weit hier seine Überzeugung ging – einem höheren Gesetz, nach dem das Schicksal des Menschen von vornherein vor jedem Handeln festgelegt ist, und er ging den Weg scheinbarer Sicherheit in der immer mitschwingenden Erwartung von Schmerz oder Tod. In dem Gedicht „Insel des Odysseus wird das ganz deutlich.

Still ist die alte Stimme.
Ich höre flüchtigen Widerhall,
Vergessenheit der tiefen Nacht
im gestirnten Wasser.

Aus dem himmlischen Feuer
entsteht die Insel des Odysseus.
Träge Ströme tragen Bäume und Himmel
in das Brausen von Mondgestaden.

Die Bienen, Geliebte, bringen uns das Gold:
geheime Zeit der Wandlungen.

Vor allem wird klar, daß für den Dichter die Partie der Existenz verloren, daß es müßig ist, gegen die ewigen Gesetze zu kämpfen. Alles, was den Menschen ausmachen, alles, was er zusammentragen kann gegen die Bilder der Wahrheit, die sich dann mit denen des Schmerzes und Todes vermischen, führt zu nichts und hat nur den „Wert eines flüchtigen Widerhalls“. So ist es auch mit der Zeit, die niemand von ihrem „geheimen“ Gesetz abbringen kann. Zwischen diesen beiden unüberwindlichen Hindernissen – auf der einen Seite der Wahrheit, die wie ein gespenstisches Bild selbst im Gewand höchster Schönheit in Erscheinung tritt, und auf der anderen unserem Eifer und dem vergeblichen Überschwang in Geste und Wort – gibt es nur den Unterschied, wie er bestehen kann zwischen zwei verschiedenen Arten von Schweigen. Das erste berührt uns nicht, es kann uns allenfalls bisweilen faszinieren; das zweite ist das Geschäft unserer Tage. Und aus der Begegnung dieser beiden Bilder entstehen Quasimodos berühmte Anrufungen; eben weil er in einer offenbar abstrakten und festen Welt hat leben können, gewinnt er die Kraft, zu reden, das Recht, einzugreifen. Beim ersten Lesen von Quasimodos Gedichten ist man betroffen von dieser Empfindung des Gebets, diesem Umstürzen aller Standpunkte, das der Vorstellung des Akademischen im Bild des Dichters völlig widerspricht. Das sind wichtige Fragen, nicht nur, was den Inhalt, sondern auch die formalen Lösungen betrifft; denn sie haben, zeitlich gesehen, mit dem Krieg von 1940 bis 1945 die Poetik der hermetischen Reife zum Zerbrechen und Zerbröckeln geführt und einzigartig persönliche Töne hervorgebracht.
Lange hatte sich die Tätigkeit des Dichters darauf beschränkt, den Mechanismus des Daseins, das Erfahrene nur kalt und nüchtern aufzuzeigen. Nicht daß dies etwa unnötig gewesen wäre – ich möchte sogar meinen, daß es unerläßlich war zur Entdramatisierung einer Poetik, die im Begriff war, kraft- und sinnlos zu werden und sich in eitlen Gebärden zu erschöpfen. Die italienische Dichtung hatte sich nur schwer lossagen können von der langen „D’Annunzio-Krankheit“; und da man wieder mit dem Wort beginnen mußte, war es wichtig, möglichst sparsam mit den Kräften zu sein im Bemühen, ihr wieder auf die Beine zu helfen und ihr einen Körper zu schaffen. Was die großen Dichter des 19. Jahrhunderts taten wird gerade von daher verstanden als Versuch nicht nur der Reinigung, sondern der Fleischwerdung. Quasimodo blieb es vorbehalten, die ersten Schritte zu tun in eine freiere, nicht länger verdächtige und vergiftete Atmosphäre, ihm, der nach Ungaretti, Campana, Montale und anderen kam. Aber es bleibt noch darzustellen, auf welche Weise Quasimodo Sinn und Wert des Wortes entdeckt hat:

Du lachst, daß ich um Silben mich verzehre,
Himmel und Hügel beuge, blaue Hecke
rings um mich, und Ulmenrauschen
und bebende Wasserstimmen;
daß ich Jugend täusche
mit Wolken und Farben,
die das Licht vertieft.

Ich kenne dich. In dir ganz verloren,
hebt Schönheit die Brüste,
höhlt sich an den Lenden, und in sanftem Schwingen
öffnet sie sich in der furchtsamen Scham,
Harmonie dann, gleitet zu den schönen Füßen
mit zehn Muscheln herab.

