Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Prekäres Vorbild (Teil 2)

Prekäres Vorbild

Teil 1 siehe hier

Dass Stefan George auch höchste öffentliche Ehrungen ablehnte und zu Preisverleihungen gar nicht erst erschien, bezeugt seine persönliche Souveränität. Auch wenn mich das in frühen Jahren beeindruckt haben sollte, bleibt doch die weit triftigere Frage, wie denn George mit seinem «Kreis» eine eigene exklusive Domäne innerhalb der deutschen literarischen Kultur und dazu seine Position als epochale Führungs- und Symbolgestalt hat behaupten können und diese Position auch nach wie vor behauptet: Die Literaturgeschichte hat ihn längst kanonisiert und damit zum «Klassiker» befördert; in Lyrikanthologien behält er mit ein paar sogenannten «Jahrhundertgedichten» einen festen Platz; sein Werk ist in einer neu aufgearbeiteten 18-bändigen Edition im Buchhandel greifbar; sein Leben und seine Wirkung sind in jüngerer Zeit mehrfach monographisch abgehandelt worden, ohne dass seine Reputation deshalb gewachsen oder gar bei zeitgenössischen Autoren ein neues Interesse an seiner Dichtung entstanden wäre.
Faszinosum eines unantastbaren überlebensgrossen Momuments?
Doch Monumente sind heute nicht mehr gefragt, es sei denn als Objekte der Hinterfragung, nicht selten des Abrisses sogar. Allerdings war George schon zu Lebzeiten ein Momument, von ihm selbst in Szene gesetzt und hundertfach beglaubigt in Form von eigens hergestellten Photos, Gemälden, Skulpturen, die sein priesterliches Konterfei zur Ikone werden liessen, bestätigt aber auch durch viele seiner Eingeweihten, die entsprechend – schriftlich, exklusiv – über ihn berichteten. Ein Gleiches tat er auch selbst (in Der Stern des Bundes, 1914):

Hier dient euch mein vermächtnis: denn ich gab
Euch für das hirn das trügt das wahre auge!
Antlitz und wuchs weist euch den Echten aus.
Er prägt bereits im ersten siebenjahr
Wann innen licht uns wird der herrschaft abbild
Und trägt der kürung merkmal aufgeküsst.

Kein anderer Autor in Deutschland hat sich damals und danach so viel Autorität verschafft wie George mit seiner Poetik exklusiver Künstlichkeit. Dichtung sollte praktiziert werden in konsequentem Gegenzug zur Gebrauchssprache, sollte sich von ihr abheben ins «Reich» höchster Geistigkeit, um «neuen Adel» zu gewinnen. Dies meinte er durch die forcierte Künstlichkeit des Stils, der Syntax und Metaphorik erreichen zu können, aber auch durch eine eigene Rechtschreibung und Typographie, die das übliche Schriftbild dekorativ verfremdete. Georgianische Texte gaben sich solcherart – über Jahrzehnte hin – schon äusserlich in ihrer angestrengten Exklusivität zu erkennen.

… Fortsetzung hier

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00