Aber wenn ich dich nehme, dann:
Wort wirst auch du mir und Traurigkeit.

Das Wort wird also in seiner Vollendung eine Todesbeschwörung, eine Anspielung auf die Nichtigkeit alles Seienden; daher die Traurigkeit, die in der Welt Quasimodos so besonders ausgeprägt ist. Und gerade in diesem Augenblick, in der Zeit zwischen den beiden Kriegen, kommt für Quasimodo die Rückkehr auf die Insel, die er als Grenze, als abgeschlossenen Bezirk auffaßt. Im Zusammenprall von Schmerz, Tod und völligem Schiffbruch unserer Existenz erhält die Geographie wieder Form, anstatt sie zu verlieren. Und wenn manche sich beeindrucken ließen, daß er in der düstersten Zeit unserer Geschichte noch ganz ruhig das Wort „Gesang“ und das Verbum „singen“ aussprechen konnte, so hatten sie zweifellos diese äußerste Verwandlung vergessen, die ihm die Rückkehr auf die Insel erlaubte. Das Singen bleibt also der zweite Schlüssel seiner Poesie und ist übrigens ständig verbunden mit dem ersten, der „Berufung“; beide Begriffe sind in besonderem Maß veraltet und verachtet von den Poetiken unserer Zeit. Auch wenn man dies zugibt, muß noch untersucht werden, inwieweit Quasimodos Poetik der strengen Regel einer Kontrolle gehorcht und Ausdruck ist für Zwang und Beschränkung. Die Trockenheit seines Registers stammt zum Teil von seiner Erziehung und seinen ersten naturwissenschaftlichen Ambitionen. Von allen Richtungen, in die sein Ehrgeiz im Lauf seines Lebens zielte – Ingenieur- und Politikerkarriere etwa −, hat irgendwie immer die Berufung zum Sängerpoeten den Vorrang gehabt. Was immer auch der Dichter sprechen mochte – selbst wenn es sich darum handelte, Zeugnis abzulegen −, seine Stimme verwandelte sich in Gesang, in schweres, verhaltenes Singen: Quasimodo hat weder durch allzu starke, noch allzu viele Töne gesündigt. Ganz im Gegenteil, manchmal hat er sich durch das Bestreben, bestimmt und knapp zu bleiben, dazu verleiten lassen, den Schluß auszusparen, und so hören viele seiner Gedichte auf mit Symbolen, die kaum recht ausgesprochen sind, mit bloßen Dingen der Wirklichkeit.
Im Zusammenhang mit seiner Rede über die Poetik erklärt der Dichter:

Die Dichtung verändert sich periodisch, wie wir wissen, sie hat auch nicht unbedingt die gleichen Phasen: so kann Epik an die Stelle der Lyrik treten oder umgekehrt.

Außerdem müssen wir auch mit dem Ringen um poetische Reflexion rechnen, die sich in den Pausen der Stille dem Schaffen aufzwingt – ich meine die Übersetzung antiker und moderner Dichter. Die griechischen Lyriker, Vergil, Homer, Catull, Aischylos, Ovid, das Johannesevangelium, Shakespeare, – sie alle sind in mehreren Jahren der Arbeit seine Gefährten gewesen. Es waren Jahre langsamen Lesens, in denen es ihm schließlich gelang, jenseits aller Philologie den Nebel zu durchstoßen, von einer ersten wörtlichen Annäherung zum vollendeten dichterischen Ausdruckswert zu kommen, nicht im Rahmen einer „Poetik des Wortes“, sondern durch die volle Entfaltung der Bedeutung, durch die Sichtbarmachung der Sache, um die es geht. Denn ich habe die Reinheit der Dichtung, von der man in all diesen Jahren so viel gesprochen hat, nicht als Erbschaft der Dekadenz betrachtet, sondern als Ergebnis seiner direkten und konkreten Sprache. Und da liegt in der Tat das Geheimnis der Klassiker, der Epiker wie Lyriker, von den Griechen bis zu den heutigen Größen, bis hin zu Leopardi.
Der Gesang, so wie Quasimodo ihn versteht, lebt von einem doppelten Atem: zunächst ist er Berufung, dann wird er Forschung, Drang zur Annäherung bis zur äußersten Grenze des Konkreten. Von daher nur können wir uns den zutage tretenden paradoxen Gegensatz vorstellen zwischen Hingabe und Zwang, zwischen Entfaltung und abstraktem Register. Im Grunde besteht nach Quasimodo die Rolle der Dichtung nicht darin, für die Dinge neue Namen zu finden, sondern darin, Wörter zu finden, die Gewicht und Dichte der Dinge besitzen. So hat der Dichter recht, wenn er uns warnt vor den Fallstricken der Dekadenz und behauptet, das Dekadente sei Geist, der sich in einem bestimmten Auflösungspunkt befinde, sich ergebe und in eine ebenso gefährliche wie schwächende Überschwenglichkeit flüchte.
Von hier aus gesehen, erschien der Schritt von der sogenannten hermetischen Periode zu der des Krieges und der engagierten Dichtung für einen Dichter wie Quasimodo voll gerechtfertigt und hat weder Diskussion noch Verdacht ausgelöst wie die Dichtung gewisser Surrealisten, die während der deutschen Besetzung zur konkreten Poesie und zur politischen Passioniertheit überwechselten. Dieser Übergang erschien Quasimodo selbst als folgerichtige Lösung. In der Tat hat der Dichter zehn oder fünfzehn Jahre lang immer Wert auf die Unterscheidung zwischen der Dauerhaftigkeit des Gesangs und der in unaufhörlicher Wandlung der Dinge begriffenen Welt gelegt. Lesen wir ein „neues“ Gedicht, so entdecken wir in ihm unschwer die definitive und feste Grenze Quasimodos und verstehen so seine besonders feste, doch nicht marmorne Haltung, die bei ihm nicht aus der Laune des Augenblicks kommt, sondern echte Frucht eines Gleichgewichts ist, das er Schmerz und Verzweiflung gegenüber gewonnen hat. Das Gedicht trägt den Titel „19. Januar 1944“. Das Datum könnte an eine Tagebuchseite denken lassen. Gerade diese Datierung versetzt uns in eine ganz bestimmte Welt, und der Leser sieht sich veranlaßt, in erster Linie die tragische Lage, die Hoffnungslosigkeit des Landes zu sehen.

Ich lese dir holde Verse aus der Antike,
und die Worte, die zwischen den Weinbergen,
den Zelten, an den Ufern der Flüsse des Landes
im Osten entstanden, wie fallen sie düster
und trostlos jetzt in diese endlos tiefe
Kriegsnacht, in der keiner
der Todesengel den Himmel durchfliegt.
Man hört das dröhnende Schlagen des Windes,
wenn er das Blech rüttelt, das hier oben
einen Balkon vom anderen trennt;
Melancholie von Hunden, die aus den Gärten heulen
zu den Gewehrschüssen der Patrouille
in den leeren Straßen. Irgend jemand lebt.
Vielleicht lebt jemand. Aber wir, hier,
geschlossen im Lauschen der antiken Stimme,
suchen ein Zeichen, das das Leben überwindet,
die dunkle Zauberkraft der Erde,
wo auch zwischen den Trümmergräbern
das Unkraut seine Blüte erhebt.

In diesen Versen, die zu den schönsten des Dichters gehören, findet sich die Definition dessen, was die entscheidenden Punkte seines geistigen Lebens und die äußere Anlage seiner Rede ausmacht. Die Rechte der Dichtung sind stets höchste Forderung für einen Schriftsteller, und so erhebt sich, als Gegensatz zum Bild der hochgerühmten und von der Zeit abgeklärten Schönheit die Idee des Krieges – die tiefe Nacht gegenüber dem Licht, das aus den Seiten der ewigen Dichtung hervorleuchtet. Aber die einschneidende Wirklichkeit ist so stark, daß die Natur selbst wie durch Zauberei in einem Spektrum die Idee des Todes findet. „Das wie Lärm des Zusammenbruchs klingende Brausen des Windes“, das ist ein Element der Natur, die die Maske der Zerstörung, des Bösen, der menschlichen Untat annimmt. Gleich darauf aber findet die Natur ein Mittel, um solchen Eindruck des Vergehens und der Zerstörung wieder auszugleichen, und so erkennt der Dichter im Geheul der Hunde den Unterton der Melancholie. In diesem Augenblick fragt er sich, ob man zwischen Tod, Vernichtung und Melancholie noch leben könne. Von der Bejahung muß er zur Ungewißheit übergehen. Andererseits bleibt, wenn ein normales Leben unmöglich oder sehr schwer ist, immer noch das Leben der Dichtung: „ein Zeichen, das über das Leben hinausreicht“. Und das Gedicht endet mit der widersprüchlichen Gleichung, daß „das Unkraut seine Blüte erhebt“.
Immer ist die Blume Ausdruck von Quasimodos fundamentalem Optimismus, Ausdruck, um genauer zu sein, für das, was seinen Glauben ausmacht im Gleichgewicht zwischen künstlerischer Erfindung und dem Leben. Wie laut auch die Schmerzensschreie und die Klagen des Leids aus der Geschichte der Menschheit an unser Ohr dringen mögen, Quasimodo ist überzeugt, das Symbol der Blume sei das höchste Symbol, das die Kunst in unserem Schicksal zu bieten habe. Selbst nach den vierziger Jahren, in einer Welt voller Blut und Schande, kann Quasimodo nicht anders, als Beziehungen herzustellen zwischen den verdorbenen und entstellten Dingen dieser Welt und gewissen ewigen Symbolen, gewissen menschlichen Werten, die den Ausgleich zu bringen haben. Die Religion Quasimodos beruht eben auf diesem außerordentlichen Vermögen, die Dinge, die Gegenstände, die eigentlichen Symbole der Erde zu beseelen und alles auszuschalten, was nur negativen Gefühlswert haben, was nur Spaltung und Haß in die Menschheit tragen kann. Am Ende seines Weges könnte das kapitale Bild des Vaters stehen:

Wo über violetten Wassern
Messina lag, zwischen zerrissenen Drähten
und Trümmern gehst du den Gleisen entlang
und den Weichen, mit deiner Mütze wie ein Hahn
der Insel. Das Erdbeben tobt
seit drei Tagen, es ist Dezember mit seinen Stürmen,
und das Meer ist vergiftet. Unsere Nächte fallen
in die Güterwagen und wir kindliches Vieh
erzählen staubige Träume bei den von Eisen
zerschmetterten Toten, Mandeln kauend
und in Girlanden getrocknete Äpfel. Die Wissenschaft
des Leidens brachte in die Spiele der Ebene
Wahrheit und Klingen, wo weit gilbt die Malaria
und Wechselfieber schlammig schwillt.

Deine traurige, zarte
Geduld nahm uns die Angst,
war Lehre von Tagen, zu denen gehörte
der betrogene Tod, die Verhöhnung der Diebe,
gefangen in den Trümmern und im Dunkel gerichtet
vom Gewehrfeuer der Gelandeten, eine Rechnung
niedriger Zahlen, die genau konzentrisch
aufging, eine Bilanz zukünftigen Lebens.

Deine Sonnenmütze ging auf und ab
in dem geringen Raum, den sie dir immer gaben.
Auch mir maßen sie alles zu,
und ich habe deinen Namen ein wenig weiter
getragen, über Haß und Neid hinaus.
Das Rote auf deinem Haupt war eine Mitra,
eine Krone mit den Adlerflügeln.
Und jetzt im Adler deiner neunzig Jahre
wollte ich sprechen mit dir, mit deinen bunten
Abfahrtssignalen aus der Nachtlaterne,
und hier, aus einem mangelhaften
Rad der Welt, auf einer Menge dicht gedrängter Mauern,
weit fort vom arabischen Jasmin,
bei dem du noch bist, um dir zu sagen,
was ich früher nicht sagen konnte
− schwierige Gedankenverwandtschaft −
um dir zu sagen, und es hören uns nicht nur
die Zikaden am Scheideweg, die Mastixagaven,
wie der Feldhüter sagt zu seinem Herrn:
„Wir küssen die Hände.“ Dies, nichts anderes.
Geheimnisvoll stark ist das Leben.

Daher der Schluß, man brauche zum Leben jene „traurige, zarte Geduld“, von der im Gedicht die Rede ist: am Anfang der Abtrennung von der Erde. Nur die Geduld hätte den negativen Begriff des Todes und Leides besiegen und umstoßen können, auch wenn sich aus diesem ersten Bild eine „Bilanz künftigen Lebens“ lösen könnte. Wenn weitschweifige Rede keine Bedeutung hat für Quasimodo, wenn die Tragödie zurückhaltend bleiben, niemals ausdrucksvoll und leidenschaftlich, und ihren Glanz aus dem Gesang beziehen muß, so deswegen, weil die Dinge am Anfang schon ihre Antwort gegeben haben. Und dies ist die Antwort: Dem Menschenleben ist Niederlage bestimmt, zuerst im Schmerz und dann im Tod, aber es gibt ein Mittel, ein einziges nur, es zu ertragen und weiterzuleben, nämlich die Geduld, das tägliche Maß an Niederlagen und Mühen. Nur so entsteht im Lichte des Gewissens von der Geduld beflügelter Mut, dunkle Kraft des Lebens, für die nur das Heil zählt, das einfachste, traditionellste Heil, ein religiöser Aufruf, in dichterische Form gebracht, in Baciamu li mani (Wir küssen die Hände).
Schicksal, menschliche Lebensform scheinen demnach für Quasimodo stärker zu wiegen als die Idee. Der Dichter sagt ja auch: da der Kampfplatz nun einmal existiert und wir die Unzulänglichkeit unserer Waffen eingesehen haben, müssen wir irgendwie auch den Wert der Existenz ertragen und anerkennen. Und hier erwächst von neuem der Zwang des Gesangs, für Quasimodo niemals Illusion, sondern im Gegenteil ewige Verarbeitung des Themas Schmerz und Niederlage. Wenn „Gesang“ Befreiung und schließlich Untreue, Verzicht bedeutet hätte, wären seine Gedichte zahlreicher und mehr anerkannt, und Quasimodo wäre berühmt geworden. Meist ist „Gesang“ gleichbedeutend mit Flucht; für Quasimodo aber ist er Gegenwart – und, wohlgemerkt, religiöse Gegenwart. Natürlich ist seine Religion eine datenlose Religion ohne scharf umrissene heilige Texte; aber wenn wir sie eine Naturreligion nennen, so wollen wir damit nicht sagen, die Rolle des Dichters beschränke sich auf Zuschauen und panegyrische Hymnik. Singen ist für Quasimodo ein Lebensbedürfnis, eine als solche erkannte und angenommene Aufgabe. Wenn er sich während der deutschen Besatzungszeit fragt, wie er noch singen könne, wenn der fremde Fuß schon auf sein Herz tritt, so wollte er damit gewiß nicht seine Privilegiertheit hervorheben; er fühlte sich einfach als ein in seiner Religion verletzter Mensch, erniedrigt und besiegt.
Quasimodo zieht es also vor, nur die Ergebnisse des Dramas zu liefern, den Stoff, den das erlebte Leben hergibt. So ist seine Wahl sehr klar, und seine Hinneigung zur Vernunft, zum klassischen Maß zeigt einen natürlichen Horror vor der Unordnung und dem romantischen Sichgehenlassen. Quasimodo weiß, daß seine Aussage auf die Dinge beschränkt ist, was eine ständige Beziehung schafft zwischen lebloser und belebter Natur, zwischen einem Symbol wie etwa dem des Herzens auf der einen und dem des Steins auf der anderen Seite. Aus diesem Grunde läuft sein Duktus immer schnell ab, er strebt pfeilgerade auf seine Schlüsse zu, und der Anflug von Zartheit und innerer Bewegung, den es doch auch in seinen Versen gibt, ist die einzige Konzession an unsere conditio humana. Gleich darauf fügt sich die Welt wieder zusammen, unablässig, sehr schnell, fast mit Strenge, trotz diesem leichten Hauch, der aus seinem Abgewendetsein uns anweht, trotz all dem Drang, mit dem er durch sein Wort sich Platz unter uns schafft.
Doch hat Quasimodo im Laufe der Jahre gelernt, dem Menschen mehr Raum zu geben: früher brach sich seine bündige Diktion an Bildern, an einer kaum recht skizzierten Einzelheit des Wirklichen. Heute scheint er seine Einmischung eher in eine größere Gedankeneinheit bringen zu wollen, in eine Summe von Gefühlen. Deshalb aber darf man noch lange nicht auf eine Wandlung bei ihm schließen. Es ist als Ausdruck seiner natürlichen Güte und seines natürlichen Denkens zu werten, wenn sich die Skala seines menschlichen Verständnisses bereichert hat. Quasimodo steckte zuvörderst den Rahmen ab, den nur die Zeit hätte füllen können. Obwohl dieses Unternehmen sehr beschränkt geblieben ist – die Gründe dafür sind klar −, scheint sich der Dichter so nach und nach ins Schweigen zurückgezogen zu haben. So begnügt sich die „Berufung“ mit der „Klausur“ auf der Insel, und Quasimodo kehrt in seine Heimat zurück.
Die letzten dreißig Jahre haben uns manche Rückkehr dieser Art beschert, aber gewöhnlich wurde das Steuer von intellektueller Hand gehalten, wenn diese Aktion die Frucht einer reinen Spekulation war, einer ideologischen oder gemüthaft bedingten. Im Falle Quasimodos wäre es vielleicht zutreffender, an eine Art Rückkehr in seine ursprüngliche Landschaft zu denken. Es genügt, paesaggio zu sagen, was ja etwas mehr ist als paese, etwas mehr als „Familie“: genau dieses „etwas“ ist es, was der Auseinandersetzung und dem Kontrast zwischen den Menschen und den Dingen entspricht. Andererseits ließ ihn die Entmaterialisierung des Sprechens, die Befreiung von allen Schlacken, die das Zeitgeschehen bietet oder aufdrängt, nicht nur zum Kern der Dinge vorstoßen, sondern auch jene religiöse Dimension erreichen, auf die wir immer wieder zurückkommen. In offensichtlichem Widerspruch dazu spricht der ältere Quasimodo dem Dichter die Aufgabe der Intervention zu, die Funktion, die Dinge zu verändern. „Der Dichter sagt nicht, er nimmt seine eigene Seele und sein Wissen in die Hand, haucht seinen Geheimnissen Leben ein, indem er sie zwingt, aus der Anonymität in persönliche Verkörperung überzugehen.“ Das sind Quasimodos eigene Worte, und wer weiß, ob sie nicht letzte Erklärung sind für seine lange Auseinandersetzung in unserer Mitte. Seine eigene Seele in die Hand nehmen!… Wenn wir auf die gleiche Weise ins Seelische eindrängen, hätten wir auch einen besseren Blick für das spröde Gewebe seines Sprechens und die Kraft seiner Eingebungen. Nach dem, was über seine Rückkehr bereits gesagt wurde, bedeutet für Quasimodo das Sich-wieder-Einfügen in seine ursprüngliche Landschaft keineswegs Verzicht und Flucht, sondern ganz im Gegenteil stolze Selbstbehauptung: Er verwandelt die Welt, die Dichtung setzt sich in Ethik um, und dies gerade durch seine wunderbare Heimkehr. Quasimodo hat sich also zweimal wiedergefunden: ein erstes Mal bis zur Zeit von Ed è subito sera in seiner Suche nach der Schönheit, und dann in den letzten zwanzig Jahren in seiner klaren Entscheidung, ganz zum Menschen zurückzukehren. Alte oder neue Stoffe und Themen genügten ihm nicht mehr als solche, sondern mußten erst einen Prozeß der Prüfung durchmachen im Herzen des Menschen, was hier heißt aller Menschen. Am Ende dieser Rundfahrt konnte er an den Küsten jenes besonderen Eden anlegen, des Sizilien seiner Kindheit, in einer literarischen Welt, die wir der Einfachheit halber „theokritisch“ nennen wollen. Stellt man jedoch die beiden Bilder, die beiden Landschaften einander gegenüber, so sieht man, daß da schließlich und endlich ein ganzer Mensch ist, ein Mensch, der ganz hoch in die Sterne greift. Wer könnte heute ohne Ärgernis noch immer behaupten, der „Dichter verändert die Welt“? Nun, Quasimodo sagt es, und er läßt keinen Zweifel daran, daß dieses stärkende Wort am Platz ist, das er ohne jeden Vorbehalt aus dem Glauben an seine Arbeit ableitet und aus seiner Gewohnheit, mit hohem und schnellem Einsatz zu spielen.
„Der Dichter will, daß der Mensch mutig lebe.“ Wenn wir uns nun von diesem Dichter verabschieden, der einen großen Teil unserer Jugend begleitet und erleuchtet hat, so können wir keinen anderen Satz als eben diesen vor Augen haben. Er umfaßt die Geschichte eines Menschen, der gesiegt und gelebt hat, um zu siegen, die Geschichte des Dichters, der nach seiner Rückkehr auf die Insel des Friedens und des Todes, des ewigen Lebens und der Zerstörung allen Menschen seiner Zeit eine Botschaft zu bringen hat: die Idee des Mutes.
Man wird, wie sehr man auch sucht, keinen Dichter finden, der etwas so Einfaches und Starkes vermittelt und der über alle Rücksichten und über alle Verlockungen hinaus das Zeichen der Pflicht aufstellt.

Carlo Bo, aus: Salvatore Quasimodo: Gesammelte Gedichte, Coron-Verlag

 

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Cornelia Jentzsch: Still ist die alte Stimme
Deutschlandfunk, 20.8.2001

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Salvatore Quasimodo: Tat

 

Salvatore Quasimodo – Interview.

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